Soziale Marktwirtschaft

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1. Definition und Grundgedanken

Die Wirtschafts- und Sozialordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland etabliert wurde, wird üblicherweise als S. M. bezeichnet. Als ihre „Geburtsstunde“ kann der 20.6.1948 gelten, der Tag der Währungsreform in den drei westlichen Besatzungszonen. Wenige Tage später wurden mit dem „Gesetz über Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform“ („Leitsätzegesetz“) in der Trizone zudem viele Preise freigeben. Die effektive Verringerung der Geldmenge und die Wiedereinsetzung des Preismechanismus führten zum Aufbau marktwirtschaftlicher Strukturen und Prozesse, die die schnelle Erholung der westdeutschen Wirtschaft ermöglichten und Spielräume für die soziale Sicherheit eröffneten. Der Begriff S. M. wurde wohl von Alfred Müller-Armack geprägt, zumindest verwendet er ihn erstmals in einer Publikation, in der im Dezember 1946 abgeschlossenen Schrift „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“ (Müller-Armack 1947).

S. M. lässt sich als eine regelgeleitete Wirtschaftspolitik charakterisieren, die mittels einer rechtlichen Rahmenordnung sicherstellt, dass der Wettbewerb auf Märkten zu gesellschaftlich wünschenswerten Ergebnissen führt. Der Maßstab für die Güte der wirtschaftlichen Ordnung im Rahmen einer S.n M. ist nicht allein die wirtschaftliche Effizienz, sondern primär das Wohlergehen der Menschen, die in ihr leben. Der Staat garantiert die Rahmenordnung (Wirtschaftsverfassung), um echten und entmachtenden Leistungswettbewerb hervorzubringen. Es ist aber nicht seine Aufgabe, selbst aktiv in den Wettbewerb einzugreifen.

Dieses Verständnis von S.r M. als geordneter, nicht aber gelenkter Marktwirtschaft ähnelt im Grundgedanken einem Fußballspiel: Wie dort wird den wirtschaftlichen Akteuren, die sich im Wettbewerb messen, ein verbindlicher Ordnungsrahmen (Spielregeln) vorgegeben. Innerhalb dieser Spielregeln können sich Produzenten und Konsumenten (Spieler) frei bewegen und solche wirtschaftlichen Aktivitäten (Spielzüge) suchen, die in ihrem Interesse sind. Die Rahmenbedingungen (Spielregeln) sind so zu gestalten, dass ein fairer Wettbewerb (Spiel) zu erwarten ist. Die Aufgabe des Staates bzw. der Politik (i. S. eines Schiedsrichters) ist es, für den regelgerechten Ablauf zu sorgen.

Man mag einwenden, dass die real existierende S. M. vom beschriebenen Ideal weit entfernt ist. Das ist in vielerlei Hinsicht sicherlich richtig, und viele wirtschaftspolitische Entscheidungen entsprechen nicht dem skizzierten Grundanliegen eines dem Menschen dienlichen und geordneten Wettbewerbs. Insb. der Einfluss einzelner Interessengruppen und Partikularinteressen widersprechen der Vorstellung einer machtfreien und allein auf fairem Wettbewerb beruhenden Ordnung der Wirtschaft. Dennoch kann ein solches Ideal als Maßstab dafür dienen, ob bestimmte wirtschafts- wie sozialpolitische Reformvorhaben dem grundsätzlichen Anliegen der S.n M. entsprechen. Festzuhalten bleibt, dass Markt und Wettbewerb gestaltet werden müssen, wenn sie den Zielen der Gesellschaft dienlich sein sollen. In diesem Sinne ist „Wettbewerb als Aufgabe“ (Miksch 1937) zu verstehen.

2. Das soziale Anliegen

Das soziale Anliegen der S.n M. lässt sich in dreifacher Hinsicht charakterisieren. Erstens und grundlegend ist es erklärtes Ziel, die wirtschaftlichen Vorteile von Markt und Wettbewerb mit den Forderungen eines sozialen Ausgleichs zu verbinden. Anspruch dieses Konzepts ist, Lösungswege dafür aufzuzeigen, „wie die divergierenden Zielsetzungen sozialer Sicherheit und wirtschaftlicher Freiheit zu einem neuartigen Ausgleich gebracht werden können“ (Müller-Armack 1976: 236). Zweitens verweist das Attribut „sozial“ auf einen gesellschaftlichen Anspruch. Die Wegbereiter der S.n M. zielten auf eine umfassende Gestaltung der Gesellschaft. Angestrebt ist eine solche Ordnung des Gemeinwesens, in der allen jenseits von Klassenschranken gleiche Chancen zukommen. In diesem Sinne steht hinter Ludwig Erhards „Wohlstand für alle“ (Erhard 1957) ein verteilungspolitisches Projekt, das jeder und jedem die Möglichkeit eröffnen soll, an den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Errungenschaften der Moderne teilzuhaben. Drittens lässt sich das soziale Anliegen der S.n M. als ein genuin ethisches bzw. normatives verstehen. Das gesellschaftliche Ziel ist eine menschenwürdige Ordnung, Markt und Wettbewerb sind ein notwendiges Mittel dazu.

3. Theoriegeschichtlicher Hintergrund

Üblicherweise wird auf den Ordoliberalismus (Ordnungsökonomik, Ordnungspolitik) verwiesen, wenn es um die wirtschaftstheoretischen Hintergründe geht. Im Blick auf die Gestaltungswirkung der ordoliberalen Ideen und ihrer Vordenker wie Walter Eucken, Franz Böhm, Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow trifft dies sicherlich zu. Sie wirkten unmittelbar – insb. durch die engen Verbindungen zu L. Erhard, z. B. im Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft – als auch mittelbar – durch ihre Präsenz in den wissenschaftlichen und öffentlichen Diskursen jener Jahre – auf die Ausgestaltung der S.n M. Dennoch sollte man ihre Ursprünge theoriegeschichtlich früher verordnen. Für die Entwicklung des Ordoliberalismus und für die S. M. zugleich ist die Verbindung zur Historischen Schule (Historismus in der Wirtschaftswissenschaft) ganz wesentlich. Gleichwohl die Überlegungen dieser Schule keineswegs einen einheitlichen wissenschaftlichen Kanon bilden, einte ihre Vertreter doch die Überzeugung, dass die Ansichten der klassischen Nationalökonomie im Gefolge von Adam Smith und David Ricardo ergänzt werden sollten. Eine Politische Ökonomie habe nicht vordringlich nach allgemeinen Wirtschaftsgesetzen zu suchen, sondern es gelte vielmehr, die jeweiligen historischen Besonderheiten einzelner Länder im Zeitablauf aufzudecken und zu berücksichtigen. Ziel der historischen Beschreibung ist die konkrete, praktische Umsetzung in wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen. Insb. Gustav Schmoller, Haupt der sogenannten jüngeren Historische Schule, betonte die Notwendigkeit, die Prozesse der Industrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution) durch eine staatliche Sozialreform abzufedern und den „Wirtschaftsstil“ eines Landes zu gestalten.

Diese gesamtgesellschaftliche Sicht auf ökonomische Zusammenhänge spiegelt sich in der Vorstellung wider, dass die S. M. ein „progressiver Stilgedanke“ (Müller-Armack 1976: 12) sei. Ebenso stimmen beide Richtungen darüber überein, dass es nicht die Verwirklichung wirtschaftlicher Effizienz, sondern die Ermöglichung von Gerechtigkeit ist, auf die Wissenschaft und Politik letztlich zielen sollten. Gemeinsam ist beiden Ansätzen zudem die Überzeugung, dass die Wirtschaft nicht dem Prinzip des Laissez-faire überlassen werden kann, sondern es einer staatlichen Lenkung bzw. im Sinne der S.n M. einer Wirtschaftsverfassung bedarf. Es ist gerechtfertigt, die Vordenker der S.n M. auch personell (nicht zuletzt aufgrund der entsprechenden akademischen Karrierewege) als „jüngste Historische Schule“ (Schefold 1995) anzusehen. Lange wurde dabei in der Forschung missverstanden, dass die bewusste und teils strategische Abgrenzung der Ordoliberalen von den Ansichten der Historischen Schule keinen derart radikalen Bruch mit diesen Ideen bedeutet, wie manche Selbstzuschreibungen aus jener Zeit es vermuten lassen.

Ihren spezifischen Charakter konnte die S. M. als innovative und in der Praxis erfolgreiche Wirtschafts- und Sozialordnung aber erst dadurch entfalten, dass sie die oben beschriebenen Positionen der Historischen Schule zwar beibehielt, aber sie zugleich um die wirtschaftstheoretischen Überlegungen der Neoklassik und das Programm einer eigenständigen Ordnungspolitik ergänzte. Die Betonung eines „starken Staates“ (A. Rüstow [1963], W. Eucken [1932]) als Regelsetzer ist die differentia specifica des Ordoliberalismus. Die wirtschaftliche Ordnung ist dabei aber nicht unabhängig von den anderen Teilordnungen der Gesellschaft. Es besteht vielmehr, erneut ganz i. S. d. Historischen Schule, eine „Interdependenz der Ordnungen“ (Eucken 1948: 72). L. Erhard lernte wohl während des Krieges die Ideen des Ordoliberalismus kennen, zunächst vermittelt v. a. durch die Schriften von W. Röpke. In seiner akademischen Ausbildung wurde er insb. von seinem Doktorvater, dem Frankfurter Soziologen Franz Oppenheimer, und dessen „liberalen Sozialismus“ geprägt. L. Erhard bekannte später, dass er „Adjektiv und Substantiv verlagert“ habe und einen „Sozialen Liberalismus“ vertrete (Erhard 1988: 861).

4. Historische Entwicklungslinien

Genauso wie der Ordoliberalismus wissenschaftshistorisch nicht als monolithischer Block verstanden werden kann, sondern eingebettet werden muss in die Geschichte des ökonomischen Denkens und die in den 1930er Jahren beginnende Debatte um den Neoliberalismus, sind auch die geschichtlichen Ausgangspunkte der S.n M. – insb. hinsichtlich ihrer sozialpolitischen Inhalte – zeitlich vor der eigentlichen Etablierung dieser Wirtschafts- und Sozialordnung in der Bundesrepublik Deutschland zu verorten. Mit der Einführung der drei ersten Säulen der SozialversicherungKrankenversicherung 1883, Unfallversicherung 1884 und Invaliditäts- und Rentenversicherung 1889 – unter Otto von Bismarck wurden grundlegende sozialpolitische Weichenstellungen gesetzt. Während der Weimarer Republik wurden diese Grundlagen i. S. einer sozialstaatlichen und demokratischen Politik weiter ausgebaut, u. a. durch die Durchsetzung des Achtstundentags 1918 und die Einführung einer Arbeitslosenversicherung 1927. Trotz mancher Widersprüchlichkeiten, Rückschläge und v. a. der Diskrepanz zwischen sozialpolitischen Ansprüchen und ökonomischen Möglichkeiten festigte sich während der Weimarer Republik ein flächendeckend ausgebauter Sozialstaat und Verwaltungsapparat (Verwaltung), der bis heute in seiner Grundstruktur und Grundausrichtung in der S.n M. wirksam ist. Zugleich war die Weimarer Zeit von steter Krisenhaftigkeit geprägt, wie sie sich wirtschaftlich in der Hyperinflation von 1923 und ab 1929 in der Weltwirtschaftskrise und massiver Unterbeschäftigung widerspiegelte. Auch findet sich ab 1919 zunehmende Konzentration und Kartellierung in der deutschen Industrie. Angesichts der wachsenden wirtschaftlichen und politischen Verwerfungen und der „Massenprobleme in der Massendemokratie“ (Müller 2015: 153) wuchs unter liberalen Denkern die Einsicht, dass neue Organisationsformen im Verhältnis von Wirtschaft und Staat unabdingbar seien, die bei den Ordoliberalen zu dem beschriebenen Denken in Ordnungen führte.

In den Jahren ab 1933 etablierte sich das Forschungsprogramm des Ordoliberalismus insb. unter der intellektuellen Führung von W. Eucken an der Universität Freiburg. Ihr theoretisches Fundament fand die Freiburger Schule in dessen 1940 erstmals veröffentlichten „Grundlagen der Nationalökonomie“ (Eucken 1940). Forciert auch durch den Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime, entwickelte sich das ordnungspolitische Programm immer mehr auch zu einem ordnungsethischen. Die Bedeutung des religiösen und ethischen Fundaments wird sehr deutlich in einer Denkschrift, die im Umfeld der sogenannten Freiburger Kreise, drei Widerstandszirkeln (Widerstand) von Professoren und Pfarrern gegen die nationalsozialistische Diktatur, entstand. Diese enthielt mehrere Anhänge, u. a. einen zur Wirtschafts- und Sozialordnung, der von W. Eucken und seinen beiden Kollegen Constantin von Dietze und Adolf Lampe ausgearbeitet wurde. Inhaltlich bietet diese Schrift vieles von dem, was später charakteristisch für die S. M. werden sollte.

Die vergleichsweise schnelle wirtschaftliche Erholung nach dem Krieg wird häufig als „Wirtschaftswunder“ bezeichnet, eine Bezeichnung, die L. Erhard selbst ablehnte. Seit Mitte der 1980er Jahre wurde in Frage gestellt, ob die Wirtschaftspolitik der S.n M. tatsächlich ursächlich für diese Entwicklung war. So postulierte Werner Abelshauser 1983) ihre Etablierung als unwesentlich für die wirtschaftliche Entwicklung („Irrelevanz-These“). Die wirtschaftliche Erholung in den Westzonen sei zum Zeitpunkt der Währungsreform und beim Eintreffen der Marshallplan-Lieferungen bereits im vollen Gange gewesen. Mittlerweile geht man davon aus, dass zwar Prozesse der aufholenden Entwicklung gegenüber weniger vom Krieg belasteten Volkswirtschaften (Catching-up) und Rekonstruktionsprozesse mit überdurchschnittlichen Wachstumsraten entlang eines langfristigen Entwicklungspfades einen Gutteil der wirtschaftlichen Erholung erklären können, aber doch rund 40 % des Wachstums nach dem Krieg auf ordnungspolitische Voraussetzungen (Etablierung einer funktionsfähigen Marktwirtschaft mit stabilen makroökonomischen Rahmenbedingungen) zurückzuführen sind.

Die zunächst recht kritische Haltung in der Bevölkerung gegenüber der S.n M. – wie sie sich sinnbildlich im Generalstreik vom 12.11.1948 zeigte – wich im Laufe der Jahre, begleitet auch durch publizistische Anstrengungen und kontinuierliche öffentliche Vertrauenswerbung, z. B. durch den 1952 gegründeten Verein DIE WAAGE oder die 1953 etablierte Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft. Auch wenn sich die S. M. auf diese Weise im Laufe der Jahre zum „Markenkern“ der jungen Bundesrepublik entwickelte, war und ist ihr Konzept Wandlungen unterworfen.

Eine erste Station war hierbei der Versuch von Karl Schiller, Bundeswirtschaftsminister von 1966 bis 1972, eine „Synthese von Freiburger Imperativ und Keynesianischer Botschaft“ (Schlecht 1968: 4) zu schaffen. In der Verbindung von wettbewerbsorientierter Ordnungspolitik und Konjunktursteuerung (Prozesspolitik) zielte K. Schiller auf eine „Globalsteuerung“ der Wirtschaft. Festgeschrieben finden sich diese Ideen im 1967 in Kraft getretenen StabG und den dort benannten Zielen von Stabilität des Preisniveaus, hohem Beschäftigungsstand, außenwirtschaftlichem Gleichgewicht und stetigem wie angemessenem Wirtschaftswachstum („magisches Viereck“). Inwiefern K. Schillers Konzept den Grundideen der S.n M. noch verbunden war, wird kontrovers diskutiert.

Mit dem Ende der sozialliberalen Koalition 1982 veränderte sich erneut die wirtschaftspolitische Ausrichtung der S.n M. An die Stelle eher nachfrage- und prozessorientierter Ansätze setzte die Koalition aus CDU und FDP unter Bundeskanzler Helmut Kohl stärker auf angebotsseitige Impulse. Eine wichtige Rolle spielte dabei das „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“, das Otto Graf Lambsdorff im September 1982 vorlegte („Lambsdorff-Papier“) und ein wesentlicher Grund für den Bruch der Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt war. Das im Bundeswirtschaftsministerium erarbeitete Papier, das im Wesentlichen wohl von dem langjährigen Staatssekretär Otto Schlecht und dem damaligen Leiter der Abteilung Wirtschaftspolitik und späteren Bundesbankpräsidenten Hans Tietmeyer verfasst wurde, zielte auf die Konsolidierung des Staatshaushalts, die Schaffung von Anreizen zu arbeitsplatzfördernden Investitionen, die Eindämmung der stark steigenden Sozialstaatskosten sowie eine Deregulierung im Inneren und nach außen. Es wäre aber verfehlt, von einer „neoliberalen Wende“ (wie unter Margaret Thatcher in Großbritannien oder Ronald Reagan in den USA) zu sprechen. Insgesamt erscheint die Wirtschaftspolitik bis 1989 eher als ein muddling through, die mit steigenden Arbeitslosenzahlen und fehlender finanzieller Sanierung der sozialen Sicherungssysteme zu kämpfen hatte.

Die deutsche Wiedervereinigung stellte die S. M. vor erhebliche Herausforderungen (Deutsche Einheit). Insb. die Politik der schnellen Lohnangleichung von Staat und Gewerkschaften sowie die mangelnde Klärung von Eigentumsrechten machten den Einigungsprozess auch wirtschaftlich zu einer Belastungsprobe. Die Übernahme der westdeutschen Regelungen und Institutionen in der Sozialpolitik führte zwar einerseits zum raschen Aufbau einer funktionieren Sozialverwaltung auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, andererseits verzögerte sie notwendige Reformprozesse im Bereich der Sicherungssysteme. Aufgrund der zunehmenden Finanzierungsschwierigkeiten, aber auch unter Verweis auf den demographischen Wandel, wurde in den 1990er Jahren ein schrittweiser Umbau der sozialen Sicherung vollzogen, der zur Einführung der Pflegeversicherung 1995 führte und in der Öffentlichkeit insb. mit den Begriffen der „Hartz-Reformen“ und der „Agenda 2010“ verbunden wird. Es wäre aber falsch, die seitdem durchgeführten Reformen lediglich als Sozialabbau zu verstehen.

Die geschichtlichen Wandlungen der S.n M. werden von nicht wenigen als Schwäche des Systems angesehen und stattdessen eine Rückorientierung an das ursprüngliche Konzept angemahnt. Der Ruf nach Prinzipientreue, wie sie gerne mit der deutschen Ordnungspolitik in Verbindung gebracht wird, ist genauso verfehlt wie die Vorstellung, S. M. sei eben alles das, was die Politik macht. Immer wieder neu und behutsam zu justieren, wie freiheitliche Wirtschaft und Gesellschaft gestaltet werden und wie Prinzipien im Lichte wechselnder Bedingungslagen gedeutet werden können – hierin liegt die Stärke einer realitätsnahen S.n M. Sie war nie ein in sich fertiges und abgeschlossenes Konzept, sondern bedarf fortlaufender Veränderungs- und Anpassungsprozesse. Die aktuellen globalen Herausforderungen von Digitalisierung, Klimawandel, Handel, Alterung, aber auch konkrete, nicht erwartbare Bedrohungen wie die COVID-19-Pandemie, machen Weiterentwicklung und Umgestaltung ohnehin unabdingbar.

5. Soziale Marktwirtschaft als Friedensformel

Eine freiheitliche und Freiheit ermöglichende Gesellschaft im Sinne der S.n M., die vom Einzelnen her gedacht und verstanden werden muss, sollte daran gemessen werden, inwiefern es ihr gelingt, allen Mitgliedern die Chance zu geben, soweit wie möglich aus eigenen Kräften ein dem Standard der Gesellschaft angemessenes Leben zu führen. Ein gutes Leben bedeutet aber auch, dass die Gesellschaft den Raum für ein gelingendes Miteinander bieten muss. Dies erfordert eine Gesellschaft, in der sich unterschiedliche Vorstellungen mit Respekt begegnen und in der der politische Kompromiss der Normalfall ist. Dies zu ermöglichen ist auch ein Versprechen der S.n M. A. Müller-Armack sprach in diesem Zusammenhang von „soziale[r] Irenik“ (Müller-Armack 1981). Abgeleitet vom griechischen Begriff eirene (Frieden) meint er damit nicht nur die Versöhnung von wirtschaftlicher Effizienz und gesellschaftlichem Wollen, sondern zugleich die Versöhnung unterschiedlicher Vorstellungen: „So kann unsere Hoffnung auf eine mögliche Einheit nur die Irenik sein, einer Versöhnung, die das Faktum der Gespaltenheit als gegeben nimmt, aber ihm gegenüber die Bemühung um eine gemeinsame Einheit nicht preisgibt“ (Müller-Armack 1981: 563). Die Ziele von Gerechtigkeit und Solidarität, denen sich die S. M. von Anfang an verschrieben hat, sind heute nur in dem Maße zu realisieren, in dem es tatsächlich gelingt, gesellschaftliche Institutionen so zu gestalten, dass soziale Anerkennung in Form von Partizipation an den wesentlichen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebensvollzügen der Gesellschaft vermittelt wird. Der ordnungsethische Zielsatz der S.n M. lautet deshalb heutzutage nicht mehr nur: „Wohlstand für alle“, sondern auch: „Anerkennung für alle“. Vor diesem Hintergrund ordnungsethischer Interpretation lassen sich zahlreiche Brücken auch zur Katholischen Soziallehre schlagen, wie – bspw. bei der Subsidiarität – von den Vordenkern der S.n M. selbst gesehen wurde, wie es sich in besonderer Weise in der Enzyklika „Centesimus annus“ gezeigt hat, sich aber auch bis hin zum jüngsten Lehrschreiben „Fratelli tutti“ finden lässt.

6. Europäischer und internationaler Diskurs

A. Müller-Armack, von 1958 bis 1963 Staatssekretär für Europäische Angelegenheiten im Bundeswirtschaftsministerium, hat die S. M. schon früh als ein Projekt verstanden, dass „sich nicht nur in Deutschland, sondern auch in der übrigen Welt – wenn schon nicht immer unter der gleichen Chiffre, so doch der Sache nach – aufnötigt“ (Müller-Armack 1976: 12). Spätestens mit dem 2007 unterzeichneten Vertrag von Lissabon ist dieses Projekt in Europa angekommen. So heißt es in Art. 3 Abs. 3: „Die Union errichtet einen Binnenmarkt. Sie wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin“. Zentrale Elemente einer ordoliberalen Wirtschafts- und Sozialordnung sind heute weitgehend „europäisiert“ worden. Unverfälschter Wettbewerb, Reduzierung staatlicher Beihilfen und v. a. die Verwirklichung der vier Grundfreiheiten offener Märkte (freier Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital) blieben nicht nur Absichtserklärungen der Römischen Verträge (1957). Hieraus sind seit der EEA, die 1987 in Kraft trat, europäische Rechtsgrundsätze geworden, die von Europäischer Kommission und EuGH in vielen Fällen ordnungspolitisch konsequenter durchgesetzt wurden, als sie es wohl selbst in Deutschland je hätten werden können, selbst wenn wir auf europäischer Ebene auch Elemente finden, die deutlich mehr auf Marktregulierung und -steuerung setzen. Auch das EU-Budget widmet mit Agrarpolitik (Europäische Agrarpolitik), Regional- und Strukturfonds den überwiegenden Teil distributiven und eher planwirtschaftlichen Zwecken. Die europäische Wirtschaftsordnung war und ist also aus ordnungspolitischer Sicht eher ambivalent zu beurteilen.

In jüngster Vergangenheit war die S. M. – und bes. der ihr zu Grunde liegende Ordoliberalismus – in der internationalen Debatte um die Rolle Deutschlands in der europäischen Schuldenkrise ein zentrales Thema. Angestoßen wurde die Diskussion u. a. von Markus Brunnermeier, Harold James und Jean-Pierre Landau, welche einen nahezu unüberbrückbaren kulturellen Graben zwischen nord- und südeuropäischen Staaten postulieren, der nicht zuletzt während der europäischen Schuldenkrise und deren Nachspiel offensichtlich geworden sei. Unbedingtes Pochen auf die Einhaltung der Regeln wird von den Autoren auf die „typische deutsche“ Spielart des Liberalismus zurückgeführt. Im Kontrast zu anderen wirtschaftspolitischen Traditionen, bei denen eine diskretionäre Politik vergleichsweise unproblematisch sei (so z. B. in Frankreich), drohe das Insistieren auf „Austerität“ (Austeritätspolitik) zum Spaltkeil für die EU zu werden.

Diese Thesen sind zu diskutieren. Auf jeden Fall haben sie eine fruchtbare Debatte über die deutsche Tradition der Ordnungsökonomik und der S.n M. eröffnet. Oliver Landmann und Michael Burda argumentieren bspw., dass die deutsche Position während der Eurokrise nicht vordringlich von wirtschaftstheoretischen Einsichten bedingt worden sei, sondern vielmehr durch „harte“, realpolitische Interessen erklärt werden kann, v. a. durch das Engagement deutscher Banken in griechischen Schuldtiteln. Auch wird herausgestellt, dass regelbasierte Ansätze in der Wirtschaftspolitik nicht allein im Ordoliberalismus vorkommen, sondern in unterschiedlichen Denkschulen eine lange Tradition haben.

Unabhängig davon, wie genau man die Bedeutung der deutschen Ordnungspolitik für die europäische Haltung in der Staatsschuldenkrise beurteilt, hat die Diskussion dazu geführt, dass dieser Denktradition und der S.n M. auch international wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Zugleich rückten grundlegende institutionenökonomische Fragestellungen (Institutionenökonomik) erneut in den Vordergrund, v. a. die Rolle unterschiedlicher Regelhierarchien und die Bedeutung informeller, kulturell geprägter und erlernter Institutionen. Auch dies ist im Denken der S.n M. verankert. So sprach bereits A. Müller-Armack von der Notwendigkeit zur „Entdeckung geistiger Landschaften“ (Müller-Armack 1981: 537). Es ist eine weitere Stärke im Konzept der S.n M., dass sie ausdrücklich den Kontext berücksichtigt, in dem wirtschaftliche Aktivität stattfindet.

7. Zusammenfassung

In zehn Punkten lassen sich die vorgestellten Überlegungen zusammenfassen:

1) S. M. heißt: Wirtschaft für den Menschen. Die Wirtschaft dient ihnen, nicht umgekehrt.

2) Das nachhaltige Wohl der Menschen ist das Ziel, der Wettbewerb dazu das Mittel. S. M. bedeutet kein Laissez-faire, sondern entmachtenden und fairen Wettbewerb.

3) Gute Regeln für den Markt fördern das Wohl der Menschen, nicht Eingriffe in den Markt.

4) Märkte halten sich von selbst weder offen noch im Gleichgewicht. Es braucht einen starken, durchsetzungsfähigen Staat, der Marktzugang und ökonomische Mitwirkung regelt.

5) S. M. bedarf echten Leistungswettbewerbs. Dort sind diejenigen erfolgreich, die ihr Wissen und ihre Fähigkeiten bestmöglich einsetzen.

6) Niemand kann die Bedürfnisse und den Bedarf von morgen genau vorhersagen. Darum muss sich die Wirtschaft immer wieder neu erfinden. Ohne unternehmerische Freiheit und persönliche Initiative geht das nicht.

7) Wirtschaft und Gesellschaft brauchen einander. Der Wettbewerb darf seine eigenen kulturellen, sozialen und ökologischen Voraussetzungen nicht untergraben.

8) Wer von Menschen Eigenverantwortung fordert, muss auch die Voraussetzungen dafür schaffen. Es gibt keine S. M. ohne eine kluge Sozialpolitik.

9) Eine gesunde Ökonomie braucht das Zusammenspiel von Zivilgesellschaft und Politik. Demokraten, nicht Technokraten schaffen das ordnungspolitische Fundament der Wirtschaft.

10) Die Herausforderungen der Gegenwart – Klimawandel, Digitalisierung, Welthandel, Alterung, Migration etc. – verlangen neue Lösungen. Um sie zu finden, braucht es den öffentlichen Dialog der Bürger.