Politikwissenschaft

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1. Grundzüge

Die P. ist die Wissenschaft von der Politik. Ihr Gegenstandsbereich ist alles menschliche Handeln, das auf die Herstellung und Durchsetzung allgemein verbindlicher Regeln und Entscheidungen in und zwischen Gruppen von Menschen abzielt. Dieses Handeln beginnt in und zwischen Kleingruppen („Ubiquität des Politischen“), setzt sich fort in und zwischen Organisationen („Organisationspolitik“, „Personalpolitik“ usw.), und reicht bis zum Handeln in und zwischen Staaten bzw. Gesellschaften („Innenpolitik“, „Außenpolitik“, „Weltpolitik“ usw.). Die wichtigsten Dimensionen dieses Handelns sind Macht („Wer kann gegenüber wem weshalb seinen Willen auch gegen Widerstreben wie durchsetzen?“), Ideologie („Wie sieht ein Akteur die Welt, warum so, und was alles übersieht er mit welchen Folgen?“), Normen („Nach welchen Regeln wird wie warum gespielt, und wer setzt sie?“) sowie Kommunikation („Mit welchen Folgen tauscht wer mit wem wie welche Informationen und Sinndeutungen aus?“).

Gegliedert wird der Gegenstand der P. in politische Strukturen („polity“, etwa Regierungs- oder Parteiensysteme), in politische Prozesse („politics“, etwa Regierungsbildung oder politische Kontrolle) sowie politische Inhalte („policy“, etwa Außenpolitik oder Finanzpolitik). Sich selbst gliedert die P. in die folgenden Teilfächer: politische Systeme und Systemvergleich, einschließlich der jeweils einschlägigen Vorgeschichte; internationale Beziehungen mitsamt ihrer Vorgeschichte, einschließlich nationalstaatlicher Außenpolitik und des Agierens internationaler Organisationen; politische Theorie und politische Philosophie, sowohl zeitgenössisch als auch historisch; sowie die – mit den anderen Sozialwissenschaften – gemeinsame Methodenlehre (Methode). Konkret wird P. als Forschung, als Lehre (didaktisch reduziert: als politische Bildungsarbeit [ Politische Bildung ]), als interne oder öffentliche Politikberatung sowie als Motivation und Kompetenzausstattung politischer Partizipation.

2. Wissenschaftscharakter und Methoden

Wissenschaft ist menschliches Handeln, das auf die Herstellung solcher Aussagen ausgeht, die alltagspraktischen Aussagen zweifach überlegen sind: Sie sollen mit jenen Tatsachen übereinstimmen, über die sie etwas behaupten, also „empirisch wahr“ sein; und sie sollen – zu komplexeren Aussagen wie Argumenten verbunden – keine Denkfehler enthalten, d. h. „logisch wahr“ sein.

Die von der P. formulierten Aussagen gliedern sich in sechs aufeinander aufbauende Gruppen mit jeweils steigender Komplexität und Fehlerträchtigkeit. Die ersten vier sind empirische Aussagen, deren Wahrheitsgehalt man durch Vergleich der Aussagen mit Informationen über deren Gegenstandsbereiche überprüfen kann. Es handelt sich dabei um Beschreibungen politischer Strukturen, Prozesse und Inhalte; Zusammenhangsaussagen („Wenn/Dann-Aussagen“) über das Zusammenwirken von politisch wichtigen Strukturen, Prozessen und Inhalten; Erklärungen für das Vorliegen oder Nicht-Vorliegen von Sachverhalten oder Zusammenhängen; sowie Vorhersagen über künftig Eintretendes, von rein technischen Prognosen über Trendaussagen bis hin zu – mitunter ganz spekulativen – historischen Prophezeiungen („Die Geschichte läuft auf den Kommunismus hinaus!“) reichend. Die letzten zwei Gruppen sind normative Aussagen, bei denen sich empirische Befunde, deren theoretische Erklärungen sowie persönliche Entscheidungen über „gut“ oder „schlecht“ in sehr komplexer Weise durchdringen. Es handelt sich um Werturteile (z. B. „Demokratie ist gut“) sowie um Handlungsanweisungen, die durch Verbindung eines Werturteils mit Wenn/Dann-Aussagen entstehen und zum Kernbestand der meisten politischen Diskurse gehören (z. B. „Führt in A-Land die Demokratie ein!“).

Normative Aussagen sind zwar logisch wahrheitsfähig, nicht aber empirisch wahrheitsfähig. Sie können sich allenfalls als „normativ brauchbar“ bzw. „praktisch zielführend“ erweisen. Doch während es für die empirische Forschung verlässliche Methodenlehren gibt, fehlt derlei für die normative Forschung weitgehend. Deshalb ist diese anfällig für reine Spekulation oder politische Ideologie. Empirisch inspirierte Politikwissenschaftler wurden daher oft von der Beschäftigung mit Werturteilen und Handlungsanweisungen abgehalten. Hingegen sehen philosophisch orientierte Politikwissenschaftler gerade darin den größtmöglichen Nutzen, den ihre Disziplin für die politische Praxis erbringen kann.

Die empirische P. teilt mit den anderen Sozialwissenschaften alle Methoden der Datenerhebung und der Datenanalyse. Der Datenerhebung dienen – v. a. anhand von Zufalls- und Quotenstichproben oder theoriegesteuerten Fallauswahlen – alle Methoden der Befragung, Beobachtung, Dokumenten- und Inhaltsanalyse, Simulation und des Experiments (Laborexperimente, Feldexperimente, Analyse politischen Handelns als „historisches Experiment“). Je nach Forschungsfrage und Forschungsstand werden alle Methoden in qualitativen oder quantitativen Versionen sowie in vielfältigen Kombinationen eingesetzt. Die Datenanalyse arbeitet einesteils mit der Hermeneutik, andernteils mit allen Methoden der beschreibenden und schließenden Statistik. Die angewandten Forschungsstrategien reichen von theoriebildenden oder theorietestenden Einzelfallstudien über qualitative Vergleichsstudien mit relativ wenigen Fällen bis hin zur (vergleichenden) statistischen Analyse von sehr vielen Fällen.

Im Übrigen muss die P. mit vier Besonderheiten ihres Gegenstands zurechtkommen:

a) die Komplexität ihrer Gegenstände, welche sich – anders als in den Naturwissenschaften – nicht durch Fokussierung auf immer kleinere Ausschnitte des untersuchten Wirklichkeitsbereichs reduzieren lässt;

b) die Geschichtlichkeit ihrer Gegenstände, die sich – anders als in den Naturwissenschaften – im dauernden, gerade nicht „rein zyklischen“ Neu- und Anderswerden befinden sowie nichts weiter als Zwischenergebnisse kontingenter, pfadabhängiger Prozesse (Kontingenz, Pfadabhängigkeit) sind;

c) das „konkurrierende Selbstwissen“ der erforschten Akteure. Dieses prägt deren Selbstdeutungen und Handlungen. Also muss die P. solches Selbstwissen ihres Gegenstands ergründen, darf sich aber nicht mit dessen Nachzeichnung begnügen, sondern hat sich durch Befolgung methodischer Regeln von dessen – den Akteuren oft unbewusster – Perspektivität, Selektivität und Normativität zu emanzipieren. Obendrein scheint vielen Bürgern und Organisationen ihr schon vorhandenes politisches Selbstwissen eine auch noch politikwissenschaftliche Befassung mit dem von ihnen bereits Gewussten überflüssig zu machen. Das rät dann davon ab, politikwissenschaftliche Befunde ernstzunehmen, hindert Studierende der P. am intellektuellen Weiterkommen, hält das Ansehen der P. gering und lässt ihren institutionellen Ausbau entbehrlich erscheinen.

d) Politikwissenschaftler sind mit ihrem Gegenstand in viel engerer Weise verbunden als Naturwissenschaftler mit Flora, Fauna oder jener Materie, aus denen dies alles besteht. Sie sind oft politisch gestaltungswillige Staatsbürger, brauchen für ihr Tun stets Duldung seitens der Politik, und wirken durch die Präsentation ihrer Befunde oft auch ihrerseits auf den untersuchten Gegenstand zurück, etwa in Form sich selbst erfüllender oder widerlegender Prognosen. Auch eine methodisch disziplinierte P. entkommt deshalb einer realen politischen Rolle nicht. Sie hat sich deshalb zu entscheiden, ob sie sich zur herrschenden intellektuellen oder politischen Hegemonie affirmativ oder kritisch verhalten will.

3. Geschichte der Politikwissenschaft

Die moderne P. wurzelt in zwei Entwicklungssträngen:

a) denkerische Auseinandersetzung mit Politik,

b) empirische Erforschung politisch bedeutsamer Sachverhalte.

Beides stand sowohl zueinander als auch zur politischen Praxis in wechselvollen, schwierigen Beziehungen.

Vermutlich gab es schon lange vor Erfindung der Schrift mündlich tradierte Vorstellungen über „richtige“ politische Ordnungsstrukturen und über sinnvolle Verfahren, zu allgemein verbindlichen Entscheidungen zu gelangen. In Form nicht nur religiöser, philosophischer oder historischer Anmerkungen, sondern systematischer Abhandlungen werden Reflexionen über Politik allerdings erst in China seit Konfuzius, im Westen seit Platon und Aristoteles fassbar. Dort wurde v. a. die Frage erörtert, was eine gute politische Ordnung und gutes politisches Handeln wären. Seit der Spätantike verlor die Frage nach der guten politischen Ordnung an praktischer Dringlichkeit, einesteils wegen des u. a. der Völkerwanderung geschuldeten Zerfalls des Weströmischen Reiches, andernteils unter dem Einfluss des Christentums: Das anzustrebende Reich Gottes könne in dieser Welt ohnehin nur ansatzweise verwirklicht werden; und das irdische Leben sei zwar als Etappe auf dem Weg zum ewigen Leben wichtig, berge aber – mitsamt seiner politischen Ordnung – keinen Wert an sich. Also trat die Beschäftigung mit den Möglichkeiten, das irdische Leben gut zu ordnen, zurück hinter die theologischen Bemühungen um den rechten Weg zu Gott. Zu den politisch wichtigen Themen gehörte dabei die Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche weltlicher und geistlicher Gewalt sowie die Anleitung von Fürsten zum richtigen Handeln.

Auch in den Folgejahrhunderten kamen die wichtigsten Anstöße politischen Denkens aus den Herausforderungen politischer Praxis. Das machte die P. stets zur Zeit-, Gesellschafts- und Systemkritik oder zur systematischen Rechtfertigung bestehender Verhältnisse. Weichenstellend waren: die Erfahrung, dass Politik nicht allein von ihren Zielen her, sondern auch hinsichtlich konkreter Macht- und Regierungstechnik zu bedenken ist; die aufgekommene Idee vom Bestehen natürlicher Rechte aller Menschen (Menschenrechte), an denen politischer Gestaltungswille seine Grenzen fände; die Entstehung von Konzepten wie Fürsten- sowie Volkssouveränität, was zunächst die Zentralisierung politischer Macht und sodann deren Rückbindung an die Zustimmung der Regierten rechtfertigen ließ; die Theorien vom Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag (Vertragstheorien), die politische Gewalt in plausibler Weise zugleich zu begründen und zu bändigen erlaubten; die Ausarbeitung der Gewaltenteilungslehre (Gewaltenteilung), um ein gouvernement modéré herbeizuführen und dann, im Rahmen institutionell kontrollierter Regierungsmacht, Freiheit zu sichern; das Aufkommen politisch-ökonomischer Denkweisen wie Physiokratie, Merkantilismus, Freihändlertum (Freihandel) und Marxismus, um die wirtschaftlichen Grundlagen politischer Ordnungsformen verstehen zu können und verlässliche Prinzipien für die staatliche Wirtschaftspolitik zu entwickeln; sowie die politischen Ideen etwa von Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus, die unmittelbar auf praktische Gestaltungsaufgaben abzielten.

Im Übrigen brauchten Politiker immer schon Informationen über die von ihnen regierten Gesellschaften und deren Umwelt. Deshalb kennen wir Felder- und Goldzählungen schon aus dem ägyptischen Alten Reich, quasi-statistische Erhebungen aus dem alten China, Volkszählungen aus dem Römischen Reich. Dem Erwerb politischer Sachkunde dienten auch Instruktionen für Beobachtungen auf Reisen und Gesandtschaften („Apodemik“). Von drei Faktoren hing sodann die Entstehung einer empirischen P. ab: von der Möglichkeit, politische Sachverhalte systematisch in Erfahrung bringen und öffentlich erörtern zu können; von der Art des jeweils zeitgenössischen Wissenschafts- und Methodenverständnisses; und von der Möglichkeit, politische Tatsachenforschung auch zu institutionalisieren. Nicht alles davon war „immer schon“ oder auch außerhalb Europas gegeben. Faktisch wurzelt die empirische P. deshalb in der neuzeitlichen (Neuzeit) Entwicklung Europas. Denn erst als dort der moderne, theoretische mit empirischer Forschung verschränkende Wissenschaftsbegriff zunächst bzgl. der Erforschung der Natur durchgesetzt war, konnte er fortan auch für die Beschäftigung mit gesellschaftlichen und politischen Sachverhalten attraktiv werden.

Tatsächlich entwickelte sich die P. gemeinsam mit dem neuzeitlichen Fürstenstaat. Dieser brauchte verlässliches Tatsachenwissen zur Durchführung seiner Innen-, Wirtschafts- und Außenpolitik, desgleichen Beamte, die seine wachsenden finanziellen und administrativen Herausforderungen bewältigen konnten. In Deutschland richteten die Landesherren an den Universitäten deshalb praxisorientierte Lehrstühle für Staatsrecht, Verwaltungs- und Finanzwissenschaften ein („Kameralwissenschaften“; Kameralismus). Außerdem entwickelte sich dort die Erforschung der geographischen, wirtschaftlichen und organisatorischen Merkmale von Staaten, desgleichen die Lehre von der „guten Policey“, d. h. der auf öffentliche Ordnung und Wohlfahrt ausgerichteten Staatsverwaltung. Die alldem gewidmeten Fächer hießen „Politische Wissenschaften“. Sie verselbständigten sich im späten 18. Jh. zu den heute noch bestehenden Disziplinen der rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten. Die P. als eine um alle Aspekte von Politik bemühte Disziplin ging dadurch unter. V. a. die Geschichtswissenschaft, ein Stück weit auch die entstehende Soziologie sowie die Politische Geographie (v. a. in Gestalt von „Auslandskunde“ und „Geopolitik“), übernahmen dann die Aufgabe, die disziplinär getrennten Einsichten der „Politischen Wissenschaften“ fallweise zusammenzuführen. Allerdings geschah das nicht selten durch Verschmelzung wissenschaftlicher Arbeit mit jenen zeitgenössischen politischen Ideologien, die man persönlich bevorzugte.

Zum Korrektiv dessen wurde die empirische Sozialforschung. Im 17. Jh. kam sie als „Statistik“ auf, damals noch verstanden als „vergleichende Staatenkunde“, die auf quantitative Beschreibungen politisch wichtiger Merkmale von Staaten sowie darauf ausging, praktisch nützliche Zusammenhänge zwischen diesen Merkmalen aufzudecken. Hinzu kam die Entwicklung der „politischen Arithmetik“, später der „Moralstatistik“, die mathematische Wissenschaftlichkeit mit Praxisorientierung verband. Seit dem späten 19. Jh. wurden immer mehr mathematische Modelle zur Auswertung erhobener Informationen entwickelt. Außerdem kam es zum Ausbau der Wahrscheinlichkeitstheorie, die ihrerseits die verallgemeinernde Arbeit mit auch kleinen Stichproben ermöglichte. Hier liegen die Wurzeln des späteren „Szientismus“ und der bis heute prägenden behavioral revolution (Behaviorismus, Behavioralismus) in der P.

Im Übrigen wurde v. a. die US-amerikanische Traditionslinie der P. zur Gussform der heute internationalen Wissenschaft von der Politik. Schon die US-Verfassungsväter verstanden ihr Tun dahingehend, dass sie sich der zu ihrer Zeit bestbegründeten Einsichten der political science bedienten. Gerade als in Deutschland die „Politischen Wissenschaften“ vollends auseinandergefallen waren, wurden an US-Universitäten seit dem letzten Drittel des 19. Jh. die ersten politikwissenschaftlichen Fachbereiche im modernen Sinn gegründet. Dort verbanden sich beide Entwicklungslinien der heutigen P. Stark gefördert wurde der damalige Aufschwung durch das Wirken europäischer Emigranten, welche die nationalsozialistische Gewaltherrschaft vertrieben hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg brachten viele von ihnen ihre amerikanischen akademischen Erfahrungen und Kontakte nach Europa zurück und schufen so auch dort die Grundlage einer nunmehr international konsens- und kooperationsfähigen P.

Deren Dachverband ist die IPSA, 1949 gegründet von der UNESCO, heute mit Sitz in Montreal und getragen von über 50 nationalen politikwissenschaftlichen Fachvereinigungen. Derzeit hat die IPSA rund 3 600 individuelle Mitglieder, ist aktiv mit über 50 thematisch spezialisierten Research Committees und tritt u. a. durch die Herausgabe der „International Political Science Abstracts“ sowie internationaler politikwissenschaftlicher Handbücher wie der „International Encyclopedia of Political Science“ (Badie/Berg-Schlosser/Morlino 2011) hervor.