Staatskirchenrecht
1. Begriff und Gegenstand
Während der Begriff des Kirchenrechts das von den Kirchen selbst gesetzte Recht, also die innerkirchliche Rechtsordnung, erfasst, bezeichnet der im deutschen Rechtskreis seit langem etablierte Terminus des S.s die Gesamtheit aller staatlich in Geltung gesetzten Normen, die das Beziehungsgefüge von Staat und Religionsgemeinschaften betreffen. Der Ausdruck ist in einem doppelten Sinne umfassend: Er ist einerseits, obgleich sein historischer Ursprung in der Zeit des Staatskirchentums und der Staatskirchenhoheit liegt, nicht auf Bestimmungen über das Verhältnis des Staates zu den traditionellen christlichen Kirchen zu verengen, sondern erfasst auch Regelungen über die Beziehungen zwischen dem Staat und allen übrigen Religionsgemeinschaften. Andererseits ist er nicht auf das Recht des deutschen Staates beschränkt, sondern bezieht im Lichte eines beständig weiter ausgreifenden Europäisierungsprozesses auch Akte der EU und ihrer Organe ein, die auf die Materie einwirken.
Umfassend angelegt ist der Begriff des S.s auch insofern, als unter ihm nicht nur das Beziehungsgefüge zwischen den Institutionen Staat und Religionsgemeinschaften zu verstehen ist. Zwar akzentuiert der Terminus die institutionelle Dimension dieses Verhältnisses, die historisch-kulturell geprägter Gegenstand des nationalen, autochthonen Rechts ist und auch als S. im engeren Sinne bezeichnet werden kann. Gleichwohl schließt er die in dem Grundrecht der Religionsfreiheit gründende Rechtsstellung des einzelnen Grundrechtsträgers und der Religionsgemeinschaften – mithin die grundrechtliche Dimension der Materie, die menschenrechtlich fundiert und durch den Anspruch auf universelle Geltung charakterisiert ist – notwendig ein. Denn die institutionelle und die grundrechtliche Dimension des S.s sind zwar voneinander zu unterscheiden, stehen indes in der grundgesetzlichen Verfassungsordnung nicht beziehungslos nebeneinander, sondern sind vielfältig miteinander verschränkt. Insofern erfasst der Begriff das S. im weiteren Sinne.
Bedenken, der Terminus des S.s sei allzu sehr auf die christlichen Kirchen zugeschnitten und bedürfe daher der novellierenden Bezeichnung als Religionsverfassungsrecht, haben zu Beginn des 21. Jh. einen begrifflichen Vergewisserungsprozess in Gang gesetzt. Die hierdurch zunächst ausgelöste Debatte hat sich jedoch alsbald wieder entspannt. Hierzu beigetragen hat nicht nur die rasch gewachsene Einsicht, dass die Verarbeitung religiöser Pluralisierungsprozesse, für die das geltende S. alle Voraussetzungen mitbringt, v. a. von der sachlichen Bewältigung der mit ihnen zusammenhängenden Herausforderungen und weniger von begriffspolitischen Auseinandersetzungen abhängt. Mehr noch indes hat dazu geführt, dass die Defizite der vorgeschlagenen Ersatzbezeichnung – die unter Ausblendung anderer Rechtsquellen zu Unrecht insinuiert, sedes materiae des S.s. sei lediglich das Verfassungsrecht – ebenso deutlich geworden sind wie die Vorzüge einer traditionellen Terminologie, die das S. nicht nur als Erinnerungsspeicher historischer Entwicklungsprozesse ausweist, denen das Staatsrecht insgesamt wesentliche Prägungen verdankt, sondern die auch die europäische Anschlussfähigkeit der Materie wahrt, die in Spanien als derecho Eclesiástico del Estado, in Italien als diritto ecclesiastico, in Frankreich als droit ecclésiastique und in Großbritannien als ecclesiastical law bezeichnet wird. Angesichts dessen gelangen heute beide Begriffe zur Anwendung, ohne dass indes die Bezeichnung als S. ihre Leitfunktion verloren hätte. Letzteres gilt umso mehr, als im Lichte der ersatzbegrifflichen Unzulänglichkeiten des Terminus des Religionsverfassungsrechts zwischenzeitlich auch andere Bezeichnungen Verwendung finden, namentlich der Begriff des von Paul Mikat geprägten (staatlichen) Religionsrechts, mit dem nach der Intention seines Urhebers allerdings keine Frontstellung gegenüber dem Begriff des S.s verbunden ist.
2. Historische Grundlagen
Auch wenn sich von S. im eigentlichen Sinne erst seit der Herausbildung des modernen Staates in der frühen Neuzeit sprechen lässt, liegen ihm historische Tiefenschichten zugrunde, die weiter zurückreichen. Das gründet auf dem Umstand, dass Grundvoraussetzung eines rechtlich regulierten Verhältnisses von Staat und Religionsgemeinschaften der Dualismus von politischer und religiöser Ordnung ist. Dessen geschichtliche Bedingung war die Überwindung der antiken Einheit von weltlicher und geistlicher Macht.
2.1 Historische Tiefenschichten
Diese antike Einheit erfuhr eine grundstürzende Um- und Neugestaltung durch das Christentum, das den sakralen Herrschaftsanspruch des römischen Reiches abwies und diesem auf der Grundlage des neutestamentlichen Zinsgroschenwortes die Forderung entgegenstellte, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist. Die hierin liegende Distinktion von weltlicher und geistlicher Sphäre stieß nach der Konstantinischen Wende jedenfalls für das weströmische Reich die Tür zur Herausbildung einer Ordnung auf, die als „bipolare Einheit“ (Mückl 2009: 715) charakterisiert werden kann. In ihr sollten nach der geschichtsmächtigen Zwei-Schwerter-Lehre, die Papst Gelasius I. im Jahre 494 formulierte, die weltliche und die geistliche Gewalt auf der einen Seite innerhalb der Einheit der Christenheit zusammenwirken und die Welt regieren, auf der anderen Seite indes in ihrem je eigenen Bereich über prinzipielle Unabhängigkeit verfügen. Damit war diese Ordnung gleichermaßen geprägt von politisch-religiösem Einheitsdenken wie von institutioneller Trennung. Diese Ambivalenz bildete die Grundlage des mittelalterlichen Großkonflikts, welcher der beiden Gewalten – Kaiser oder Papst, Heiligem Römischen Reich oder Heiliger Römischer Kirche – der Vorrang gebühre. Dieser Konflikt mündete in den kirchlichen Suprematieanspruch des 1075 vorgelegten „Dictatus Papae“ von Papst Gregor VII. und damit in den Investiturstreit, der die geistig-politische Auseinandersetzung um die Ordnungsform der abendländischen Christenheit zum Gegenstand hatte. Allerdings gelang es der Kirche in letzter Konsequenz nicht, den auf diese Weise geltend gemachten päpstlichen Führungsanspruch dauerhaft durchzusetzen, obgleich ihr das Wormser Konkordat von 1122 eine von der weltlichen Macht unbeeinflusste Investitur der Bischöfe, die mit weltlichen Gütern zu belehnen waren, gewährleistete. Auch wenn Papst Bonifaz VIII. die kirchliche Vormachtstellung in seiner aus dem Jahre 1302 stammenden Bulle „Unam sanctam“ noch einmal nachdrücklich einforderte, verschoben sich ab dem 13. Jh. sowohl aufgrund der zunehmenden Bedeutung aufstrebender Territorialstaaten als auch aufgrund der innerkirchlichen Schwächephase, in der die Einheit der Kirche dem großen Schisma zum Opfer fiel und die Durchsetzung des kirchlichen Suprematieanspruchs praktisch nicht mehr zu realisieren war, die Gewichte zusehends zugunsten der weltlichen Herrschaft.
2.2 Reformation
Die Reformation des 16. Jh. brachte fundamentale Veränderungen für das Verhältnis von weltlicher und geistlicher Gewalt mit sich. In der Tradition mittelalterlichen Einheitsdenkens beanspruchten die nunmehr getrennten Konfessionen den Schutz der weltlichen, reichsfürstlich föderalisierten Macht und bewirkten so, dass in den Territorien die religiöse Wahrheits- mit der politischen Machtfrage verwoben wurde. In der praktischen und politischen Konsequenz führte die Glaubensspaltung auf diese Weise – mit einer Wendung von Martin Heckel – zu einer gravierenden „Verfassungsstörung“ (Heckel 2007: 21) im Reich. Der Augsburger Religionsfriede von 1555 antwortete hierauf mit Regelungen, deren Kernelemente das ius reformandi und das ius emigrandi waren. Während sie auf der Ebene der Territorien eine weitgehende konfessionelle Geschlossenheit zur Folge hatten (cuius regio, eius religio), ließen sie auf der Ebene des Reiches bereits die Neutralität der weltlichen Gewalt in der Frage des religiösen Bekenntnisses erkennen und führten hier zudem zur Parität zwischen der katholischen und der lutherischen Religionspartei. Im Westfälischen Frieden von 1648 wurde das Paritätsgebot (aequalitas exacta mutuaque) nicht nur auf die Reformierten erweitert, sondern auch dahingehend konkretisiert, dass kollegiale Reichsorgane wie das Reichskammergericht nunmehr konfessionell paritätisch besetzt wurden und in Religionsangelegenheiten keine Mehrheitsentscheidung erfolgte, sondern der Beschluss des Reichstages eine getrennte Beratung der Religionsparteien (itio in partes) und deren Bemühung um eine Verständigung (amicabilis compositio) voraussetzte.
Die Abhängigkeit der widerstreitenden Religionsparteien von den weltlichen Herrschern – gleichermaßen bei der Institutionalisierung des Protestantismus wie bei der Verteidigung des traditionellen Glaubens – trug wesentlich zur Konfessionalisierung des öffentlichen Lebens in den Territorien bei. Für die protestantische Seite folgenreich wurde die Entscheidung der Reformatoren, die Territorialfürsten als oberste Kirchenleitung anzuerkennen, da dies ebenso der Herausbildung territorialer Landeskirchen wie auch der Etablierung bzw. Verfestigung des landesherrlichen Kirchenregiments den Weg bahnte. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch den Umstand, dass der Augsburger Religionsfriede für die protestantischen Territorien die geistliche Jurisdiktionsgewalt der katholischen Bischöfe suspendierte. Das sich hieraus entwickelnde Summepiskopat des Landesherrn wurde zunächst mit einer temporär begrenzten Übertragung der Kirchengewalt gerechtfertigt (Episkopaltheorie), dann mit der territorialen Souveränität des Fürsten (Territorialsystem) und schließlich mit der Erwägung, die Kirche unterstehe wie alle Vereinigungen der Vereinshoheit des Territorialherrn (Kollegialsystem). Für die katholische Seite galt, dass sie den ihr verbliebenen Besitzstand nur durch Anlehnung an die verbliebenen katholischen Fürsten wahren konnte. Dies trug wesentlich dazu bei, dass das vorreformatorische landesherrliche Kirchenregiment auch hier eine erhebliche Verstärkung erfuhr, die in der staatlichen Vereinnahmung des österreichischen Josephinismus gipfelte. Indes stieß diese Entwicklung auf den entschlossenen Widerstand des Papsttums, weshalb die katholische Kirche im Ergebnis in deutlich geringerem Ausmaß staatlichen Herrschaftseinflüssen unterlag als die sich entwickelnden evangelischen Kirchen.
2.3 Das 19. und 20. Jahrhundert
Nachdem die reichsrechtlichen Regelungen des Augsburger Religionsfriedens und des Westfälischen Friedens das Verhältnis von Staat und Kirche im alten Reich bis zu dessen Ende im Jahre 1806 geprägt und das S. als „Reformationsfolgenrecht“ (Heinig 2003: 74) ausgeformt hatten, leitete der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 grundlegende Veränderungen ein. In ihm wurden die weltlichen Reichsfürsten für den durch die napoleonische Besetzung verursachten Verlust der linksrheinischen Gebiete mit den rechtsrheinischen geistlichen Reichsfürstentümern entschädigt und zudem ermächtigt, sich weiteres Kirchengut einzuverleiben; die hierdurch bewirkten Vermögensverluste, die v. a. die katholische Kirche empfindlich trafen, sollten zumindest partiell durch finanzielle Leistungen, die sogenannten Staatsleistungen (Staatsleistungen an die Kirchen; Kirchenfinanzierung), ausgeglichen werden. Allerdings erschöpfte sich die Bedeutung des Reichsdeputationshauptschlusses nicht in diesen eigentumsrechtlichen Konsequenzen, ganz im Gegenteil: Denn infolge der mit ihm sowie dem Wiener Kongress von 1814/15 verbundenen territorialen Neuordnung konnte zum einen das Verhältnis von weltlicher und kirchlicher Macht in den sich herausbildenden Territorialstaaten nicht mehr mit dem überkommenen reichsstaatskirchenrechtlichen Regime erfasst werden; zum anderen entstanden in seiner Folge zahlreiche gemischtkonfessionelle Territorien, was die Entwicklung in Richtung Religionsfreiheit lenken sollte. Damit stand der Reichsdeputationshauptschluss am Beginn einer Neuausrichtung des S.s, die im 19. Jh. zwar in der Phase der Restauration zu vielfältigen Formen der Staatskirchenhoheit in den deutschen Staaten, im Übrigen indes zur Beseitigung der kirchlichen Jurisdiktion in temporalibus, zur Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche in den Territorialstaaten durch Konkordatsabschlüsse oder parallel laufende päpstliche Zirkumskriptionsbullen und staatliche Rechtsetzungsakte, zur deutlichen Ausdehnung der Autonomie für die katholische Kirche – und zu deren Anbahnung für die evangelische Kirche – sowie zum allmählichen Durchbruch der Religionsfreiheit führte. Diese Entwicklung wurde durch die Paulskirchenverfassung von 1849 repräsentiert, die zwar letztlich scheiterte, aber doch mit ihren Verbürgungen der Glaubens- und Gewissensfreiheit, der Religionsausübungsfreiheit, der religiösen Vereinigungsfreiheit, der Abschaffung der Staatskirche, der Parität der Religionsgesellschaften und dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht ebenso die zeitgenössische Rechtsetzung wie auch die weitere Entwicklung des S.s beeinflusste. Dass sich diese Entwicklung keinesfalls als linear verlaufender, bruchloser Prozess darstellte, verdeutlichte hierbei der Kulturkampf Otto von Bismarcks, der sich vielfältiger Einschränkungen der kirchlichen Autonomie bediente, um den kirchlichen Einfluss auf das öffentliche Leben zurückzudrängen. Auch wenn sich diese Zielsetzung letztlich nicht durchzusetzen vermochte, führte sie doch zu Entwicklungen, die – wie etwa die obligatorische Zivilehe, die staatliche Schulaufsicht und die Regelung des Kirchenaustritts für den weltlichen Bereich – bis in die Gegenwart bedeutsam sind.
Das Ende des Ersten Weltkrieges und der Sturz der Monarchie führten zu epochalen Änderungen des S.s, das mit der WRV von 1919 zudem, nachdem im Deutschen Reich von 1871 die Regelungszuständigkeit für das Beziehungsgefüge zwischen Staat und Kirche grundsätzlich bei den einzelnen Staaten gelegen hatte, nunmehr eine reichseinheitliche Grundlage erhielt. Deren Bestimmungen über das Verhältnis von Staat und Kirche – die namentlich in Bayern, Preußen und Baden um vertragliche Vereinbarungen ergänzt wurden – knüpften an jene der Paulskirchenverfassung an. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit – in den Schranken der allgemeinen Gesetze – wurde dem Grundsatz nach nicht nur in ihren positiven, sondern auch in ihren negativen Bezügen gewährleistet; zudem wurde das kirchliche Selbstbestimmungsrecht verbürgt. Ferner wurde das Verbot der Staatskirche aufgegriffen, das letzte Überreste des landesherrlichen Kirchenregiments beseitigte, dabei aber nicht auf eine kirchenfeindliche, sondern auf eine freundschaftliche Trennung von Staat und Kirche abzielte. Dieser epochalen Entscheidung an die Seite gestellt wurden Regelungen über den Körperschaftsstatus (Körperschaft) der Kirchen, der beibehalten wurde, fortan aber auch anderen Religionsgesellschaften offenstehen sollte, ebenso über die an ihn anknüpfende Kirchensteuer. Ergänzende Regelungen zum Sonn- und Feiertagsschutz (Sonn- und Feiertage), zum Schutz des kirchlichen Eigentums sowie zur Ablösung der Staatsleistungen traten hinzu. Insgesamt wurde den großen Kirchen eine von rein privaten Vereinigungen deutlich unterschiedene öffentliche Stellung, Raum für Autonomie sowie die Möglichkeit der Kooperation mit dem Staat eingeräumt. Damit gelang es der WRV, das Staatskirchentum endgültig hinter sich zu lassen, ohne deshalb dem französischen Laizismus zu folgen.
Gleichwohl sollten die Bestimmungen der WRV zunächst nur für einen kurzen Zeitraum die Verfassungswirklichkeit bestimmen, da der Nationalsozialismus – ebenso wie nach dem Zweiten Weltkrieg im Osten Deutschlands der Kommunismus – religions- und kirchenfeindlich eingestellt und allenfalls zu taktischen Zugeständnissen an die Kirchen bereit war. Es blieb nach dem Zweiten Weltkrieg dem Parlamentarischen Rat vorbehalten, sich diese staatskirchenrechtlichen Entscheidungen im Kompromisswege zu eigen zu machen und Art. 136, 137, 138, 139 und 141 WRV in das GG zu inkorporieren. Das freilich bedeutete im Lichte der staatsrechtlichen Divergenzen zwischen der WRV und dem Bonner GG nicht, dass den Regelungen ein identischer Bedeutungsgehalt zukam; die Wandlungen des neuen staatsrechtlichen Umfeldes, insb. der in ihm angelegte Ausbau des Grundrechtsschutzes, führten vielmehr zu einem normativ veränderten Umfeld, für dessen Auswirkungen das Diktum Rudolf Smends „[…] wenn zwei Grundgesetze dasselbe sagen, so ist es nicht dasselbe“ (1951: 4) klassisch geworden ist.
3. Zweispurigkeit der Rechtsquellen
Unter der Geltung des GG wird der Normenbestand des S.s aus zwei Rechtsquellen gespeist: auf der einen Seite aus der Quelle des vom Staat einseitig gesetzten Rechts – zu dem das Verfassungsrecht ebenso wie das einfache Gesetzesrecht zählt –, auf der anderen Seite aus der Quelle des zwischen Staat und Religionsgemeinschaften vertraglich vereinbarten Rechts, das auch als „Vertragsstaatskirchenrecht“ oder als „Staatskirchenvertragsrecht“ bezeichnet wird (Zweispurigkeit des S.s). Aufgrund der föderalen Struktur der BRD handelt es sich teils um Bundes-, teils um Landesrecht. Zunehmende, wenngleich mittelbare Einwirkungen auf das S. folgen zudem aus dem Europarecht.
3.1 Einseitig staatlich gesetztes Recht
Aus dem vom Staat einseitig gesetzten Recht ragen aufgrund ihrer Bedeutung die verfassungsrechtlichen Bestimmungen heraus, die sich auf der Ebene des Bundesrechts im GG finden. Dessen staatskirchenrechtliche Ordnung ruht auf zwei zentralen Pfeilern: auf dem grundrechtlichen Pfeiler der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1, 2 GG) und auf dem Pfeiler institutioneller Regelungen (Art. 140 GG). Für Letzteren sind jene Bestimmungen maßgeblich, die der WRV entstammen (Art. 136, 137, 138, 139 und 141 WRV), vom Parlamentarischen Rat übernommen und als vollgültiges Verfassungsrecht in das GG inkorporiert worden sind. Ergänzende Bestimmungen betreffen die Verbürgung des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach an öffentlichen Schulen (Art. 7 Abs. 2 und 3 GG), das Verbot der Ungleichbehandlung aus Gründen der Religion (Art. 3 Abs. 3 S. 1, Art. 33 Abs. 3 GG) und die Fortgeltung des Reichskonkordats (Art. 123 Abs. 2 GG).
Die Normen des grundrechtlichen wie des institutionellen Pfeilers zeichnen sich durch ein außerordentlich hohes Maß an Stabilität aus. Sie sind grundgesetzlich miteinander verwoben, weshalb die jeweiligen Bestimmungen im Rahmen der Einheit der Verfassung zu praktischer Konkordanz zu bringen sind. Indes können Regelungen des institutionellen Pfeilers nicht ausschließlich als Ausdruck grundrechtlicher Freiheit gedeutet werden, soweit sich in ihnen ein „staatsrechtlicher Überhang institutioneller Absicherungen“ (Isensee 1991: 112 f.) zeigt. Das gilt etwa für den Sonntagsschutz.
Die Parallelität von grundrechtlicher Verbürgung und institutionellen Sicherungen prägt – teils durch originäre Regelung, teils durch Inkorporation von Art. 140 GG oder von Art. 136–139 und Art. 141 WRV – auch die überwiegende Anzahl der deutschen Landesverfassungen; Ausnahmen bilden lediglich die Verfassungen Berlins (1995), Niedersachsens (1993) sowie Schleswig-Holsteins (2014), die sich auf die grundrechtliche Gewährleistung der Religionsfreiheit beschränken, und die Verfassung Hamburgs (1952), die auf einen Grundrechtskatalog verzichtet. Auch das landesverfassungsrechtliche S. ist durch eine bemerkenswerte Kontinuität geprägt. Das verdeutlichen namentlich jene Verfassungen, die – obgleich auf einer erheblich veränderten religionsdemographischen Ausgangslage aufbauend – nach der deutschen Wiedervereinigung in den östlichen Bundesländern Deutschlands in Kraft gesetzt worden sind und sich inhaltlich an dem überkommenen S. ausgerichtet haben. Bei alledem sind die landesverfassungsrechtlichen Bestimmungen überwiegend umfangreicher als die des GG ausgestaltet; so erkennen exemplarisch etwa die BadWüVerf (1953) und die SächsVerf (1992) explizit die Bedeutung der Kirchen und Religionsgemeinschaften für die Bewahrung der religiösen und sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens an und gewährleisten zudem ausdrücklich den Schutz deren diakonischer und karitativer Arbeit.
Auf unterverfassungsrechtlicher Ebene können staatskirchenrechtliche Regelungen Gegenstand des einfachen Gesetzes und ggf. darauf basierender Rechtsverordnungen sein. Die diesbezügliche Gesetzgebungskompetenz ist grundsätzlich den Ländern zugeordnet; dem Bund ist gemäß Art. 140 GG i. V. m. Art. 138 Abs. 1 S. 2 WRV lediglich die Zuständigkeit für die Grundsatzgesetzgebung über die Ablösung von Staatsleistungen zugewiesen. Unterschieden werden kann zwischen einfachgesetzlichen Regelungen, die einen spezifisch staatskirchenrechtlichen Inhalt aufweisen – relevant sind hier namentlich die landesrechtlichen Vorschriften über die Kirchensteuer und den Kirchenaustritt – und gesetzlichen Bestimmungen, die zwar unmittelbar andere Materien betreffen, hierbei jedoch einzelne Regelungen mit staatskirchenrechtlichem Bezug enthalten.
3.2 Vertraglich mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften vereinbartes Recht (Staatskirchenverträge)
Ergänzt wird das vom Staat einseitig gesetzte Recht durch ein elaboriertes Netz vertraglicher Vereinbarungen, die der Staat mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften abgeschlossen hat. Der für diese Vereinbarungen etablierte Terminus der Staatskirchenverträge stellt einen Oberbegriff dar. Dieser umfasst die mit der katholischen Kirche abgeschlossenen Konkordate (bei denen kirchlicher Vertragspartner der Heilige Stuhl ist) und Verträge (bei denen Vertragspartner ein inländischer kirchlicher Rechtsträger ist), die evangelischen Kirchenverträge sowie jene vertraglichen Vereinbarungen, die mit anderen Religionsgemeinschaften – namentlich mit jüdischen Gemeinden (Jüdische Organisationen), in jüngerer Zeit erstmals auch mit muslimischen Vereinigungen (Islamische Organisationen) – abgeschlossen werden.
Mit Ausnahme der Konkordate, die im Lichte der Völkerrechtssubjektivität des Hl. Stuhls völkerrechtliche Verträge darstellen, sind Staatskirchenverträge ihrer Natur nach staatsrechtliche Verträge. Bindungswirkung für Gubernative und Verwaltung sowie Allgemeinverbindlichkeit entfalten sie aufgrund eines staatlichen Transformationsakts, der bei bedeutsamen Vertragswerken in Form eines Parlamentsgesetzes, bei sonstigen vertraglichen Regelungen in Form eines Exekutivakts ergeht und zur Einordnung der vertraglichen Vereinbarung in das System der staatlichen Rechtsquellen führt.
Typische Inhalte von Staatskirchenverträgen sind, jedenfalls sofern diese kodifikatorischen Charakter aufweisen, die Bekräftigung bestehender verfassungsrechtlicher Verbürgungen, Bestimmungen über Fragen der kirchlichen Organisation und des kirchlichen Personals, die Verbürgung des Körperschaftsstatus und hiermit verbundener Rechtspositionen, die Gewährleistung kirchlichen und religionsgemeinschaftlichen Wirkens in der Öffentlichkeit, die Regelung der sogenannten res mixtae, mithin jener Angelegenheiten, die – wie etwa der schulische Religionsunterricht oder die Anstaltsseelsorge – sowohl staatliche als auch kirchliche bzw. religionsgemeinschaftliche Belange betreffen, Bestimmungen über finanzielle Fragen sowie Verfahrensregelungen und Bestimmungen über das institutionelle Zusammenwirken (Staatskirchenverträge).
3.3 Europarechtliche Einwirkungen
Trotz voranschreitender Europäisierung verfügt die EU über keine Regelungskompetenz für das S. Diese liegt stattdessen in der Konsequenz von Art. 4 Abs. 1 EUV und Art. 2 ff. AEUV bei den Mitgliedstaaten. Dem entspricht das europäische Primärrecht, das die EU in Art. 17 Abs. 1 AEUV dazu verpflichtet, den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, zu achten und ihn nicht zu beeinträchtigen; gemäß Abs. 2 gilt Gleiches für weltanschauliche Gemeinschaften. Vor diesem Hintergrund ist der EU ein unmittelbarer Zugriff auf die Materie des S.s versagt. Das schließt indes mittelbare Einwirkungen des Unionsrechts auf die staatskirchenrechtliche Ordnung in den Mitgliedstaaten dort nicht aus, wo der EU Zuständigkeiten explizit übertragen sind, deren Inanspruchnahme sich indirekt auf die Religionsfreiheit oder die Stellung der Religionsgemeinschaften auswirkt. Derartige mittelbare Einwirkungen sind Konsequenz des Umstands, dass das Unionsrecht von seiner Anlage her funktionell konzipiert ist, also im Gegensatz zum deutschen S. nicht auf die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Subjekte abstellt, sondern auf die von diesen ausgeübten Tätigkeiten. Bewegen sich diese in einem unionsrechtlich normierten oder geprägten Bereich, entfaltet das Unionsrecht dem Grundsatz nach auch für sie Relevanz. Das ist exemplarisch auf dem Feld des Arbeitsrechts – namentlich im Bereich der arbeitsrechtlichen Antidiskriminierung – oder auch des Beihilferechts der Fall. Anderes gilt, sofern das Unionsrecht Ausnahmeregelungen vorsieht oder kompetenzielle Schranken Aktualisierung erfahren, die etwa aus dem Schutz der Religionsfreiheit gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV i. V. m. Art. 10 Abs. 1 EuGRC, dem Gebot der Achtung der nationalen Identität i. S. d. Art. 4 Abs. 2 EUV oder dem Kirchenartikel des Art. 17 AEUV resultieren können.
4. Grundentscheidungen des grundgesetzlichen Staatskirchenrechts
Das S. des GG setzt einen Rahmen für das Wirken der Kirchen und Religionsgemeinschaften in Gesellschaft und Staat. Grundlegend sind neben den Grundsätzen der Säkularität, der Neutralität und der Parität die Gewährleistung der Religionsfreiheit sowie die Verbürgung des kirchlichen bzw. religionsgemeinschaftlichen Selbstbestimmungsrechts.
4.1 Säkularität des Staates
Einen tragenden Pfeiler des grundgesetzlichen S.s bildet zunächst das Verbot der Staatskirche, das der durch Art. 140 GG in das GG inkorporierte Art. 137 Abs. 1 WRV normiert. Sein eigentlicher Kerngehalt besteht – ungeachtet der mit ihm 1919 verbundenen Beseitigung der letzten Überreste des landesherrlichen Kirchenregiments – in der grundsätzlichen Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften und der Anerkennung der als selbstverständlich vorausgesetzten Wesensverschiedenheit derselben. Damit ist er insb. Beleg für die Säkularität des Staates und dessen freiheitlicher Rechts- und Verfassungsordnung, in diesem Sinne Ausweis der Weltlichkeit der politischen Ordnung.
Unmittelbare Folge der sogenannten Scheidung in der W urzel ist die prinzipielle Unstatthaftigkeit sowohl der institutionellen Verflechtung von Staat und Religionsgemeinschaften als auch der Einmischung in die Binnensphäre der jeweils anderen Gewalt. Sie intendiert, beiden Potenzen Freiheit zu gewährleisten, zielt also auf ein Arrangement wechselseitiger Freiheit: Dem Staat dient sie zur Sicherung der Freiheit von religionsgemeinschaftlicher Ingerenz, den Kirchen und Religionsgemeinschaften zur Verbürgung der Freiheit von staatlicher Bevormundung und Aufsicht bei der Regelung eigener Belange. Die beidseitige Freiheitsfinalität belegt, dass das Verbot der Staatskirche nicht auf eine kirchenfeindliche Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften abzielt und insb. – wie bereits die verfassungsrechtliche Offerte des Körperschaftsstatus (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV) anzeigt – kein Instrument ist, um Religion und Religionsgemeinschaften aus der Öffentlichkeit zu verdrängen. Sie steht daher nicht im Dienst einer radikalen Trennung beider Gewalten.
Vor diesem Hintergrund hindert das in Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 1 WRV normierte Trennungsprinzip Staat und Religionsgemeinschaften nicht an einem gemeinwohlförderlichen (Gemeinwohl) Zusammenwirken bei Materien, die sie gemeinsam berühren, v. a. in jenen Bereichen, die den Einzelnen als Bürger und als Gläubigen betreffen. Das GG unterstreicht dies dadurch, dass es eine entsprechende Kooperation explizit vorsieht, etwa im Falle des Religionsunterrichts in öffentlichen Schulen (Art. 7 Abs. 2 und 3 GG) oder im Falle der Anstaltsseelsorge (Art. 140 GG i. V. m. Art. 141 WRV). Aber auch dort, wo ein institutioneller Kontext im Vordergrund steht, etwa beim Einzug der Kirchensteuer (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 6 WRV) oder im Falle der Staatsleistungen (Art. 140 GG i. V. m. Art. 138 Abs. 1 WRV), öffnet es einer von der Verfassung evidentermaßen als statthaft betrachteten Zusammenarbeit die Tür. Daher erhellt sich, dass das S. des GG nicht nur durch eine prinzipielle Trennung von Staat und Kirche geprägt ist, sondern zugleich durch eine grundsätzliche Offenheit für ein gemeinwohldienliches Zusammenwirken beider Potenzen.
Mit diesem Gehalt unterscheidet sich die von Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 1 WRV angeordnete Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften grundlegend von den Trennungssystemen anderer Staaten, namentlich von dem laizistischen Trennungssystem Frankreichs, aber auch von – anders gearteten – Trennungssystemen totalitärer Regime (Totalitarismus). Das verdeutlicht, dass ihre Interpretation nicht aus einem abstrakten „vorverfassungsrechtlichen“ Modell der Trennung zu gewinnen ist, das der Auslegung von Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 1 WRV verabsolutierend zu unterlegen wäre. Vielmehr ist das kulturell fundierte, historisch gewachsene und grundgesetzlich konkretisierend ausgeformte Trennungssystem des deutschen S.s zutreffend nur i. S. d. Einheit der Verfassung – und damit unter Einbeziehung aller grundgesetzlichen Bestimmungen – zu erfassen.
4.2 Religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates
Das Prinzip der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates folgt aus einer Zusammenschau zentraler Verfassungsnormen, zu denen – neben der staatlichen Säkularität – die Garantie der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 1 und 4 WRV) und die Verbürgung der Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3 Abs. 3 S. 1 und Art. 33 Abs. 3 GG) zählen. Damit ist auch die staatliche Neutralität kein von den konkreten Verfassungsnormen unabhängiger Grundsatz, sondern ein bestimmten Verfassungsnormen immanentes Prinzip, das im Dienste der Sicherung individueller Freiheit steht.
Unterschieden werden kann zwischen negativer und positiver Neutralität. So untersagt es die Neutralitätspflicht dem Staat auf der einen Seite, in Fragen von Religion und Weltanschauung Partei zu ergreifen und Einfluss zugunsten oder zulasten einer Religionsgemeinschaft auszuüben; insb. darf der Staat Glaubensinhalte oder interne Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften nicht – auch nicht am Maßstab verfassungsrechtlicher Rationalitäten – bewerten und sich nicht mit einer Religion bzw. Religionsgemeinschaft identifizieren. Auf der anderen Seite verpflichtet der Neutralitätsgrundsatz nicht dazu, die religiösen Bindungen der Bürger oder das Wirken der Religionsgemeinschaften zu ignorieren; der Staat ist vielmehr angehalten, die Präsenz religiöser Institutionen wie auch die glaubensgeprägten Überzeugungen seiner Bürger als Bestandteile der pluralistischen Wirklichkeit anzuerkennen. Ihnen darf und muss er in seinem Handeln bereits deshalb Raum geben, weil er in der Pflicht steht, den grundrechtsberechtigten Bürgern die Möglichkeit zu eröffnen, ihren religiösen Einstellungen so weit wie möglich Geltung zu verschaffen. Demgemäß steht die staatliche Neutralität der Zulassung religiös geprägter Aktivitäten im staatlichen Bereich oder deren gleichheitskonformer Förderung durch Maßnahmen der positiven Religionspflege nicht entgegen.
4.3 Parität
Der Grundsatz der Parität stellt eine spezielle Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) dar, dem in individueller (Art. 3 Abs. 3 S. 1, Art. 33 Abs. 2 und 3 GG, Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 1 und 2 WRV) und institutioneller Hinsicht (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 und 7 WRV) spezielle Paritätsmaßstäbe an die Seite treten. Er verpflichtet den Staat zur rechtlichen Gleichbehandlung aller Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Gleichwohl ist zu Recht allgemein anerkannt, dass die Parität nicht auf eine schematische Gleichbehandlung abzielt. Vielmehr gilt, dass grundsätzlich wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln ist und dass sachliche Differenzierungen zulässig – unter Umständen gar geboten – sind, wenn sie durch hinreichend gewichtige tatsächliche Verschiedenheiten der Religionsgemeinschaften bedingt oder durch einen sonstigen sachlichen Grund gerechtfertigt sind. Als Differenzierungskriterien können etwa die Größe, die soziale Bedeutung oder auch das Maß der öffentlichen Wirksamkeit einer Religionsgemeinschaft dienen, nicht hingegen der Glaubensinhalt als solcher oder alleine die schlichte Tradition.
Dieser Paritätsmaßstab verfügt als spezifische Erscheinungsform des allgemeinen Gleichheitssatzes über einen weitgespannten Anwendungsbereich; er gilt namentlich auch im Bereich der positiven Religionspflege. Allerdings sind Differenzierungen im religiösen Kernstatus der Religionsgemeinschaften – insb. im Anwendungsbereich von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sowie von Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV – a priori unstatthaft, da für diesen „ein System der prinzipiellen Statusgleichheit“ (Heckel 1994: 605) gilt; insofern sind Ungleichbehandlungen von vornherein nur außerhalb dieses Kernbereiches rechtfertigungsfähig. Eine spezifische Paritätsregelung trifft für den organisatorischen Status zudem Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 S. 2 GG, demzufolge Religionsgemeinschaften auf ihren Antrag „gleiche Rechte“ wie den sogenannten altkorporierten Körperschaften zu gewähren sind, wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten.
4.4 Religionsfreiheit
Von zentraler Bedeutung für das grundgesetzliche S. ist ferner die grundrechtliche Verbürgung der Religionsfreiheit, die grundgesetzlich zwar nicht explizit als solche benannt, in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG indes – ergänzt um die Freiheit des Gewissens (Gewissen, Gewissensfreiheit) und der Weltanschauung (Weltanschauungsfreiheit) – als Freiheit des Glaubens, des religiösen Bekenntnisses und der Religionsausübung gewährleistet wird. Das GG garantiert sie in individueller, kollektiver und korporativer Hinsicht, verbürgt sie mithin gleichermaßen dem Einzelnen alleine wie auch in Gemeinschaft mit anderen sowie Kirchen und Religionsgemeinschaften als solchen. Inhaltlich gewährleistet das Grundrecht die religiöse Freiheit umfassend: Geschützt ist sowohl die Freiheit, sich eine Glaubensüberzeugung zu eigen zu machen und sie für sich als verpflichtend zu betrachten (sogenanntes forum internum), als auch die Freiheit, sich i. S. dieser religiösen Überzeugung gegenüber Dritten zu äußern und nach ihr zu handeln (sogenanntes forum externum). Konkretisierungen der Religionsfreiheit sichert das GG mit der Gewähr des elterlichen Erziehungsrechts (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG [ Elternrecht ]) – die das Recht zur religiösen Kindererziehung umfasst – und mit der Verbürgung des Bestimmungsrechts der Erziehungsberechtigten über die Teilnahme des Kindes am schulischen Religionsunterricht (Art. 7 Abs. 2 GG). Ergänzt wird die grundrechtliche Freiheitsgarantie zudem durch die Verbürgung der Unabhängigkeit der staatsbürgerlichen Stellung von der Religion und den freien Zugang zu öffentlichen Ämtern (Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG, Art. 33 Abs. 3 GG sowie Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 1 und 2 WRV).
Als doppelpoliges Grundrecht schützt Art. 4 GG die Religionsfreiheit sowohl in ihrer negativen als auch in ihrer positiven Dimension: In negativer Hinsicht gewährleistet sie die Freiheit, keine Religion zu haben, sich zu keiner Religionsgemeinschaft zu bekennen und auch etwaige religiöse Überzeugungen nicht offenbaren zu müssen; in positiver Hinsicht umschließt sie die Freiheit, eine religiöse Überzeugung auszubilden und zu pflegen, sich zu einer Religionsgemeinschaft zu bekennen, eine Religion ungehindert auszuüben und diese öffentlich zu praktizieren. Im Kollisionsfall – etwa beim Schulgebet in der öffentlichen Schule oder bei der Anbringung von Kruzifixen in öffentlichen Gebäuden – sind beide Grundrechtsdimensionen miteinander abzuwägen und in einen schonenden Ausgleich miteinander zu bringen, ohne dass der negativen eine generelle Prävalenz vor der positiven Religionsfreiheit zukäme, die positive also der negativen Religionsfreiheit prinzipiell zu weichen hätte.
Eingriffe in die grundrechtliche Gewähr von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG liegen (jedenfalls) dann vor, wenn der Staat Verhaltensweisen, die durch die Religionsfreiheit geschützt werden, untersagt oder wesentlich erschwert. Die Statthaftigkeit derartiger Eingriffe hängt davon ab, ob sie verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden können. Eine solche Rechtfertigung kommt nach bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung nur auf gesetzlicher Grundlage und nur zum Schutz der Grundrechte Dritter oder sonstiger Güter von Verfassungsrang in Betracht. Zudem setzt sie voraus, dass sich die jeweiligen Grundrechtseingriffe in einer nach dem Prinzip der praktischen Konkordanz qualifizierten Verhältnismäßigkeitsprüfung (Verhältnismäßigkeit) als geeignet, erforderlich und angemessen darstellen.
4.5 Das religionsgemeinschaftliche Selbstbestimmungsrecht
Abgerundet wird der grundgesetzlich gesetzte Rahmen für das Wirken der Religionsgemeinschaften durch die Gewähr des Selbstbestimmungsrechts (Kirche und Staat), das den Religionsgemeinschaften unabhängig von ihrem rechtlichen Status in Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 und 2 WRV verbürgt ist. Hiernach ordnet und verwaltet jede Religionsgemeinschaft ihre Angelegenheiten – zu denen etwa Lehre und Kult, Organisation und Verwaltung, wirtschaftliche Betätigung und Vermögensverwaltung zählen – selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes; zudem verleiht sie ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde. Mit diesem Gehalt, der die praktischen Konsequenzen aus dem Prinzip der staatlichen Säkularität zieht, überschneidet sich das religionsgemeinschaftliche Selbstbestimmungsrecht zwar vielfältig mit der korporativen Religionsfreiheit, erweist sich indes der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zufolge als „rechtlich selbständige Gewährleistung, die der Freiheit des religiösen Lebens und Wirkens der Kirchen und Religionsgemeinschaften die zur Wahrnehmung dieser Aufgaben unerlässliche Freiheit der Bestimmung über Organisation, Normsetzung und Verwaltung hinzufügt“ (BVerfGE 53, 366 [401]); zugleich gewinnt es eigenständigen Gehalt dadurch, dass es die Gemeinwohlrelevanz von Religionsgemeinschaften anerkennt und akzentuiert.
Die durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV gewährleistete Autonomie steht nicht nur jeder Religionsgemeinschaft und ihren rechtlich verselbständigten Untergliederungen zu, sondern auch allen ihr in einer bestimmten Weise zugeordneten Institutionen, mit denen sie ihren selbstbestimmten Auftrag religiösen Wirkens in der Welt erfüllt. In der Praxis ist sie nicht zuletzt deshalb von herausragender Bedeutung, namentlich etwa für Einrichtungen, die karitative Zielsetzungen oder Bildungszwecke verfolgen. Das hat zu ihrer Würdigung als „lex regia“ des deutschen S.s (Heckel 1950: 85) geführt.
Den Schutz der religionsgemeinschaftlichen Selbstbestimmung gewährleistet die Verfassung lediglich „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“ (Art. 137 Abs. 3 WRV). Deren Bestimmung wird in der jüngeren bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur anhand der sogenannten Abwägungslehre (Abwägung) vorgenommen. Diese geht auf der Grundlage der Annahme, dass sich die Bindung an das für alle geltende Gesetz grundsätzlich auf sämtliche Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften erstreckt, davon aus, dass die durch die Freiheitsgewährleistung und den Schrankenvorbehalt geschützten Rechtsgüter einander im Wege einer Abwägungsentscheidung zuzuordnen sind. Diese Abwägungsentscheidung soll dem religionsgemeinschaftlichen Selbstverständnis einen besonderen Rang einräumen, hierbei aber zugleich auch den staatlichen Schutz anderer für das Gemeinwesen bedeutsamer Rechtsgüter gewährleisten.
5. Bewährung und Bewahrung des grundgesetzlichen Staatskirchenrechts
Im Spiegel der staatskirchenrechtlichen Grundentscheidungen des GG erweist sich das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften in Deutschland als ein Arrangement, das auf einer Balance von trennungsbasierter Freiheit und gemeinwohldienlicher Kooperation beruht. Auf dieser Grundlage ist es sowohl durch eine beidseitige Beschränkung – des Staates auf weltliche Angelegenheiten, der Religionsgemeinschaften auf geistlich-religiöse Zielsetzungen – als auch durch eine von wechselseitigem Respekt getragene Zusammenarbeit bei Materien, die beide Potenzen gemeinsam berühren, gekennzeichnet. Beide Charakteristika sind nicht nur Gründe für die Bewährung des deutschen S.s., das in dem bemerkenswert langen Zeitraum seiner bisherigen Geltung vielfältig unter Beweis gestellt hat, auf flexible Weise ebenso den Belangen des Staates wie den Bedürfnissen der Religionsgemeinschaften gerecht werden zu können. Vielmehr bilden sie auch wesentliche Voraussetzungen dafür, die Herausforderungen von Säkularisierung, Pluralisierung und Europäisierung zu bewältigen und namentlich zu einer gelingenden Integration neu entstehender oder sich neu in Deutschland etablierender Religionsgemeinschaften beizutragen. Daher stellt das S. des GG gleichermaßen eine ebenso erprobte wie zukunftstaugliche Ordnung des Beziehungsgefüges von Staat und Religionsgemeinschaften dar, dessen Leistungsfähigkeit sich nicht zuletzt auch im europäischen Vergleich erweist. Seine Bewahrung ist ein Gebot verfassungsrechtlicher Umsicht und staatspolitischer Weitsicht.
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Empfohlene Zitierweise
A. Uhle: Staatskirchenrecht, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Staatskirchenrecht (abgerufen: 21.11.2024)