Öffentliches Recht
1. Problemlage
Über das ö. R. lässt sich mit Gewissheit nur aussagen, dass es sämtliche Rechtsnormen, Rechtsverhältnisse und Rechtsinstitute umfasst, die nicht zum Privatrecht gehören. Alle positiven Definitionsversuche sind dagegen gescheitert. Da für das Privatrecht dasselbe gilt, bleiben Grenzverlauf und Begriff unklar. Gleichwohl durchzieht der Dualismus der beiden Rechtsmassen das Rechtssystem. Die Gerichtsorganisation orientiert sich ebenso an ihm wie die rechtswissenschaftliche Fächereinteilung und das juristische Publikations- und Dokumentationswesen. Das geltende Recht knüpft Rechtsfolgen an die Zuordnung, etwa bzgl. der Haftungsart, der Grundrechtsbindung und v. a. des Rechtswegs. Deshalb kann die Abgrenzungsfrage nicht auf sich beruhen. Anhaltende Bemühungen um eine definitive Lösung zeigen aber an, dass die Rechtswissenschaft von der Existenz einer Grenze ausgeht und die Probleme lediglich auf der Erkenntnisebene sucht. Demgegenüber ist die Erinnerung angebracht, dass die exklusive Teilung des Rechtsstoffs in ö. R. und Privatrecht weder allezeit bestanden hat noch allerorten besteht. Das legt die Vermutung nahe, dass der Dualismus nicht schon dem Recht als solchem innewohnt, sondern von bestimmten historischen Bedingungen abhängt, ohne deren Rekonstruktion daher auch keine Klärung des Problems zu erwarten ist.
2. Absonderung des öffentlichen Rechts infolge der Staatsbildung
Die Unterscheidung zwischen ö.m R. und Privatrecht findet sich erstmals im römischen Recht. Als Kriterium fungierte hier das Interesse, dem eine Rechtsnorm primär zu dienen bestimmt war: „Publicum ius est quod ad statum rei Romanae spectat, privatum quod ad singulorum utilitatem“ (Ulpian, D. 1.1.1.2). Die Unterscheidung hatte aber weder praktische Folgen, noch war sie exklusiv gemeint. Es handelte sich vielmehr um eine lehrhafte Einteilung des Rechtsstoffs unter anderen. Dem germanischen und dem mittelalterlichen Recht blieb sie dagegen selbst in dieser unverbindlichen Form fremd. Im Mittelalter galt die Rechts- und Sozialordnung als göttliche Stiftung, die dem ewigen Heil der Menschen dient. Als solche beanspruchte sie umfassende Geltung, und zwar sowohl gegenständlich als auch personal. Die Inhaber von Herrschaftsfunktionen waren ihr nicht weniger unterworfen als die Beherrschten. Sämtliche Lebensbereiche wurden von ihren sittlichen Postulaten durchdrungen. Folglich konnten sich keine Zonen subjektiven Beliebens ausbilden. Jeder war vielmehr Sachwalter der objektiv vorgegebenen Ordnung. Ebenso wenig entstand eine ausdifferenzierte öffentliche Gewalt, der gegenüber alles andere als privat hätte gelten können. Herrschaft blieb in Gestalt räumlich, gegenständlich und funktional breit gestreuter, gewöhnlich als Annex von Grundeigentum ausgeübter Hoheitsrechte in die Gesellschaft eingebunden (societas civilis cum imperio).
Eine grundsätzliche Änderung trat erst mit der Glaubensspaltung und den konfessionellen Bürgerkriegen (Konfessionalisierung) ein. Diese waren nur beizulegen, indem eine irdische Instanz die Bürgerkriegsparteien mit Machtvollkommenheit zu friedlicher Koexistenz zwang. Das implizierte nicht allein die Überwindung des polyarchischen mittelalterlichen Herrschaftssystems, sondern auch die der mittelalterlichen Vorstellungswelt fremde Befugnis zur Schaffung einer von der umstrittenen göttlichen Wahrheit unabhängigen neuen Ordnung. Auf die überlegene Einsicht des Herrschers in das Gemeinwohl gegründet, ließ auch diese Ordnung keine Zonen privaten Beliebens zu. Wohl aber entstand eine ausdifferenzierte, funktional auf Ordnungsherstellung und -bewahrung spezialisierte öffentliche Gewalt, die die Politik monopolisierte und die Gewaltunterworfenen auf den Status von Privaten verwies. Für das neuartige Herrschaftssystem kam bald die Bezeichnung Staat auf, dem die Summe der Untertanen als Gesellschaft gegenüberstand, im Unterschied zum Mittelalter aber sine imperio. Damit zerfiel auch die universale Rechtsordnung in einen Teil, der als „öffentlich“ das Verhältnis des Souveräns zu den Untertanen regelte, und einen anderen, der als „privat“ die Beziehungen der Untertanen unter sich betraf. Die Abgrenzung richtete sich nach den Rechtssubjekten: War der Staat als Hoheitsträger beteiligt, lag ö. R. vor. Der Unterschied wurde alsbald folgenreich, indem die absoluten Herrscher versuchten, Streitigkeiten um ö. R. der Justiz zu entziehen und diese auf privatrechtliche und strafrechtliche Verfahren zu beschränken.
Liegt die Wurzel der Trennung von ö.m R. und Privatrecht in der Entstehung des modernen souveränen Staates und seiner Kehrseite, der bürgerlichen Gesellschaft, so wird erklärlich, warum der Dualismus im angelsächsischen Rechtskreis (Anglo-amerikanischer Rechtskreis) fehlt. Die Reformation mündete dort nicht in konfessionelle Bürgerkriege und schuf daher auch keine Notwendigkeit zur Ausbildung des absoluten Fürstenstaates mit Politikmonopol. Sie trug in England umgekehrt zur Stärkung der politischen Vertretung der Gesellschaft bei. Der englische Bürgerkrieg des 17. Jh. war dagegen erst eine Folge der historisch unlegitimierten Absolutheitsansprüche der Stuarts. Ging auf dem Kontinent der Bürgerkrieg dem souveränen Staat voraus und legitimierte diesen als Mittel zur Befriedung der Gesellschaft, so ging in England der souveräne Staat dem Bürgerkrieg voraus und legitimierte diesen als Mittel zur Verhinderung absoluter Gewalt. Nicht in der fehlenden Rezeption des römischen Rechts, sondern in der unterbliebenen Trennung von Staat und Gesellschaft (Staat und Gesellschaft) liegt daher der Grund für die Kontinuität eines Einheitsrechts in England und ihm folgend in Amerika. Da ohne absolute Fürstenmacht auch keine Bestrebungen zur Kompetenzbegrenzung der Justiz aufkamen, sondern die common-law-Gerichte weiterhin Schutz gegenüber der Krone boten, erzwang auch der Rechtsschutz keine Unterscheidung. So wie ein einheitliches Recht bestehen blieb, erhielt sich auch eine einheitliche Gerichtsbarkeit.
3. Öffentliches Recht im konstitutionellen Zeitalter
Der fürstliche Absolutismus fand mit der bürgerlichen Revolution sein Ende, nicht aber der souveräne Staat. Samt seiner Kehrseite, der privatisierten Gesellschaft, wurde er vielmehr durch die Abschaffung des Feudalismus erst jetzt vollendet, zugleich aber den Interessen der Gesellschaft dienstbar gemacht. Dem diente die moderne Verfassung. Unter der liberalen Prämisse, dass das Gemeinwohl die automatische Folge individueller Freiheit sei, lösten sich die verschiedenen Sozialfunktionen von der Politik und gewannen Autonomie. Dadurch entstand erstmals ein gegenständlich definierter Bereich genuiner Privatheit, den der Staat lediglich vor Störungen zu schützen hatte. Auch dazu bedurfte es der Zwangsgewalt. Sie äußerte sich aber nicht mehr in umfassender Gemeinwohlvorsorge, sondern nur noch in punktuellen Eingriffen zur Abwehr von Freiheitsgefahren. Das die Eingriffe regelnde ö. R. und das die Freiheit organisierende Privatrecht blieben also unterscheidbar und vertauschten wie Staat und Gesellschaft lediglich die Rangfolge. Als Unterscheidungskriterium setzte sich nach der Vollendung des staatlichen Gewaltmonopols bei gleichzeitiger Aufgabenreduzierung des Staates die Art der Rechtsbeziehung durch: Wo Über- und Unterordnung herrschte, lag ö. R., wo Gleichordnung herrschte, Privatrecht vor. Diese Kriterien wurden aber alsbald inhaltlich aufgeladen. Privatrecht galt als das Recht der Freiheit, ö. R. als das Recht des Zwangs, dessen Einsatz streng überwacht werden musste. Für die Begrenzung der Justiz auf Privatrecht entfiel damit der Grund. Doch blieb der Dualismus auch organisatorisch erhalten, weil die Verwaltungskontrolle einem eigenen Gerichtszweig übertragen wurde.
Das liberale Sozialmodell vermochte die mit ihm verbundene Verheißung einer gerechteren Ordnung jedoch nur unvollkommen einzulösen. Auf der Kehrseite der Freiheit entstanden vielmehr Klassenspaltung (Klassenkampf) und soziale Frage als die großen Legitimationsprobleme des 19. Jh. Der Sozialismus, der darauf zuerst reagierte, verstand die Trennung von Staat und Gesellschaft und den ihr folgenden Dualismus von Privatrecht und ö.m R. lediglich als Mittel zur Aufrechterhaltung dieses Zustands. Daher kehrte er zu einem aus der Zielhaftigkeit der Geschichte gewonnenen, material definierten Gemeinwohl zurück, in dem die Ursache der Klassenspaltung beseitigt, der Gegensatz von öffentlichen und privaten Interessen aufgehoben und damit letztlich staatliche Herrschaft überhaupt entbehrlich gemacht werden sollte. Damit musste auch der Gegensatz von ö.m R. und Privatrecht in sich zusammenfallen. Für die Übergangszeit bestand aber der von der kommunistischen Partei (Kommunismus) instrumentell genutzte Staat fort, der zwar keine genuine Privatsphäre mehr duldete, aber noch nicht in der Gesellschaft aufging. Insofern blieb auch ein Substrat für die Unterscheidung von ö.m R. und, wie in Abkehr von der liberalen Terminologie betont wurde, Zivilrecht erhalten. Die Differenz wurde in der sozialistischen Rechtstheorie nicht überwunden und hatte im Bereich des Rechtsschutzes auch praktische Konsequenzen.
Dagegen schlugen die westlichen Demokratien einen reformatorischen Weg ein, der im Ergebnis aber die Unterscheidbarkeit von ö.m R. und Privatrecht auf seine Weise infrage gestellt hat. Dabei blieb das Ziel individueller Selbstbestimmung aufrechterhalten, das Mittel wurde aber nicht mehr im laissez faire, sondern wieder in der staatlichen Gemeinwohlvorsorge gesehen. Freiheit blieb dann der Richtwert der Sozialordnung und sorgte so für das Substrat einer genuinen Privatsphäre, die im Privatrecht ihren Ausdruck fand. Die Herstellung und Aufrechterhaltung der freiheitlichen Sozialordnung bedurfte aber ständiger staatlicher Anstrengung, wodurch das ö. R. im Unterschied zum Liberalismus seine Leitfunktion zurückgewann. Die Nahfolge war eine Verengung der Privatautonomie, indem im Privatrecht selbst die Elemente materialer Gerechtigkeit wieder verstärkt wurden und das soziale Kräftegefälle kompensierten. Die Wendung ging aber bald über privatrechtsimmanente Korrekturen hinaus und bewirkte eine immer stärkere Ausdehnung des ö.n R.s zu Lasten des Privatrechts. War das ö. R. in einer Ordnung, die den Staat auf die begrenzte Funktion der Gefahrenabwehr festlegte, im Straf-, Polizei- und Steuerrecht sowie dem öffentlich-rechtlichen Annex des Privatrechts, dem Zivilprozessrecht, aufgegangen, trat nun mit der wachsenden Aufgabenfülle des modernen Wohlfahrtsstaats eine Expansion des Verwaltungsrechts ein, die über das Polizeirecht (Polizei) längst hinausgegangen und noch keineswegs abgeschlossen ist.
4. Die Überwindung des Dualismus im entwickelten Wohlfahrtsstaat
In jüngerer Zeit schlägt die quantitative Ausdehnung der Staatstätigkeit jedoch in eine qualitative Veränderung um. Unter dem Eindruck verschärfter Krisen bei gleichzeitiger Zunahme der Steuerbarkeit sozialer Abläufe beschränkt sich der Staat nicht mehr auf punktuelle und retrospektive Korrekturen und Hilfeleistungen, sondern übernimmt die Globalverantwortung für Wohlstand und Gerechtigkeit, die ihn zu prospektiver und flächendeckender Krisenvorbeugung und Sozialgestaltung zwingt. Diese Aufgabenausweitung ist aber nicht von einer Vergrößerung seiner Machtmittel begleitet worden. Vielmehr hält die Verfassung prinzipiell an der Selbstbestimmung der Individuen und der Autonomie sozialer Subsysteme fest. Die Erfüllung öffentlicher Aufgaben wird dadurch von der Mitwirkung Privater abhängig, ohne dass der Staat diese erzwingen kann. Er muss sich daher auf Aushandlungsprozesse einlassen und zu indirekt wirkenden Motivationsmitteln greifen. Dadurch verwischt sich zum einen die Grenze zwischen öffentlichen und privaten Interessen. Zum anderen lässt sich soziales Handeln nicht mehr eindeutig dem Staat oder der Gesellschaft zurechnen. Zwischen Zonen unbezweifelbarer Privatheit, wo Privatrechtssubjekte privatautonom miteinander verkehren, und Zonen unbezweifelbarer Staatlichkeit, wo Träger öffentlicher Gewalt Privaten mit Befehl und Zwang begegnen, schiebt sich so ein breiter werdender, häufig als neokorporatistisch charakterisierter Sektor, in dem Öffentliches und Privates in ununterscheidbarem Gemenge liegen.
Die Existenz eines solchen Sektors entzieht dem Dualismus von ö.m R. und Privatrecht den Boden. Die Unterscheidung muss vielmehr in dem Maße misslingen, wie sie in der Wirklichkeit keine Entsprechung mehr findet. Gleichwohl nötigt das positive Recht, insb. das Gerichtsverfassungsrecht (Gerichtsbarkeit, Gerichtsverfassung), weiterhin zu exklusiven Zuordnungen. Daraus erklären sich die fortgesetzten Theorieanstrengungen der Rechtswissenschaft. Bei näherem Hinsehen handelt es sich jedoch durchweg um Varianten der überlieferten und auf wechselnde Relationen zwischen Staat und Gesellschaft bezogenen Kriterien. Die Interessentheorie trifft die Unterscheidung in Anlehnung an die Ulpiansche Formel danach, ob ein Rechtssatz primär dem Interesse des Einzelnen oder dem der Allgemeinheit dienen soll. Die Subjektions– oder Subordinationstheorie sieht das Kriterium des ö.n R.s in der Unterordnung eines Rechtssubjekts unter die Staatsgewalt, das Kriterium des Privatrechts in der Gleichordnung der Rechtssubjekte. Die heute vorherrschende Zuordnungs-, Sonderrechts- oder neuere Subjektstheorie schlägt zum ö.n R. alle Normen, die ausschließlich einen Träger öffentlicher Gewalt berechtigen oder verpflichten, während Privatrecht dadurch charakterisiert ist, dass es sich an beliebige Rechtssubjekte wendet. Die sogenannte prinzipienerfüllte Subjektstheorie zählt in Anlehnung an die liberalen Vorstellungen alle der Privatautonomie Ausdruck verleihenden Rechtsnormen zum Privatrecht, während die sekundären, autonomiesichernden Normen zum ö.n R. gehören.
Insoweit es nach wie vor Zonen unbezweifelbarer Privatheit und ebensolche unbezweifelbarer Öffentlichkeit gibt, erbringen sämtliche Theorien Abgrenzungsleistungen. Angesichts des schwindenden Dualismus löst aber keine ihren Anspruch exklusiver und trennscharfer Einteilung des gesamten Rechtsstoffs ein – die Interessentheorie nicht, weil öffentliche und private Interessen weniger denn je auseinanderfallen; die Subjektionstheorien nicht, weil der Staat der Gesellschaft nicht mehr allein oder nur überwiegend aus der Position des übergeordneten Hoheitsträgers begegnet; die Subjektstheorie nicht, weil sie die staatliche Qualität eines Entscheidungsträgers oder Zurechnungssubjekts voraussetzt, die angesichts der neokorporatistischen Strukturen (Korporatismus) ihrerseits zweifelhaft geworden ist; die wertgebundene Theorie nicht, weil bei Weitem nicht mehr die gesamten Beziehungen der Privatleute untereinander von dem Grundsatz der Privatautonomie durchdrungen sind. Die Rechtswissenschaft müsste sich aber klarmachen, dass das Ungenügen sämtlicher Abgrenzungstheorien nicht auf Denkschwäche, sondern auf Gegenstandsveränderungen beruht. Insofern bildet die Grenzfrage nur einen kleinen Ausschnitt des größeren Problems der Identität des Staates und der Definition des Öffentlichen (Öffentlichkeit). Diese Einsicht müsste bereichsspezifisch differenzierenden Regelungen und funktional bestimmten Lösungen den Weg bahnen, wo klare Abgrenzungen nicht mehr möglich sind.
5. Öffentliches Recht unter den Bedingungen internationalisierter öffentlicher Gewalt
Inzwischen ist das ö. R. abermals in ein neues Entwicklungsstadium eingetreten. Dieses Stadium ist durch den Zerfall der jahrhundertealten Identität von öffentlicher Gewalt und Staatsgewalt und die Entstehung von öffentlicher Gewalt jenseits der Staaten charakterisiert. Ihre Träger sind supranationale Einrichtungen (Supranationalität), die sich von den traditionellen internationalen Organisationen eben dadurch unterscheiden, dass die Staaten ihnen einen Teil ihrer Hoheitsrechte abgetreten haben, die sie nun mehr oder weniger unabhängig von den Staaten, aber mit Wirkung ihnen gegenüber ausüben. Die Entwicklung hat mit der Gründung der Vereinten Nationen eingesetzt, ist seitdem aber weiter fortgeschritten und findet in der EU mit ihrer Fülle von Hoheitsrechten, die nicht nur wie bei der UNO anlassbedingt gegenüber einzelnen Staaten, sondern unausgesetzt und mit direkter Wirkung in sämtlichen Mitgliedstaaten ausgeübt werden, ihren vorläufigen Kulminationspunkt. Was die supranationalen Einrichtungen weiterhin von Staaten unterscheidet, ist der Umstand, dass sie nur einzelne, ausdrücklich übertragene Aufgaben wahrnehmen und auch nur über die zur Erfüllung dieser Aufgaben nötigen Hoheitsrechte verfügen, während die Staaten ihre Aufgaben weiterhin im Wesentlichen selbst bestimmen und nicht nur vereinzelte Hoheitsrechte, sondern Souveränität innehaben, die auch die Befugnis zur Auflösung oder Veränderung der supranationalen Einrichtungen einschließt. Ihre öffentliche Gewalt ist gegenständlich umfassend, aber räumlich begrenzt, die der supranationalen Einrichtungen ist staatenumspannend, bisweilen territorial unbegrenzt, aber gegenständlich fragmentiert.
Für das ö. R. hat das erhebliche Folgen. Seine innere Einheit sinkt weiter. Sie wohnt ja dem von Natur aus disparaten Rechtsstoff nicht inne, sondern wird durch Interpretation und Systembildung an ihn herangetragen. Schon Otto Mayer hatte sein imponierendes öffentlich-rechtliches Gebäude nur errichten können, weil er alle nichthoheitlichen Tätigkeiten des Staates bei der Systembildung überging. Das rapide Wachstum dieser Tätigkeiten im 20. Jh. sprengte das klassische System. Nun tritt zum nationalen Recht überdies eine steigende Zahl von Rechtsnormen aus nichtstaatlichen Quellen hinzu. Das Maß an Einheit, welches das Recht von seiner Herkunft aus einer staatlich geprägten Rechtsstruktur empfing, erstreckt sich nicht auf das Recht externer Herkunft. Für das nationale Recht wirkt dieses vielmehr zunächst als Fremdkörper. Das internationale Recht speist sich aus verschiedenen nationalen Quellen und entwickelt überdies eigenständige Formen und Lösungen. Die damit verbundene Pluralisierung beschränkt sich nicht auf das positive Recht. Sie erfasst auch rechtliche Institutionen, Methoden, Vorverständnisse und sogar Prinzipien. So gehen mit dem Begriff &pfv;„Rechtsstaat“ und seinen sprachlichen Äquivalenten in verschiedenen Ländern sehr unterschiedliche inhaltliche Vorstellungen einher. Die Disparität des Stoffs wächst, und im selben Maß wächst die Schwierigkeit, ihn als Einheit zu konstruieren.
Erschwert wird aber auch die Grenzziehung nach außen gegenüber Recht, das nicht als ö. R. angesehen wird. Die Grauzonen und schleichenden Übergänge zwischen ö.m R. und Privatrecht dehnen sich aus. Hybridformen und Verweisungen zwischen verschiedenen Rechtsgebieten nehmen zu. Für die rechtliche Lösung bestimmter Probleme gibt es immer häufiger Wahlmöglichkeiten zwischen öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Formen. Ja, nationales Recht, in dem die Unterscheidung zwischen ö.m R. und Privatrecht tief verwurzelt ist, trifft auf Rechtsordnungen, in denen dieser Unterschied nicht Fuß gefasst hat. Das gilt z. B. aus angebbaren historischen Gründen für angelsächsische oder vom englischen Recht beeinflusste Rechtsordnungen. Hier werden die Unterscheidungen im Recht auf einer niederen Abstraktionsebene getroffen und stärker vom Regelungsgegenstand her bestimmt. Es gibt dann Verwaltungsrecht, Steuerrecht, Kartellrecht, Erbrecht usw., aber keine Zweiteilung oberhalb dieser Gebiete. Meist entfällt in diesen Rechtsordnungen auch der von der Existenz verschiedener Rechtswege ausgehende Zwang, eine Rechtsnorm entweder dem ö.n R. oder dem Privatrecht zuzuordnen. Jedes Gericht ist für alle Rechtsgebiete zuständig. Die Spezialisierung findet anders als im civil law auf der anwaltlichen Ebene, nicht auf der justiziellen statt.
6. Zukunftsfähigkeit
Die von Zeit zu Zeit auftauchende Frage, ob es sinnvoll ist, an der Kategorie des ö.n R.s festzuhalten, stellt sich deswegen heute mit neuer Dringlichkeit. Die Antwort hängt davon ab, ob die Kategorisierung noch eine Entsprechung im Gegenstand findet und ob die Weiterverwendung der Kategorie ö. R. einen Mehrwert gegenüber der bloßen Sachbereichs-Einteilung besitzt. Was zunächst den Gegenstand betrifft, so ist zwar die durch den Staatsbezug vermittelte Entsprechung entfallen. Es bleibt aber der Bezug bestimmter Normenkomplexe zur öffentlichen Gewalt. Auch in demjenigen Recht, welches nicht aus staatlichen Quellen stammt, aber das Recht aus staatlichen Quellen überlagert, modifiziert oder verdrängt, gibt es Portionen, die sich auf die Legitimierung und Regulierung von Herrschaft beziehen. Sie dürfen freilich nicht nach dem staatlichen Institutionen- und Formenmuster definiert werden, sondern müssen auch hybride Institutionen und weiche Formen der Gewaltausübung umfassen. An der Regelungsbedürftigkeit von öffentlicher Gewalt hat sich durch den Zerfall der Einheit von öffentlicher Gewalt und Staatsgewalt nichts geändert. Konsequenterweise haben sich auch einige rechtsordnungsübergreifende Grundsätze für die Herrschaftsausübung herausgebildet, so die rechtsstaatliche Ausübung von Herrschaft und die Begründungsbedürftigkeit von Herrschaftsakten, die Achtung aller der Herrschaft Unterworfenen als Personen gleicher Dignität, die Mäßigung durch Verhältnismäßigkeitsanforderungen (Verhältnismäßigkeit). Über den Herrschaftsbezug lässt sich auch im internationalisierten Recht noch ein Unterscheidungsmerkmal gewinnen und ein Zusammenhang stiften, der Rationalitätsgewinne bei der Erfassung, Durchdringung und Anwendung des Rechts verspricht.
Literatur
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Empfohlene Zitierweise
D. Grimm: Öffentliches Recht, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/%C3%96ffentliches_Recht (abgerufen: 21.11.2024)