Rechtsphilosophie: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 14. November 2022, 05:59 Uhr

1. Sache, Begriff und Wort

Die R. sucht nach Erkenntnis des Rechts. Das tun aber auch die Rechtsgeschichte oder die Rechtssoziologie als weitere Teildisziplinen der Rechtswissenschaft. Während letztere jedoch auf ein einzelnes Verhältnis des Rechts, wie Recht und Geschichte oder Recht und Gesellschaft beschränkt bleiben, sucht die R. nach einer umfassenden Perspektive auf das Recht in all seinen Zusammenhängen, also nach einer Perspektive auf das Recht im Rahmen der Welt als Ganzes. Diese philosophische, nicht vereinzelnde Perspektive auf das Recht schneidet das Recht nicht aus seinem Zusammenhang als Teil der Welt. Die R. ist folglich auch Teildisziplin der Philosophie, so wie etwa die Naturphilosophie. Die R. sucht mit allen möglichen Methoden nach einer umfassenden Einsicht in das Recht, wobei juristisch-dogmatische, historische, soziologische, psychologische, ethnologische und alle anderen Teilerkenntnisse des Rechts berücksichtigt werden.

Das Wort „R.“ tauchte im Deutschen zum ersten Mal zu Beginn des 18. Jh. auf und sollte zunächst gegenüber den älteren Bezeichnungen „Naturrecht/ius naturae“, „politische Philosophie/philosophia politica“ und „Moralphilosophie/philosophia moralis“ eine stärker am geltenden Recht und der Rechtsdogmatik (Dogmatik) orientierte Wissenschaft bezeichnen. Diese Beschränkung hat das Wort im Laufe des 19. Jh. verloren. Während es bis ins 20. Jh. bei manchen Autoren – etwa Gustav Radbruch und Arthur Kaufmann – auf die praktische Philosophie des Rechts, also die „Lehre vom richtigen Recht“, d. h. die Rechtswertbetrachtung bzw. Rechtsethik begrenzt blieb, besteht auch diese Einschränkung heute nicht mehr. Das Wort „R.“ umfasst mittlerweile neben der Rechtsethik auch die Rechtstheorie als theoretische Philosophie des Rechts und die Geschichte der R.

2. Geschichte der Rechtsphilosophie

Vor Entstehen der Philosophie bzw. Wissenschaft wurden vielfach Mythen von Göttern zur Erklärung des Rechts erzählt. So war etwa die Titanin Themis, eine Tochter von Uranos und Gaia und zweite Gattin des Zeus, für die Setzung und Deutung des Rechts verantwortlich. Ihre Tochter, Dike, sollte dann Recht und Gerechtigkeit zu den Menschen bringen. Sie liegt im Streit mit den Göttern des Krieges (Eris), der Gewalt (Bia) und des Hochmuts (Hybris). Religiöse Kulthandlungen und Rechtsprechung waren ineinander verwoben. Hesiod gebrauchte zum ersten Mal einen von diesen Göttervorstellungen abgesonderten, sachlichen Begriff des Rechts in einem sehr weiten Sinn (einschließlich der Moral): Nomos. Die Philosophie bzw. Wissenschaft beginnt im 6. Jh. v. Chr. mit einer stärker rationalen, immanenten Phänomen- und Welterklärung. Das früheste wörtliche Prosazitat stammt von Anaximander: „Anfang und Ursprung der seienden Dinge ist das Apeiron [das grenzenlos Unbestimmbare]. Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht auch ihr Vergehen nach der Schuldigkeit [Notwendigkeit]; denn sie zahlen einander gerechte Strafe und Buße [gewähren Ausgleich] für ihre Ungerechtigkeit nach der Zeit Anordnung“ (Diels/Kranz 1934: B 1). Anaximander bringt hier eine Art allg.es Naturgesetz zum Ausdruck. Man denke an das Warme, das sich aus dem Kalten entwickelt und dann wieder kalt wird. Will man diesen Satz auf das Recht beziehen, so ergibt sich eine quasi-naturgesetzliche Rechtsvorstellung der Gegenseitigkeit, der Vergeltung von Unrecht, vergleichbar dem „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ des AT.

Heraklit hat das Recht als Streit bzw. Krieg bezeichnet, hatte aber auch die Vorstellung eines weltumspannenden, ewigen, natürlichen und göttlichen Nomos: „Es ist notwendig, dass die, die mit Einsicht sprechen, sich mit dem, was allen gemeinsam ist, stärken, so wie es eine Polis mit dem Nomos macht, und noch viel stärker. Alle menschlichen Nomoi werden nämlich durch den einen göttlichen ernährt. Seine Herrschaftsgewalt erstreckt sich, soweit er will, und er ist für alles ausreichend und übertrifft alles“ (Diels/Kranz 1934: 22 B 49). Heraklit hat hier zum ersten Mal klar einen naturrechtlichen, göttlichen und überpositiven Nomos von einem positiven, menschlichen Nomos unterschieden.

Die Sophisten prägten als fahrende, für Geld unterrichtende Weisheitslehrer die griechische Philosophie des 5. Jh. v. Chr. Ihre Tätigkeit wirkte kritisch und aufklärend. Sie stellten den Menschen in den Mittelpunkt, etwa im sog.en homo-mensura-Satz des Protagoras: „Aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, dass [wie] sie sind, der nicht seienden, dass [wie] sie nicht sind“ (Diels/Kranz 1935: 80 B 1). Fraglich ist die Stärke der Skepsis dieses Satzes. Strittig ist auch, ob der einzelne Mensch gemeint ist oder der Mensch als solcher. Entscheidend ist jedenfalls die Praxisorientierung. Bzgl. der Volksversammlungen und Gerichte über Leben und Tod kann man den Satz nicht nur erkenntnistheoretisch, sondern auch politisch verstehen. Jedenfalls wird ein gewisses Maß an Subjektivismus und Relativismus behauptet. Die naturrechtliche und göttliche Ordnung der Gegenseitigkeit bei Anaximander und Heraklit stellt etwa auch folgender Satz in Frage: „[…] Gerechtes und Ungerechtes, Heiliges und Unheiliges, was wohl jede Polis als solche erachtet und sich als Gesetz gibt, das ist es auch für jede Polis in Wahrheit; und in diesen Angelegenheiten ist weder ein Privatmann weiser als ein anderer noch eine Polis weiser als eine andere“ (Plat. Theait. 172a). Das bedeutet, dass nichts von Natur aus einen Wert hat, sondern nur das, was gemeinsam beschlossen wurde, für die Zeit, in der es in Geltung ist.

Sokrates war in vielen seiner Argumente den Sophisten ähnlich. Aber er war Athener Bürger, nahm kein Geld für sein Philosophieren und wurde so zum Philosophen in einem engeren, gegen die Sophisten gerichteten Sinn. Er wurde 399 v. Chr. wegen Verderbung der Jugend und Einführung neuer Götter zum Tode verurteilt, lehnte aber das Angebot, aus dem Gefängnis zu fliehen, mit dem Argument ab, die Nomoi der Polis seien wie Vater und Mutter. Selbst im Falle einer falschen Verurteilung dürfe man nicht Widerstand leisten. Im Übrigen schließe man durch die Beteiligung an der Polis eine Art Vertrag, den man nicht brechen dürfe. Die Gerechtigkeit war für Sokrates eine Frage der persönlichen Tugend. Man solle lieber Unrecht leiden als Unrecht tun.

Spätestens seit Platon wurde das Recht über spezifische Ziele von anderen sozialen Phänomenen abgegrenzt. Die Mittel zur Erreichung dieser Ziele spielten dagegen bis in die Neuzeit nur eine untergeordnete Rolle. Für Platon ist in der „Politeia“ sowohl das höchste individuelle Lebensziel als auch das höchste Ziel von Recht und Politik das Gute. Die Gerechtigkeit ist ein Teil davon. Beide Ziele versteht er als ewige, unzerstörbare, überempirische Formen bzw. Ideen, an denen alles menschliche Handeln sich orientieren muss, um gut bzw. gerecht zu sein. Dabei kommt der Gerechtigkeit nach Platon eine doppelte Rolle zu. Sie ist zum einen im Kleinen individuelle Tüchtigkeit bzw. Tugend, zum anderen im Großen Strukturprinzip der politischen Gemeinschaft und damit auch Prinzip aller rechtlichen Regelungen. Als individuelle Tüchtigkeit umfasst die Gerechtigkeit die Tugenden der Klugheit, des Muts und der Mäßigkeit. Als Strukturprinzip der politischen Gemeinschaft bestimmt sie v. a. die Beiträge jedes einzelnen zu dieser Gemeinschaft. Platons zentrales Prinzip der Gerechtigkeit ist ein solches der Gerechtigkeit des jeweiligen Beitrags und lautet: Jeder soll das Seine tun (433a ff.). D. h.: Jeder soll gemäß seinen Fähigkeiten zur politischen Gemeinschaft beitragen und sich nicht mit allem beschäftigen. Der Bauer soll also etwa Nahrungsmittel erzeugen, der Zimmermann Schiffe bauen, der Kaufmann Waren vertreiben. Verwaltung und Politik sollen einer bes. ausgebildeten Gruppe von Beamten (Wächtern) vorbehalten bleiben, an deren Spitze Herrscher mit wissenschaftlicher und philosophischer Ausbildung stehen (was häufig zu eng als „Philosophenkönige“ übersetzt wird). Politik und Recht sollen nach Platon also in letzter Instanz einer Expertokratie anvertraut werden, welche nach einem sehr langen, straffen und im letzten Abschnitt wissenschaftlich-philosophischen Bildungsgang das Gute sowie Gerechte für die politische Gemeinschaft und damit für jeden einzelnen Bewohner der Polis erkennen soll. In seinem stärker anwendungsorientierten Spätdialog „Nomoi“ betont Platon dann allerdings die Notwendigkeit von Gesetzen als allg.en Regeln der politischen Gemeinschaft, wobei er aber einen göttlichen Ursprung annimmt.

Aristoteles hat das Gute als oberstes Ziel von Politik und Recht nicht aufgegeben. Aber er interpretiert es anders als Platon. Aristoteles schiebt in der „Nikomachischen Ethik“ zwischen das Gute als oberstem Handlungsziel bzw. Wert sowie die Gerechtigkeit die „eudaimonia“, also wörtlich das „Haben eines guten Geistes/Dämon“ ein (NE 1095a). Das griechische Wort wird häufig – allerdings zu einschränkend – mit „Glückseligkeit“ oder „Glück“ übersetzt. Nach Aristoteles erstrebt jeder Mensch diese eudaimonia. Sie liegt in der Tätigkeit der Seele gemäß ihrer bes.n Tüchtigkeit der Vernunft (Vernunft – Verstand). Eine wesentliche Tüchtigkeit bzw. Tugend ist dabei das gute Handeln gegenüber Anderen bzw. in der Gemeinschaft: die Gerechtigkeit. Aristoteles unterscheidet zwischen der Gerechtigkeit im umfassenden, allg.en Sinn der ethischen Berücksichtigung bzw. Behandlung Anderer und der spezifischeren partikularen Gerechtigkeit mit dem Ziel der Gleichheit. Die umfassende, allg.e Gerechtigkeit kann sich auf alle möglichen Tugenden und Handlungen beziehen, während sich die Gerechtigkeit der Gleichheit auf die Verteilung von Gütern und Würden beschränkt. „Gleichheit“ bedeutet dabei nicht absolute Gleichheit, sondern verhältnishafte Verteilung nach einem gerechten Maßstab. Aristoteles spricht an einer Stelle auch davon, dass „jeder das Seine haben soll“ (NE 1133 b3), greift also Platons Gerechtigkeitsprinzip in einer individualistischen Formulierung auf. Für Politik und Recht betont Aristoteles weiterhin in seiner „Politik“ das Ziel des Gemeinwohls.

In der lateinischen Antike hat Cicero in „De Legibus“ die Gerechtigkeit ebenfalls als Ziel des Rechts bezeichnet. Daneben tritt für die politische Gemeinschaft in noch stärkerem Maße als bei Aristoteles das Gemeinwohl. Augustinus hat dann die Notwendigkeit der Gerechtigkeit als Ziel des Rechts in folgende berühmte, naturrechtliche Frage gekleidet: „Was anderes sind also Reiche, wenn ihnen die Gerechtigkeit fehlt, als große Räuberbanden?“ (Augustin. civ. IV, 4). Und das „Corpus Iuris Civilis“, die Sammlung des Römischen Rechts, die der oströmische Kaiser Iustinian im Jahre 533 n. Chr. veröffentlichen ließ und die zum wirkungsmächtigsten Rechtsbuch des Abendlandes wurde, beginnt im ersten Teil, den sog.en Institutionen, mit einer Definition der Gerechtigkeit: „Gerechtigkeit ist der unwandelbare und dauerhafte Wille, jedem sein Recht zu gewähren“ („Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi“). Die zentrale Gerechtigkeitsbestimmung bei Platon und Aristoteles („Jeder soll das Seine tun.“/„Jeder soll das Seine haben.“) hat sich also in der einflussreichsten Rechtssammlung des Abendlandes niedergeschlagen.

Im Mittelalter definierte dann Thomas von Aquin das Gesetz bzw. Recht im weiten Sinn, einschließlich der Naturgesetze (lex) als „eine Anordnung der Vernunft für das Gemeinwohl, erlassen und öffentlich bekanntgegeben von dem, der die Sorge für die Gemeinschaft innehat“ (STh II-I, 90). Das Ziel ist demnach das Gemeinwohl, die Mittel die Anordnung und die Bekanntgabe. Aber Thomas nennt in der Folge auch die Gerechtigkeit als konkreteres Ziel des positiven Rechts.

Ab dem 16. und 17. Jh. gingen die Gewissheiten des christlichen Weltbildes allmählich zurück. Parallel dazu schwächte sich das angenommene Ziel des Rechts ab: Das Gute, die Gerechtigkeit, die Glückseligkeit und das Gemeinwohl wurden von vielen Autoren nicht länger als hauptsächliche Ziele des Rechts und der Politik angesehen. Weniger umfassende und damit anspruchsvolle Ziele sowie die Mittel des Rechts nahmen dagegen an Bedeutung zu.

Niccolò Machiavelli ordnet bereits zu Beginn des 16. Jh. in der Schrift „Der Fürst“ dem Ziel der Erhaltung der politischen Gemeinschaft, also der Staatsräson, alle anderen politischen und damit auch rechtlichen Ziele unter. Thomas Hobbes schlägt dann 1651 im „Leviathan“ ein bereits stark reduziertes, aber immerhin noch spezifisches und einheitliches Ziel von Politik und Recht vor: die Sicherung der Selbsterhaltung der Bürger. Jedoch stellt er bei der Bestimmung des Gesetzes bzw. Rechts bereits das Mittel des Befehls ins Zentrum. Samuel von Pufendorf favorisiert als wesentlicher Vertreter des Naturrechts allerdings 1672 wieder gemäß der Tradition bei Platon und Aristoteles das Gute, die Gerechtigkeit und das Gemeinwohl als Ziel des Rechts. John Locke nimmt 1690 als spezifisches Ziel von Politik und Recht die Erhaltung des Eigentums an – und zwar verstanden in einem weiten Sinn, der das Leben und die Freiheit der Menschen einschließt, nicht nur die materiellen Güter.

Im 18. Jh. trat dann bei den meisten Denkern das individualistische und aufklärerische Ziel der Freiheit in den Vordergrund. Bereits Charles-Louis de Montesquieu nennt in seinem Werk „Vom Geist der Gesetze“ von 1748 neben vielen natürlichen und kulturellen Faktoren, welche die Gesetze faktisch und kausal beeinflussen, die Freiheit als einziges Ziel von Politik und Recht. Und Jean-Jacques Rousseau beginnt das erste Kapitel seines Hauptwerks „Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts“ von 1762 mit den Worten: „Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten“ (Rousseau 2010: 8 f.). Neben die Freiheit tritt bei ihm aber auch die Gleichheit als Ziel. Und zu Beginn seines Buches proklamiert er die Verbindung von Gerechtigkeit und Nutzen. Johann Gottlieb Fichte sieht 1796 die Freiheit als erste Bedingung selbstbewusster Vernünftigkeit an. Das Recht dient der Vermittlung von Freiheitsansprüchen. Und Immanuel Kant definiert 1797 das Recht beschränkt und liberal als den „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen unter einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“ (Kant 1914: 230). Auch für Georg Wilhelm Friedrich Hegel war 1821 wie für I. Kant und J. G. Fichte das notwendige Ziel des Rechts die Freiheit, allerdings nicht im liberalen kantischen Verständnis als äußere Entscheidungs- und Handlungsfreiheit, sondern in einem objektivierend-ethischen und gemeinschaftlichen Sinn: „Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so dass die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweite Natur, ist“ (Hegel 1986: 46).

Im Gefolge des wissenschaftlichen Positivismus und Skeptizismus war die zweite Hälfte des 19. Jh. und das 20. Jh. durch eine Vervielfachung und zunehmende Negierung von spezifischeren Zielen des Rechts gekennzeichnet. Im deutschen Sprachraum definierte etwa Rudolf von Jhering das Recht mit Bezug auf Mittel, nämlich als Inbegriff der in einem Staate geltenden Zwangsnormen. Norm und Zwang waren für ihn die entscheidenden Mittel des Rechts. R. von Jhering nannte an einer anderen Stelle allerdings auch noch einen Zweck des Rechts, wenn auch einen sehr relativen und wenig spezifischen: die Sicherung der Lebensbedingungen der Gesellschaft. In England charakterisierte John Austin 1832 das Recht vollkommen rechtspositivistisch und in der Nachfolge von T. Hobbes als sanktionierte Befehle. Auch Hans Kelsen kennt kein notwendiges bes.s Ziel des Rechts mehr, sieht man einmal von dem unspezifischen Ziel der Handlungsnormierung ab. Und Herbert Lionel Adolphus Hart erwähnt nur en passant das vergleichbare Ziel der Handlungsregulierung, das viele andere menschliche Handlungen ebenfalls verfolgen. Selbst dieses sehr allg.e Ziel wurde jedoch von einigen extrem positivistischen Vertretern des sog.en Skandinavischen Rechtsrealismus nicht mehr akzeptiert. Für sie dient das Recht nur der quasi-mechanischen Verhaltensbeeinflussung. So wie ein umgestürzter Baum die Verkehrsteilnehmer rein tatsächlich dazu veranlasst, eine andere Route einzuschlagen, so soll das Recht rein tatsächlich bestimmte Handlungen bei den Bürgern auslösen.

Als Gegenbewegung findet sich aber auch eine Renaissance antiker bzw. vorneuzeitlicher Ziele des Rechts: Als wichtigster deutschsprachiger Rechtsphilosoph des 20. Jh. sah G. Radbruch wieder die Gerechtigkeit als notwendiges Ziel bzw. „Idee“ des Rechts an. Die Gerechtigkeit in einem allg.en Sinne umfasst für ihn drei Unterziele: a) die Gerechtigkeit im engeren Sinn formaler Gleichheit, b) die Zweckmäßigkeit und c) die Rechtssicherheit. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte Deutschland für mehr als ein Jahrzehnt eine Renaissance des Naturrechts und damit eine Rückkehr inhaltlich anspruchsvoller, notwendiger Ziele des Rechts. Dann wurde aber auch die deutsche Diskussion wieder vielgestaltiger. Immerhin folgt aber noch am Ende des 20. Jh. A. Kaufmann seinem Lehrer G. Radbruch in der Annahme der Gerechtigkeit als notwendigem Ziel des Rechts.

Im angelsächsischen Raum hat John Rawls 1970 in seinem Buch „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ als zentrales Ziel der Politik und des Rechts wieder die Gerechtigkeit zu Grunde gelegt. Zur Etablierung einer gerechten Gesellschaft sollen in einer fiktiven Ursprungssituation unter einem Schleier des Nichtwissens vernünftige, idealtypische Bürger zwei Gerechtigkeitsgrundsätze wählen: „1. Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist. 2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, daß (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, daß sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen“ (Rawls 1979: 81). Im Übrigen haben auch in der angelsächsischen Welt einzelne Autoren eine Rückkehr zum Naturrecht propagiert. So formulierte etwa John Finnis sieben voneinander unabhängige Höchstwerte: Leben, Erkenntnis, Spiel, Schönheit, Freundschaft, praktische Vernunft, Religion. Einen Mittelweg zwischen dem positivistischen Verzicht auf ein spezifisches Ziel des Rechts und der nichtpositivistischen bzw. naturrechtlichen Annahme eines solchen spezifischen Ziels hat der amerikanische Rechtsphilosoph Lon Fuller eingeschlagen: Er identifiziert acht formale Fehler der Rechtssetzung, deren Vermeidung allerdings eher Mittelcharakter hat: keine Regelbildung, keine Bekanntmachung, Missbrauch rückwirkender Gesetzgebung, Unverständlichkeit, Widersprüchlichkeit, Unfähigkeit der Befolgung durch die Verpflichteten, mangelnde Konstanz, Widerspruch zwischen der Bekanntgabe von Regeln und ihrer faktischen Durchführung.

3. Rechtstheorie: Was ist Recht?

Die Rechtstheorie analysiert und beschreibt die fundamentalen Strukturen des Rechts im Zusammenhang mit anderen Phänomenen der Welt, seine Begriffsprägung einschließlich der Frage des Rechtsbegriffs, seine Erkenntnisgewinnung inkl. der Rechtsquellenlehre, seine Sprachverwendung, seine Normlogik, seine implizite Handlungstheorie und seine System- und Institutionenbildung sowie den Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft und die Geschichte der theoretischen Philosophie des Rechts. Dabei spielen philosophische Nachbardisziplinen und ihre einzelwissenschaftlichen Pendants eine Rolle, also etwa Politische Philosophie und Politikwissenschaft, Sprachphilosophie und Linguistik, Logik und Mathematik, Handlungstheorie und Entscheidungspsychologie. Die Rechtstheorie klärt über die Instrumente der Rechtssetzung und Rechtsanwendung auf, z. B. über die logische und sprachliche Funktion von Rechtssätzen. Sie findet ihre Verbindung zum geltenden Recht zum ersten in der Rechtspolitik, zum zweiten in der juristischen Methodenlehre, also in der Methodenreflexion zur Anwendung des Rechts in Gerichtsurteilen, Verwaltungsentscheidungen usw., sowie schließlich in der Rechtsvergleichung. Historisch markiert der Begriff der Rechtstheorie seit dem 19. Jh. bei manchen Autoren eine weniger idealistische und philosophiekritische Auffassung vom Recht, die dann häufig in einen Positivismus, also eine Beschränkung auf das tatsächlich geltende Recht führte.

H. Kelsen hat für das Recht einen Stufenbau, also eine Hierarchie von Normen als notwendig erachtet. Der letzte Grund soll in einem strikten Dualismus zwischen Sein und Sollen liegen. Tatsachen und Wertungen bzw. Verpflichtungen sollen unüberbrückbar getrennt sein. Die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen sei nicht weiter analysier- oder erklärbar, sondern unserem Bewusstsein unmittelbar gegeben. Die Normen des Rechts seien keine empirischen Tatsachen, sondern gehörten dem Bereich des Sollens an. Um vom subjektiven Wollen einzelner Rechtssetzer und Rechtsanwender zum objektiven Sollen der Rechtsnormen zu gelangen, sei ein anderes Sollen, also eine andere übergeordnete Norm als Deutungsschema notwendig. Zur Legitimation der Verfassung müsse eine Grundnorm als „transzendental-logische Bedingung“ bzw. nach späterer Auffassung „Fiktion“ angenommen werden. Moderne Rechtssysteme schreiben jedoch vielfach auch eine inhaltliche Verbindung der Normen verschiedener Hierarchiestufen vor. Nur eine inhaltliche Verbindung kann überdies die Funktionen der Demokratie, der sachangemessenen Abstraktheit und Konkretheit sowie der Rationalisierung der Entscheidung durch Rückgriff auf höhere oder niedere Ebenen ermöglichen. Im Übrigen benötigt das Recht in allen Entscheidungen externe Legitimität.

H. L. A. Hart hat angenommen, dass zumindest entwickelte Rechtsordnungen ein zweistufiges Regelsystem aus primären und sekundären Regeln darstellen. Gesellschaften, in denen nur primäre Regeln existieren, seien lediglich als kleine Gesellschaften in einer stabilen Umwelt denkbar. Recht aus bloßen Primärregeln sei relativ unbestimmt, statisch und unwirksam. Zur Behebung dieser Mängel hat das Recht drei Arten sekundärer Regeln entwickelt: Erkenntnisregeln, Änderungsregeln und Entscheidungsregeln. Die Erkenntnisregel ist notwendig, um die anderen Regeln eines Rechtssystems zu identifizieren, enthält also als höchste, faktisch bestehende soziale Regel die Kriterien zur Feststellung der Existenz bzw. Gültigkeit der Primärregeln. Bei den sekundären Regeln soll es sich um ein soziales Faktum der Anerkennung, v. a. durch die Rechtsanwender, also die Richter, Beamten, aber auch durch Privatpersonen handeln. Ronald Dworkin hat die Notwendigkeit der Ergänzung von Regeln des Rechts durch Prinzipien behauptet. Während Regeln Alles-oder-Nichts-Verpflichtungen aussprechen, also strikt normieren, sollen Prinzipien eine Abwägung erlauben und so moralische Werte in das Recht integrieren.

Man kann aber das Recht nicht nur über seine Mittel spezifizieren, denn alle vorgeschlagenen Typen von Mitteln können ebenso Mittel nicht-rechtlicher Sozialsysteme sein. Das menschliche Recht hat als notwendiges Ziel und daher als notwendige Eigenschaft das Ziel der Vermittlung zwischen möglichen gegenläufigen, widerstreitenden Belangen aller Betroffenen. Die Verfassung vermittelt etwa zwischen grundlegenden Lebensvorstellungen der Menschen, die Gesetze zwischen unterschiedlichen allg.en Belangen, die Urteile der Richter zwischen den Interessen der Parteien im einzelnen Streit, die Verwaltungshandlungen der Beamten zwischen dem bes.n Wollen einzelner Bürger und/oder den Interessen der Allgemeinheit. Das notwendige Ziel der Vermittlung ist weniger anspruchsvoll als die berühmte Formel, welche G. Radbruch nach dem Zweiten Weltkrieg 1946 in einem Aufsatz formulierte und welche die Gerichte in der Folge zur Beurteilung nationalsozialistischen Rechts herangezogen haben. Diese sog.e Radbruch’sche Formel lautet: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges Recht‘, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur“ (Radbruch 1999: 216).

Mit Hilfe des notwendigen Ziels der Vermittlung möglicher gegenläufiger, widerstreitender Belange lässt sich das Recht von vielen anderen sozialen Handlungen bzw. Tatsachen abgrenzen, etwa der Macht, der Gewalt, dem Krieg usw. Aber manche soziale Handlungen, Tatsachen oder Institutionen haben dasselbe oder zumindest ein ähnliches Ziel. Von diesen anderen sozialen Tatsachen mit einem gleichen oder ähnlichen Ziel kann sich das Recht nur durch die Verwendung bes.r Mittel unterscheiden. Das Recht enthält etwa anders als Konventionen (z. B. Essenssitten) auch kategorische Verpflichtungen, anders als die Moral ausschließlich externe Quellen und Mittel, anders als die Politik eine gewisse Formalität und ist – sofern von dieser getrennt – anders als die Religion potentiell rein immanent. Das Recht ist also ein soziales Phänomen mit dem Ziel der Vermittlung zwischen möglichen gegenläufigen, widerstreitenden Belangen und den Mitteln der Kategorialität, Externalität, Formalität sowie Immanenz.

Wie verhält sich das Recht zu Moral und Ethik? Die moderne Rechtstheorie hat die alte Kontroverse zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus so formuliert: Sind Recht und Moral bzw. Ethik begrifflich bzw. analytisch und daher notwendig verbunden (Verbindungsthese) oder sind sie begrifflich getrennt (Trennungsthese) und lediglich zufällig, d. h. extern kausal und intern durch eine einbeziehende Entscheidung des Rechts miteinander verknüpft? Die erste Auffassung vertreten Anhänger des Naturrechts und Nichtpositivisten wie J. Finnis, R. Dworkin und Robert Alexy, die zweite Auffassung Rechtspositivisten wie H. Kelsen, H. L. A. Hart und Joseph Raz. Einige Vertreter des Positivismus haben R. Dworkins Kritik an der Beschränkung der möglichen Mittel des Rechts auf Regeln sowie dessen Ergänzung um Prinzipien normtheoretisch akzeptiert, was ja in der Sache angesichts der bis mindestens auf I. Kant und das Naturrecht zurückreichenden Tradition von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten auch naheliegt. Sie haben jedoch R. Dworkins Schlussfolgerung einer begrifflich-analytischen Verbindung von Recht und Ethik zurückgewiesen. Die Verteidigung der positivistischen Überzeugung einer Trennung von Recht und Ethik erfolgt auf zwei Wegen: Nach Auffassung der Vertreter des inklusiven Rechtspositivismus spricht nichts gegen die Annahme, die Erkenntnisregel H. L. A. Harts integriere auch moralische und ethische Normen in das Recht. Sie werden dann durch die Einbeziehung zu Rechtsnormen. Damit sei aber die analytische Verbindungsthese nicht bewiesen und der Rechtspositivismus nicht widerlegt, weil dies nur faktisch geschehe und keine begrifflich-analytische Notwendigkeit impliziere. Andere vertreten dagegen einen exklusiven Rechtspositivismus, wonach das Recht die außerrechtlichen Regeln von Moral und Ethik nicht aufnimmt. Die Debatte leidet an zwei Mängeln: Zum einen wird häufig nicht zwischen Ethik und Moral unterschieden. Zum zweiten wird die positivistische Reduktion der spezifischen Eigenschaften des Rechts auf Mittel, nämlich die Mittel der Regeln bzw. Regeln und Prinzipien teilweise auch von Nichtpositivisten akzeptiert. Die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Ethik lässt sich aber nur adäquat stellen und beantworten, wenn man auch die Ziele des Rechts berücksichtigt, weil es sowohl dem Recht als auch der Ethik wesentlich um das Ziel der Vermittlung geht, nicht nur um die Mittel. Nur mit Bezug auf das Ziel der Vermittlung kann deshalb die schwache Verbindung der notwendigen Berücksichtigung aller betroffenen Individuen begründet werden.

4. Rechtsethik: Welches Recht ist gerecht?

Die Rechtsethik setzt das Recht zu spezifischen Zielen und Werten wie dem der Gerechtigkeit in Beziehung. Sie unterzieht das Recht einer Rechtfertigung bzw. Kritik. Oder anders formuliert: Sie fragt nach dem richtigen Recht. Dabei geht es ihr nicht nur wie der Rechtsdogmatik um die Analyse der impliziten Wertungen des Rechts und um systeminterne Kohärenz und Zweckmäßigkeit der Rechtsnormen, sondern um einen ethischen Maßstab des Rechts, der nicht auf die positiv-rechtliche Regelung beschränkt bleibt. Beispiele aus neuerer Zeit sind die Frage, ob Abtreibung (Schwangerschaftsabbruch) und Euthanasie erlaubt sein sollen, ob die Ärzte eine schwangere, bereits hirntote, Frau am Leben erhalten dürfen bzw. sollen, um die Geburt ihres Kindes zu ermöglichen (Fall des Erlanger Babys), ob der Staat Folter androhen oder gar anwenden darf, um das Leben der Geisel zu retten (Fall Jakob von Metzler in Frankfurt), ob ein von Terroristen gekapertes Flugzeug von der Bundeswehr abgeschossen werden darf (Zulässigkeit einer Erlaubnis im LuftSiG), ob die Knabenbeschneidung strafbar ist oder sein sollte, worin die Menschenwürde besteht und ob sie abgewogen werden darf usw.

Da der Bezug auf Andere für das Recht notwendig ist, erscheint es zum Verständnis der Gerechtigkeit zuerst erforderlich, deren grundlegende Verhältnisse aufzuklären. Vier Gerechtigkeitsverhältnisse lassen sich unterscheiden:

a) Das Tauschverhältnis zwischen den Bürgern A und B erfasst die Tauschgerechtigkeit. Die Tradition spricht von der „iustitia commutativa“;

b) das Beitragsverhältnis der einzelnen Menschen A und B zur Gemeinschaft finden sich bereits bei Platon und Aristoteles. Das entspr.e Verhältnis wurde im Mittelalter „iustitia legalis“ genannt (STh II-II, 58,6 und 9 ad tertium). Besser erscheint „beitragende Gerechtigkeit“ oder „Beitragsgerechtigkeit“;

c) die Relation des Gerechtigkeitspols der Gemeinschaft zu den einzelnen Menschen A und B wird ebenfalls bereits bei Platon erwähnt, wurde aber v. a. von Aristoteles sorgfältig entwickelt. Sie wurde traditionell als „iustitia distributiva“ bezeichnet (STh II-II, 61,1 ff.). Die deutsche Übersetzung lautet „verteilende Gerechtigkeit“ oder „Verteilungsgerechtigkeit“,

d) die Relation der Gemeinschaft mit Bezug auf das erste Verhältnis der Tauschgerechtigkeit wurde „iustitia correctiva“ oder „iustitia commutativa“ genannt. Die umfassendere Bezeichnung „iustitia correctiva“ (korrigierende Gerechtigkeit oder Korrekturgerechtigkeit) verdient den Vorzug, weil zum einen nicht immer ein Tausch stattfindet und zum anderen sonst eine Verwechslung mit der Tauschgerechtigkeit im Verhältnis a) möglich ist.

Die formalen Gerechtigkeitsverhältnisse müssen inhaltlich bzw. material gefüllt werden. D. h., es muss überlegt werden, wie die Tauschgerechtigkeit, die Beitragsgerechtigkeit, die Verteilungsgerechtigkeit sowie die Korrekturgerechtigkeit jeweils im und durch das Recht verwirklicht werden können und sollen. Für eine Antwort gibt es in der säkularen Ethik, also jenseits der Religion bzw. göttlicher Gebote, zwei grundsätzliche Alternativen. Die rechtsetzende Gemeinschaft kann entweder die betroffenen anderen Menschen als Individuen mit ihren individuellen Belangen bzw. Interessen berücksichtigen oder nur als Teil eines Kollektivs und damit das Kollektiv. Die erste Alternative lässt sich als normativer Humanismus bzw. Individualismus bezeichnen, die zweite Alternative als normativer Kollektivismus.

Der normative Humanismus bzw. Individualismus behauptet, dass ausschließlich Menschen bzw. Individuen letzter Ausgangspunkt einer letzten legitimen ethischen Verpflichtung bzw. Wertung und damit als betroffene Akteure bzw. andere erstes Element einer adäquaten normativen Rechtsethik sein können, nicht aber Gemeinschaften oder Kollektive, etwa der Staat, die Nation, das Volk, die Ethnie, die Gesellschaft usw. Der ethisch zu berücksichtigende andere ist also in letzter Instanz immer der einzelne Mensch. Dabei handelt es sich – das muss betont werden – ausschließlich um die Behauptung der normativen Berücksichtigung als Individuen. Nicht bezweifelt wird, dass die Menschen faktisch in mehr oder minder engen Gemeinschaften leben.

Seit der Neuzeit haben sowohl die großen Strömungen der normativen Ethik als auch das Recht – mit einzelnen retardierenden Momenten – zunehmend den normativen Individualismus anerkannt, also den einzelnen Menschen als letzte Instanz ethischer Verpflichtungen angesehen. Viele der nachfolgend skizzierten Ethiken stimmen zumindest im Ausgangspunkt oder in manchen Zügen mit dem normativen Individualismus überein, etwa der Kantianismus bzw. die deontologische Ethik, der Utilitarismus, aber auch die Vertragsethik/Diskursethik sowie die Tugendethik.

Die deontologische Ethik mit dem Kantianismus als Hauptversion hält Pflichten für ethisch entscheidend. Nach I. Kant ist der gute Wille des einzelnen der Ausgangspunkt aller Pflichten. Nur der gute Wille ist unabhängig von allen zufälligen Einflüssen und Konsequenzen allein und ohne Einschränkung gut. Einziger Maßstab des guten Willens kann das Sittengesetz in der einzelnen Person sein. Das Sittengesetz konkretisiert I. Kant zum kategorischen Imperativ mit dem Prinzip der Verallgemeinerung als zentralem Kriterium: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Kant 1911: 421). Nach I. Kants zweiter Formel des kategorischen Imperativs dürfen sowohl der Akteur als auch jeder andere als Personen (genauer: als die Menschheit in ihnen) niemals bloß als Mittel, sondern sie müssen jederzeit zugl. als Zweck „gebraucht“ werden. Die Allgemeinheit des Gesetzes erfordert die Berücksichtigung aller autonomen Individuen. Der Begriff bzw. die Aufgabe des Rechts besteht für I. Kant dann darin, die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allg.en Gesetz der Freiheit zu vereinigen.

Für den Utilitarismus bzw. Konsequentialismus (teleologische Ethik) sind der größte Nutzen aller oder, genereller, die besten Konsequenzen einer Handlung bzw. Regelung ethisch entscheidend. Der klassische Utilitarismus nimmt dabei seinen Ausgang bei Lust und Leid der betroffenen Individuen, ist also zumindest im Ursprung normativ-individualistisch. Auf dieser Basis wird die Nutzensumme ermittelt. Am normativ-individualistischen Ausgangspunkt ändert sich auch nichts, wenn, wie im modernen Präferenzutilitarismus, statt Lust und Leid die Präferenzen als entscheidend angesehen werden. Allerdings lässt das Gebot, einzelne Handlungen zu maximieren, umfassende Lebensentwürfe bereits auf einer individuellen Ebene nicht zu. Das Maximierungsprinzip des Utilitarismus gerät im Übrigen, universal angewandt, zum normativen Individualismus in Widerspruch, weil es die von der fraglichen Handlung betroffenen Individuen mit ihren Interessen nur als Ausgangspunkt, nicht aber immer als Ziel der Abwägung ernst nimmt. Es erlaubt, dass um des größten Gesamtnutzens willen einzelne Individuen in bestimmten Fällen auf die gleiche bzw. gleichberechtigte Erfüllung ihrer Interessen teilweise oder ganz verzichten müssen und negiert damit die Trennung der Individuen. Man denke bspw. an eine vertragliche Verpflichtung, deren Bruch einen größeren Nutzen erzeugen würde. Dennoch erwarten wir als Betroffene die Einhaltung dieser Verpflichtung. Die Maximierungslösung des Utilitarismus ist also in manchen Konfliktsituationen grundsätzlich ungerecht und zwar dann, wenn die individuellen Belange der kollektiven Maximierung prinzipiell nicht untergeordnet werden dürfen, etwa Menschenwürde, Leib, Leben, körperliche und psychische Unversehrtheit. Das Maximierungsprinzip ist deshalb nur in gewissen Fällen, und zwar bei gemeinsamen Projekten ohne Verletzung gravierender individueller Kernbelange, v. a. individueller Rechte, als alleiniges Abwägungsprinzip gerechtfertigt, z. B. der Verbesserung des Schulsystems und Straßennetzes, der Finanzplanung der öffentlichen Hand usw.

Die Vertragstheorie (Kontraktualismus, Zustimmungstheorie) hält den hypothetischen Vertrag für den Kern der normativen Ethik und damit für die Quelle der Bewertung von Normen und Bewertungen. Sie geht in ihren verschiedenen Varianten bei T. Hobbes, J. Locke, J.-J. Rousseau, J. Rawls, Jürgen Habermas und Thomas Scanlon trotz gewisser Unterschiede in Einzelheiten immer von Individuen aus, die in letzter Instanz fiktiv als vertragsschließend angesehen werden. Die Unterschiede betreffen die Frage, wie die Individuen zu verstehen sind, welche ihrer Eigenschaften entscheidend sein sollen und wie der Vertragsschluss zu interpretieren ist. Nach einer modernen Version des Vertrags- bzw. Zustimmungsprinzips, die T. Scanlon vorgeschlagen hat, soll eine Handlung genau dann ethisch falsch sein, wenn ihre Durchführung unter den gegebenen Umständen von jeder Menge von Prinzipien zur Regelung des Verhaltens verboten würde, die niemand als Basis informierter, ungezwungener und allg.er Zustimmung vernünftigerweise zurückweisen könnte. Zwar fordert das Vertrags- bzw. Zustimmungsprinzip wie die bisher erörterten Ethiken eine Abwägung der individuellen Belange und ist somit ohne Zweifel normativ-individualistisch. Das Vertragsprinzip liefert selbst kein konkretes Abwägungsprinzip, das die notwendige Vermittlung zwischen den individuellen Belangen inhaltlich bestimmen könnte.

Für die Tugendethik ist der Charakter des Akteurs entscheidend, nicht der andere als individuell Betroffener mit seinen Belangen. Die Tugendethik richtet ihren Fokus also nicht primär auf den von einer Handlung betroffenen anderen, sondern ist im Ausgangspunkt akteurszentriert. Allerdings kann der betroffene andere dann auf einer sekundären Ebene doch relevant werden. Denn es ist nicht ausgeschlossen, sondern sogar sehr wahrscheinlich, dass die Wünsche und Ziele des anderen sich nicht nur auf die Handlungen und Konsequenzen, sondern auch auf die Charaktereigenschaften derjenigen Akteure richten, deren Handeln ihn betrifft. Warum? Jeder von uns kann regelmäßig sicherer sein, dass seine Wünsche und Ziele nicht missachtet werden, wenn Akteure, deren Handlungen ihn betreffen, einen guten Charakter haben, etwa Abgeordnete, Richter und Beamte nicht korrupt und eigensüchtig sind sowie die berufsethischen Standards ihrer Tätigkeit verinnerlichen und einhalten. Insofern wird jeder von uns wünschen, dass juristische Akteure einen derartigen guten Charakter aufweisen bzw. entwickeln. Bei der Tugendethik muss zwischen klassischen, etwa denjenigen von Platon und Aristoteles, und modernen Versionen unterschieden werden. Platons Ethik einer Gerechtigkeit in der Polis wendet sich mit ihrem Grundprinzip, dass jeder das Seine zur Polis beitragen soll, zwar auch an individuelle Akteure, ist aber insgesamt v. a. auf das Wohl der Gemeinschaft gerichtet. Aristoteles verstärkt den normativen Individualismus, wenn er das Haben eines guten Geistes (eudaimonia) ins Zentrum der Ethik rückt. Statt der Verpflichtung jedes einzelnen, das Seine zur Polis beizutragen, betont Aristoteles den Grundsatz „Jedem das Seine“. In der modernen Tugendethik wird der Schwerpunkt dann explizit auf das tugendhafte Individuum mit seinen inneren Veranlagungen, Dispositionen und Motiven gelegt. Allerdings bleibt auch sie mit dem Manko aller akteurszentrierten Ethiken behaftet, dass die konkrete Wahl und Ausführung der fraglichen Handlung sowie die Konsequenzen nicht hinreichend berücksichtigt werden. Dieses Manko wirkt bes. negativ in der Rechtsethik, in der es nicht primär um private Beziehungen, sondern um die öffentliche Gestaltung von gemeinschaftlichen Verhältnissen geht. Die Tugendethik kann im Rahmen der Rechtsethik somit nur punktuell zu Lösungen führen, etwa im Hinblick auf ein Ethos politischer Repräsentanten und juristischer Berufe (Politikerethik, Richterethik, Beamtenethik usw.).

Wie kann dann eine adäquate normative Ethik bzw. Rechtsethik aussehen? Eine adäquate normative Ethik muss wenigstens fünf Elemente enthalten:

a) den normativen Humanismus/Individualismus als Ausgangspunkt, wonach rechtliche Normen in letzter Instanz nur durch Rekurs auf alle betroffenen Menschen und ihre Eigenschaften gerechtfertigt werden können;

b) die Berücksichtigung der Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen (Belange bzw. Interessen) aller dieser betroffenen Menschen als rechtfertigende Eigenschaften;

c) einen Pluralismus des Bezugs dieser Belange und damit der moralischen Normen und Werte auf alle möglichen Elemente unseres Handelns im weitesten Sinne, also nicht nur den guten Willen wie bei I. Kant, die Konsequenzen wie im Utilitarismus bzw. Konsequentialismus oder den Charakter wie in der Tugendethik;

d) die prinzipielle Notwendigkeit eines Abwägungs- bzw. Zusammenfassungsprinzips dieser Belange der Individuen;

e) schließlich als zentrales Abwägungs- bzw. Zusammenfassungsprinzip das sog.e Prinzip der relativen Individual- und Anderer- bzw. Gemeinschaftsbezogenheit der Individualbelange, das als typisierendes Metaprinzip die Anwendung konkreterer Prinzipien und Abwägungen steuert: Je stärker der Belang bzw. das Interesse eines moralisch zu berücksichtigenden Individuums in der Entstehung oder Realisierung notwendig von anderen Betroffenen bzw. einer Gemeinschaft abhängt, desto eher muss sich dieses Individuum eine Relativierung in der Abwägung gefallen lassen bzw. darf die Gemeinschaft nach Gemeinschaftszielen entscheiden.