Rechtsstaat
1. Herrschaft des Rechts statt menschlicher Willkür
1.1 Verallgemeinerung der Verfassungsstruktur des Staates
Der moderne R. ersetzt Unterdrückung und Willkür durch eine Staatsgewalt (Staat), in der das Gesetz und nicht Personen herrschen. Der R. weist Faust- und Fehderechte, Krieg und Terror als Unrecht zurück, gewährleistet Frieden und beansprucht für den Staat das Gewaltmonopol. Die Menschen sollen ihre Konflikte allein in sprachlicher Auseinandersetzung lösen, in einem allg. verbindlichen Recht ihre Maßstäbe finden und einen Streit letztlich durch die Rechtsprechung entscheiden lassen. Im R. herrscht das Gesetz. Ein Mensch übt Staatsgewalt nur in Bindung an das Gesetz und in Verantwortung gegenüber den Betroffenen aus. Das für Mächtige und Ohnmächtige, für Reiche und Arme gleichermaßen verbindliche Recht garantiert Gleichheit in Freiheit für jedermann, soziale Zugehörigkeit und damit Existenzbedingungen für jeden Menschen.
Die Inhalte des R.s-Prinzips sind im GG als Einzelregelungen ausformuliert, teilweise aber auch nur angedeutet. Der R. nimmt die im GG benannten Regeln über Organisation und Bindung des Staates auf, erfasst die darin angelegten Grundstrukturen des Verfassungsstaates, verdichtet sie zu einem Prinzip, das die Identität des GG bestimmt und deshalb ein unabänderlicher Leitgedanke dieser Verfassung ist.
Die im GG geschriebenen Regeln des R.s rechtfertigen und begrenzen staatliche Macht, formen eine Gewaltenteilung, die staatliche Aufgaben und Befugnisse auf unterschiedliche Organe aufteilt, so Staatsgewalt mäßigt, je nach Sachaufgabe qualifiziert, auf Kooperation und gegenseitige Ergänzung anlegt. Der R. kennt eherne Rechte, die in der Natur des Menschen vorgefunden, „angeboren“ und für das Verfassungsrecht unverzichtbar sind. Die Verfassung selbst wird in ihren Leitgedanken für unabänderlich erklärt, kann im Übrigen nur in einem erschwerten Verfahren geändert werden und bewahrt ihre Kerngewährleistungen der Staatlichkeit auch in inter- und supranationalen Organisationen. Das GG prägt den Staat durch seine Rechtlichkeit. Er ist rechtlich legitimiert und kontrolliert. In seiner politischen Mitte wirkt ein Parlament, das von den Staatsbürgern gewählt ist, um das Recht zu verbessern, es den Anforderungen der Gegenwart anzupassen und ein Maß angemessener Verrechtlichung zu finden.
In diesen rechtsstaatlichen Strukturen sind Prinzipien angelegt, die im Text des GG nur anklingen, aber an der Verbindlichkeit des geschriebenen Rechts teilhaben. Der Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, seine Allgemeinheit und die Bestimmtheit seiner Tatbestände prägen das Recht. Das Gesetz wird im parlamentarischen Verfahren hervorgebracht, in dem die „wesentlichen“ Grundsatzfragen des Gemeinwesens entschieden werden. Dieses Gesetzesrecht sichert eine kontinuierliche Rechtsentwicklung, meidet den abrupten Bruch mit Bisherigem, entwickelt das Neue aus Hergebrachtem und Herkunft, schützt das Vertrauen des Rechtsbetroffenen in die ihm gewährten Rechte (Rückwirkungsverbot).
In den Vorschriften des GG über die Exekutive ist deren Unterteilung in eine auf Wiederwahl angelegte Regierung und eine durch das Berufsbeamtentum (Beamte) geprägte Verwaltung angelegt. Die Regierung ist durch ihr Initiativrecht auch eine gesetzesmitgestaltende Gewalt, die Verwaltung eine gesetzesgebundene Gewalt. Die Regierung ist dem Parlament verantwortlich, die Verwaltung der Regierung. Beide Gewalten unterliegen rechtlicher Selbstkontrolle und Fremdkontrolle.
Der R. verallgemeinert die verfassungsrechtlichen Regeln über die Gerichtsorganisation, den Status des Richters und die Justizgewähr zu Prinzipien der unabhängigen, unbefangenen und distanzierten Rechtsprechung, die Rechtsschutz nicht nur gegenüber der Staatsgewalt, sondern auch unter Privaten gewährt.
Die im ersten Abschnitt des GG hervorgehobenen und im Einzelnen geregelten Grundrechte sind eine Basis des R.s, der den Staat an seinen Wirkungen für Individualität und Würde des einzelnen Menschen misst, die Grundrechte in ihren Funktionen der Staatsabwehr, des Schutzes und der Institutionengewähr ausformt, den Kerngehalt der Freiheitsrechte in einem Verhältnismäßigkeitsprinzip, den Gleichheitssatz in einem – von der Verhältnismäßigkeit zu unterscheidenden – Differenzierungsauftrag ausprägt.
1.2 Menschen- und Bürgerrechte
Eine der wesentlichen Errungenschaften des R.s sind die Menschen- und Bürgerrechte. Der Staat wird daran gemessen, was er für die Lebenssituation des einzelnen Menschen getan hat. Der Mensch ist nicht Objekt staatlicher Herrschaft, nicht der Willkür eines Herrschers unterworfen, sondern Subjekt des Rechts, mit eigenen Rechten und Pflichten ausgestattet. Er ist Ursprung der demokratischen Staatsgewalt. Grundlage dieses Menschenbildes ist die Vorstellung vom Menschen, den Gott nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat, dem in seiner Unzulänglichkeit und Fehlsamkeit dieses Ideal vor Augen ist. Dieses christliche Menschenbild enthält den wohl radikalsten Freiheits- und Gleichheitssatz der Rechtsgeschichte. Es wird durch den Humanismus weiterentwickelt, der die Fähigkeiten des Menschen, sein Wissen und seine Tugenden, durch Bildung entfalten will, sodann durch die Aufklärung mit Kraft und Mut zu Vernunft und Wissenschaft in die Moderne geführt. Dieser R. fordert ein durch Vernunft (Vernunft – Verstand) und Einsicht geprägtes Recht, anerkennt aber den demokratisch legitimierten (Legitimation), verfassten politischen Willen der Staatsorgane als Quelle für Recht und politisches Gestalten. Der Rechtsbetroffene, der freiheitsberechtigte Mensch, lebt und handelt nicht nur in Logik und Folgerichtigkeit, pflegt auch Geselligkeit, Muße und Kunst, will sich begeistern und Leidenschaft entfalten, spielen und leichten Sinnes sein. Er will lieben, hoffen, glauben. Sein Verhalten ist von Vernunft und Tugend, Erfahrung, Gewohnheit und Urteilskraft, von Gefühlen und Sinnlichkeit, von Hoffen und Vertrauen bestimmt. Das Gesetz gibt dieser Freiheit einen vernunftgeprägten Rahmen, würde aber inhuman, wollte es die freiheitliche Individualität in ihrer Vielfalt und Subjektivität rechtlich verengen.
1.3 Politischer Wille und Willkür
In diesem Bemühen um rechtliche Objektivität, die freiheitlicher Subjektivität dient, begegnen sich Demokratie und R. Die Demokratie rechtfertigt sich aus dem – im Wahlakt geheim bekundeten – Willen des Staatsvolkes, ist parlamentarisch und gewaltengeteilt, organisiert in demokratischen Parteien ihre programmatische und personelle Alternativität. Dieser rechtlich verfasste Wille des freiheitlichen Staatsvolkes ist der Maßstabgeber des R.s. Die Staatsorgane sind durch diesen Willensakt legitimiert, werden dann rechtlich auf Objektivität, Sachgerechtigkeit, Vernünftigkeit und Einsichtigkeit verpflichtet. Willkür ist demgegenüber staatliches Entscheiden, das sich allein aus dem Willen – der Subjektivität und Voreingenommenheit – eines Machtträgers herleitet, sich also seiner Gebundenheit im Recht und seiner Verantwortlichkeit gegenüber dem Staatsvolk entzieht. Die Unterscheidung zwischen dem demokratisch maßstabgebenden politischen Willen und einer Willkür als grobem staatlichem Unrecht ist eine immer wieder neu gestellte Aufgabe des R.s.
2. Wurzeln des Verfassungsstaates
Das Kernanliegen des R.s, ein friedliches Zusammenleben der Menschen in Freiheit zu organisieren, begründet zunächst ein Gewaltmonopol des Staates, findet dann eine seiner ersten inhaltlichen Ausprägungen in der Religionsfreiheit. Der Gegensatz der christlichen Konfessionen hatte zu Kriegen geführt, in denen die Machtinteressen der Herrschenden sich der Religion bedienten, um Ausgrenzungs- und Ausdehnungsansprüche zu begründen. Dagegen richtet sich die Vorstellung eines Staates, der um des Friedens seiner Bürger willen die religiöse Frage nach der Wahrheit offenlässt und so ein Zusammenleben beider Konfessionen ohne Kampf und Streit in demselben Staat ermöglicht. Die Religionsfreiheit entwickelte sich zunächst als Religionszweiheit. Katholiken und Protestanten konnten nebeneinander ihre Religion und Kirchlichkeit leben. Heute gewährleistet die Freiheit von Religionen und Weltanschauungen eine Vielfalt und Offenheit sinnstiftender Überzeugungen. Der R. ist religiös und weltanschaulich neutral. Es gibt keine Staatskirche, keine staatlich bevorzugte Religion, keine staatliche Weltanschauung.
Dieses Konzept staatlicher Distanz des Staates zu Religion und Weltanschauung ist gegenwärtig anerkannt, aber auch bedroht, wenn beachtliche politische Kräfte dem Staat die Weltanschauung des Säkularismus, der planmäßigen Entkirchlichung des öffentlichen Lebens, aufdrängen wollen. Der Staat lebt in guter Nachbarschaft zu Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften, ist sich bewusst, dass die religiöse Frage den Menschen bewegt, gibt aber selbst keine religiösen Antworten, sondern erwartet diese von den Kirchen.
Diese Offenheit des R.s hat religiöse Wurzeln: Die Würde des Menschen (Menschenwürde), seine Verantwortung „vor Gott und den Menschen“ – so sagt es das GG –, die Freiheit als verantwortliche Freiheit – damit der Gedanke von Schuld, Sühne und Vergebung – sind religionsgeschichtlich gefestigte Fundamente von Staat und Recht, die auch der religiös und weltanschaulich neutrale Staat (Neutralität) immer wieder erneuern muss. Auch die ersten Gewährleistungen der Gleichberechtigung von Mann und Frau im Ehevertrag, die Entfaltung des Eigentums- und des Arbeitsschutzes, anfänglich an Sonn- und Feiertagen, später als Ausdruck einer Soziallehre, das Prinzip der Zuwendung und Nächstenliebe, der Selbstlosigkeit und des Ehrenamtes haben diesen Ursprung.
„Keine Verfassung garantiert sich selbst“ (Eichendorff 1988: 129). Die Leitgedanken des Rechts können nur verbindlich an die Zukunft weitergeben werden, wenn sie von den rechtlich beteiligten Menschen bedacht und verstanden werden. Zwar ist es den Vereinten Nationen gelungen, die Staaten auf eine gemeinsame Menschenrechtskonvention zu verpflichten „unter der Voraussetzung, dass keiner fragt warum“ (Kasper 1989: 100). Man konnte sich nicht auf einen Baum des Rechts mit gemeinsamen Wurzeln verständigen, wohl aber auf die Früchte dieses Baumes, die den Menschen in allen Vertragsstaaten zugutekommen sollen. Eine solche Fundierung des Rechts ist möglich, aber anfällig. Dem R. ist daran gelegen, seinen Verfassungsbaum möglichst in einer gemeinsamen Rechtskultur zu verwurzeln, die Grundprinzipien des Rechts in gemeinsamen Rechtserwartungen und Rechtsvorstellungen zu festigen.
Deshalb wird es Aufgabe eines modernen Freiheitsverständnisses sein, die persönliche Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit, die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, die Meinungs- und Informationsfreiheit für jedermann vorbehaltlos zu gewährleisten, die kulturelle Identität des Verfassungsstaates dadurch aber nicht zu gefährden. Wie in Deutschland Sprachfreiheit herrscht, die deutsche Sprache aber das Fundament von Recht und Demokratie ist, so fordert auch die Religionsfreiheit nicht, dass die verschiedenen Lehren der Religionen und Weltanschauungen in gleicher Stärke Einfluss auf den Staat gewinnen müssten. Die heute alltägliche Begegnung großer Weltreligionen mit unterschiedlichen Vorstellungen von Sitte und Ethos in Deutschland enthält einen anspruchsvollen, noch nicht definierten Auftrag an den R.
Die Entwicklung gegenwartgerechter Normen ist Kernauftrag des R.s. Er begleitet den modernen Auftrag der freien Gesellschaft, naturwissenschaftlich die Beschaffenheit der Welt zu erkennen, medizinisch und technisch diese Welt im Dienst des Menschen besser zu beherrschen, das menschliche Leben durch Computer und Roboter, Digitalisierung und Algorithmen zu erleichtern und zu verbessern. Der R. sucht mit seiner Verfassung politische Erfahrungen, bewährte Institutionen und erprobte Werte an die nächste Generation weiterzugeben, in diesem Rahmen die Lebenswirklichkeit der Menschen zu verbessern und zu befreien, die Gemeinsamkeit von Erfahrung und Einsicht zu begründen und zu festigen. Dabei ruhen die Leitgedanken des GG auf Erfahrung. Die Verfassung gibt Antworten insb. auf erlebtes Unrecht und Unglück. Wer Krieg erlebt hat, sucht den Frieden. Wer gehungert hat, erwartet sozialstaatliche Existenzsicherung (Existenzminimum). Wer inhaftiert worden ist, fordert Freiheit. Wer Demütigungen erfahren hat, ruft nach Gleichheit. Wer die Zerstörung der Natur beobachtet, kämpft für Umweltschutz. Wer die Entstaatlichung der Macht in Finanzstrukturen erkennt, sucht Verantwortlichkeiten für Staat und Verfassung zurückzugewinnen.
3. Inhalte des Rechtsstaatsprinzips
3.1 Grundrechte
Der R. verfolgt das Grundanliegen, den Bürger aus der Abhängigkeit politischer Herrscher zu lösen, ihn mit Menschen- und Bürgerrechten auszustatten, ihn zum Rechtssubjekt mit eigenen Rechten und Pflichten zu machen. Das GG hat die Menschen- und Bürgerrechte als Grundrechte an die Spitze der Verfassung gestellt und im Einzelnen ausgeformt. Der Berechtigte kann diese Rechte vor den Gerichten und insb. dem BVerfG durchsetzen, hat vor Gericht die gleiche Rechtsstellung wie der Hoheitsträger, behauptet sich mit seinen Rechten gegenüber Parlament und Regierung, Mehrheitswillen, öffentlicher Meinung und Meinungsführern. Gesetzgeber und Rechtsprechung haben diese Individualrechte so ausgestaltet und fortentwickelt, den Kerninhalt des R.s damit zur alltäglichen Selbstverständlichkeit des Rechts gemacht, dass es eines Rückgriffs auf das allg.e R.s-Prinzip kaum noch bedarf. Die Verallgemeinerung des Grundrechtsschutzes in einem Verhältnismäßigkeitsprinzip hebt einen Kern der Grundrechte hervor, löst ihn aber auch von je eigenen Gewährleistungen eines einzelnen Grundrechts.
3.2 Das Gesetz
3.2.1 Maß und Form der staatlichen Ordnung
Im Ideal des R.s bestimmt das Recht den Staat. Der Staat gewährleistet Frieden durch Recht, rechtfertigt seine Aufgaben und Kompetenzen, seine Handlungsmaßstäbe und seine Mittel im Recht, gewährleistet und begrenzt die Staatsgewalt in einer allg.en, für jedermann ersichtlichen Rechtsordnung. Der R. gewinnt im Text des GG mit den Gewährleistungen der Menschen- und Bürgerrechte, der Bindung aller Staatsgewalt an Gesetz und Recht, der Gewaltenteilung, des Gerichtsschutzes einschließlich der Verfassungsbeschwerde, der Regeln über faire Verfahren einen festen, auch gegenüber Verfassungsänderungen abgeschirmten Kern. Derselbe R. ist in den Gewährleistungen der Gerechtigkeit und Rechtssicherheit, der Gegenläufigkeit von Schutz und Freiheit, der Verpflichtung auf Sachlichkeit und Einsichtigkeit staatlichen Handelns inhaltlich offen.
Das Gesetz gibt dem Staat und der gesellschaftlichen Ordnung Maß und Form. Das vom demokratischen Parlament hervorgebrachte Gesetz beansprucht Vorrang vor allen anderen staatlichen Entscheidungen, bindet insb. die Exekutive und die Rechtsprechung an das Gesetz (Vorrang des Gesetzes). Um diese Bestimmungsmacht des Gesetzes zu festigen, ist der Gesetzgeber beauftragt, alle grundlegenden, „wesentlichen“ Entscheidungen des Staats selbst zu treffen, darf diese Entscheidungen nicht anderen Normgebern überlassen, insb. nicht der Entscheidungsmacht der Exekutive überantworten. Dieser „Vorbehalt des Gesetzes“ ist in Einzelvorschriften des GG ausdrücklich geregelt, insb. für Eingriffe in Grundrechte und deren inhaltliche Verdeutlichung, aber auch für die Verwaltungs- und Gerichtsorganisation, das Finanz- und Haushaltswesen und die auswärtigen Beziehungen. Dieses Prinzip vom Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes verbindet das R.s-Prinzip mit dem Demokratieprinzip.
Der Gesetzgeber bestimmt Gegenstand und Folgen der Gesetze selbst, darf aber seine Themen nicht beliebig wählen. Unabänderliche Leitgedanken des Rechts sind dem Parlament vorgegeben (Identitätsgarantie). Die Freiheit entzieht viele Lebensbereiche wie die Privatsphäre, das Leben und die körperliche Unversehrtheit, Kunst und Wissenschaft, das Denken und Meinen, Glauben und Gewissen der Regelungskompetenz des Gesetzgebers. Diese Freiheitsgarantien dürfen nur als vorgefundene Rechtssätze gesetzlich verdeutlicht und aufeinander abgestimmt werden. Der gewählte Abgeordnete – allein durch Staatsangehörigkeit, Lebensalter und Wahl qualifiziert – ist für die „wesentlichen“ Grundsatzentscheidungen des Gemeinschaftslebens ausgewiesen. Die Regelungen der Details, des Übergangs und der bloßen Ordnungsvorschriften obliegt der Exekutive und der privaten Hand. Deshalb sollte der Vorbehalt der „wesentlichen“ Entscheidungen vom Parlament als Handlungsauftrag, aber auch als Handlungsgrenze verstanden werden. Die Rechtswirklichkeit allerdings ist eine andere. Das Parlament sucht tagesaktuelle Fragen in Form des Gesetzes zu beantworten, bedrängt den freien Bürger durch eine Überfülle von Regeln und nimmt dem Recht ein Stück Stetigkeit und Planbarkeit.
3.2.2 Die Allgemeinheit des Gesetzes
Das Gesetz regelt die noch ungewissen Fälle der Zukunft, löst sich deshalb vom Einzelfall und vom betroffenen Individuum. Das „allg.e“ Gesetz regelt die generell-abstrakte Vorgabe und überlässt der gesetzesvollziehenden Verwaltung die einzelfallbezogene Anwendung. In der Allgemeinheit bietet das Gesetz eine gleichheitssichernde Breitenwirkung für alle Personen im gesamten Staatsgebiet, wahrt Distanz zur Individualität und Freiheit der Adressaten, wehrt Privileg und Sonderbelastung ab, regelt in der Abstraktheit der Aussage das Grundlegende, auf Dauer Bedeutsame, sucht auch in einer materiellen Verallgemeinerung das Vernünftige, das Einsichtige, Widerspruchsfreie zu regeln. Das Erfordernis der Allgemeinheit macht das Gesetz zum Garanten für Freiheit und Gleichheit, bindet auch die Herrschenden und vermeidet Willkür. Die Allgemeinheit sucht zeitlich auch die Nachhaltigkeit des Rechts zu sichern, den distanzlosen und sprunghaften Legislativakten entgegenzuwirken, die Vertrautheit der Bürger mit dem planbaren und voraussehbaren, auch dem geläufigen und stetig praktizierten Gesetz zu festigen. Schließlich meint die Allgemeinheit des Gesetzes auch die Allgemeinverständlichkeit. Die parlamentarische Gesetzesberatung ist ein für die Öffentlichkeit bestimmter Sprechakt. Die Verkündung des Gesetzes sichert die Zugänglichkeit und Verständlichkeit für jedermann. Die Sprache des R.s ist zunächst Alltagssprache, braucht dann aber die Präzisierung und Standardisierung der Fachsprache, die aber „Gemeinsprache“ bleiben muss, um das Rechtsgespräch beim mitwirkungsbedürftigen Verwalten und bei dem vor Gericht gewährten rechtlichen Gehör nicht zu erschweren oder gar zu verhindern. Rechtsstaatlichkeit organisiert einen stetigen Prozess des Sprechens über das Recht.
3.2.3 Vorgriff in eine ungewisse Zukunft
Der gesetzliche Vorgriff in eine ungewisse Zukunft hält das Gesetz für neue Anfragen an das Recht offen. Das Gesetz gibt eine prinzipielle Antwort auf eine Gegenwartsfrage, die von eigenständigen gesetzesinterpretierenden Staatsorganen weitergedacht werden muss. Im gewaltengeteilten Staat ist der Gesetzgeber der Erstinterpret der Verfassung, das BVerfG deren Letztinterpret. Das Verwaltungsrecht wird zunächst von der vollziehenden Gewalt gedeutet, später richterlich fortgebildet. Einen „eindeutigen“, nicht interpretationsbedürftigen Rechtssatz gibt es nicht. Das Privatrecht hält in der Vertragsfreiheit einen großen Gestaltungsraum für Bürger und Gesellschaft offen.
3.2.4 Strukturell verschiedene Regelungsinhalte
Wenn das Gesetz auf Vollzug und Kontrolle angelegt ist, regelt der Gesetzgeber nicht nur Rechte und Pflichten der Menschen, Maßstäbe rechtsstaatlichen Handelns, sondern auch Struktur und Ablauf staatlichen Entscheidens. Verfahrens- und Organisationsgesetze, das jährliche Haushaltsgesetz und die Finanzgesetze, die gesetzlichen Ermächtigungen zur europäischen Integration und zur Mitwirkung in der Völkerrechtsgemeinschaft treffen Leitentscheidungen, die den Gehalt des einzelnen Rechtsentscheids vorbereiten, aber Staatsorgane, Staaten und supranationale Organisationen zum Adressaten und zum Gegenstand haben. Die weitreichenden, individualrechtlich spürbaren Folgen derartiger Organisationsakte werden sichtbar, wenn Verfahrensgesetze den individuellen Rechtsschutz ermöglichen oder bundesstaatliche Organisationsakte die Bürgernähe des Verwaltens und politische Experimentierfelder erschließen, wenn der „goldene Zügel“ des Finanzstaates Wissenschaft und Kultur lenkt, wenn Währungs- und Finanzpolitik die Aktienkurse in die Höhe treibt, dem Sparer aber seinen Jahreszins nimmt. Ein Gesetz wird im Regelfall konkrete, justitiable Rechtsfolgen regeln, teilweise durch bloße Ziel- und Rahmenvorgaben zu einer Gestaltung beauftragen, gelegentlich auch bloße Klugheitsregeln formulieren, die den Adressaten zur Vernunft drängen, bei Unvernunft aber ohne Sanktionen bleiben.
3.3 Gewaltenteilung
3.3.1 Verbesserung und Mäßigung der Staatsgewalt
Der R. bedient sich unterschiedlicher Organe, die jeweils für ihre Aufgabe bes. qualifiziert sind, aufgabengerechten Entscheidungs- und Handlungsverfahren folgen, bereichspezifische Erfahrungen entwickeln und Daten nutzen, spezielle Aufträge und Verantwortlichkeiten übernehmen. Diese Organe teilen die Staatsgewalt. Sie ergänzen, mäßigen, kontrollieren sich und steigern in Kooperation die Gestaltungsmacht des Staates. Die Verfassung unterscheidet zunächst die drei klassischen staatlichen Funktionen: Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung. Diese drei Gewalten schützen individuelle Freiheit und gewährleisten einen hohen Grad an „Richtigkeit“ staatlicher Entscheidungen. Jedes Organ ist nach seiner Aufgabe und Struktur von anderen gesondert. Diese Trennung darf nicht durch Ämterkumulationen der Amtswalter unterlaufen werden. Das Prinzip der Gewaltenteilung fordert aber nicht, die Funktionsbereiche von Gesetzgebung, vollziehender Gewalt und Rechtsprechung, von Gestaltung und Kontrolle strikt zu trennen.
3.3.2 Gesetzgebung
Den klassischen drei Staatsgewalten steht jeweils ein Kernbereich der Eigenverantwortung zu. Der Gesetzgeber regelt die Grundsatzentscheidungen des Gemeinwesens, ermächtigt zu „Eingriffe[n] in Freiheit und Eigentum“ (Mayer 1895: 245), bestimmt mit seinem Budgetrecht die Verteilung und Verwendung der Staatseinnahmen, übt seine Kontrollbefugnisse über die Exekutive mit Informations- und Sanktionsrechten aus, hat zumindest ein Antragsrecht auf Amtsenthebung der Exekutivspitze. Beobachtet der R. strukturelle Erhebungsdefizite, fordert die Gleichheit vor dem Gesetz, die Gesetze vollzugsfähig zu gestalten. Die Gesetzgebung hat eine Kompetenz-Kompetenz, kann sich neue Themen der parlamentarischen Debatte und Gegenstände gesetzlicher Regelungen erschließen, ist aber nicht „allzuständig“, sondern verfasst.
3.3.3 Vollziehende Gewalt
Die „vollziehende Gewalt“ ist heute unterteilt in eine politisch gestaltende Regierung und eine gesetzesvollziehende Verwaltung. Wesentliche Eigenbereiche der Regierung betreffen die Außenpolitik, die Verteidigungspolitik, die Integrationspolitik – für das Staatsvolk wie für die Zuwanderer –, auch das Finanz- und Steuerwesen. Dabei ist der Funktionsbereich der Regierung nicht strikt gegen das Parlament abgeschirmt, vielmehr insb. durch den grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt und den zumindest bundesstaatlichen Gesetzesvorbehalt im Finanzrecht, durch das Haushaltsgesetz, durch den Zustimmungsvorbehalt zu völkerrechtlichen Verträgen und durch den Parlamentsvorbehalt für den Streitkräfteeinsatz von Entscheidungen des Parlaments abhängig. Die Mitgliedschaft in der EU stärkt die Gesetzgebungsgewalt der Regierung, die dort im Wesentlichen dem Rat der Europäischen Union und der Europäischen Kommission, nicht dem Parlament zugewiesen ist.
Die Verwaltung rechtfertigt ihr Handeln v. a. aus dem Gesetz, das sie vollzieht, verfügt über eine eigenständige Gestaltungsmacht bei Interpretation der Gesetze, auch über eine exekutive Koordinationsgewalt durch Verwaltungsvorschriften beim Gesetzesvollzug. Die Verwaltung steht der auf Wiederwahl angelegten Regierung als ein stabiles, von der lebenslänglichen Parteinahme der Beamten für das Recht geprägtes Organ gegenüber, das die Gesetze gegenwartsgerecht versteht und verbindlich übermittelt, mit seiner Verwaltungserfahrung der Gesetzesinterpretation eine Richtung gibt, vielfach auch zu Gesetzesinitiativen der Bundesregierung führt. Die modernen Möglichkeiten der Informationstechnik, der Konzeptprogramme und des digitalen Vollzugs begründen zusätzliche Entscheidungs- und Verantwortungsbereiche.
3.3.4 Rechtsprechung
Die Rechtsprechung hat die Aufgabe unbefangener und unabhängiger Streitentscheidung, ist deshalb organisatorisch und personell deutlich von den anderen Gewalten abgegrenzt. Sie ist „den Richtern anvertraut“ und den Gerichten abschließend vorbehalten (Art. 92 GG). Zum Kernbereich der Rechtsprechung gehört der Rechtsschutz gegen Maßnahmen der staatlichen Gewalt, aber auch die traditionelle Aufgabe der bürgerlichen Rechtspflege und der Strafgerichtsbarkeit. Mit der Einrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit wird auch die Kontrolle des einfachen Gesetzgebers zu einem Kern der Gerichtsbarkeit. Jeder Mensch kann die Verletzung seiner Grundrechte durch die Staatsgewalt vor Gericht geltend machen, steht dann im Gerichtsverfahren dem Staat gleichgeordnet gegenüber. Diese Ausrichtung der Staatsrechtsordnung auf die Rechte des Einzelnen und seine freiheitliche Entfaltung zeigt die Vernünftigkeit, die Werthaltigkeit, die Humanität des R.s-Prinzips.
Die Unabhängigkeit der Gerichte wird begründet durch ihre Bindung an Gesetz und Recht, die Beschränkung der richterlichen Tätigkeit auf die Rechtskontrolle – ohne Zweckmäßigkeitsprüfung –, die Weisungsfreiheit jedes einzelnen Richters, die Sicherung des persönlichen Richterstatus und durch die Neutralität und Distanz des Richters gegenüber den Verfahrensbeteiligten.
Der Gerichtsschutz dient der Durchsetzung der subjektiven Rechte des Klägers. Er beansprucht ein Urteil von einem im Voraus, unabhängig vom Einzelfall bestimmten „gesetzlichen Richter“, erhält rechtliches Gehör unmittelbar vor dem Gericht und bestimmt nach der Dispositionsmaxime, ob und inwieweit ein Gerichtsverfahren in der jeweiligen Instanz und im Instanzenzug fortgesetzt wird. Diese subtile, im internationalen Rechtsvergleich wohl einmalige Entfaltung des Rechtsschutzes als individuellem Justizgewährungsanspruch wird gegenwärtig gelockert, wenn die Revisionsinstanzen zunehmend der Rechtsfortbildung gewidmet werden, der „Drittschutz“ den Verwaltungsprozess auf das öffentliche Interesse ausrichtet, der einzelne Kläger „prokuratorisch“ – insb. bei der Verbandsklage und der Sammelklage – öffentliche Interessen des Umweltschutzes, des Verbraucherschutzes, der Musterverfahren verfolgt, der Strafprozess auch die nicht schuldfähigen juristischen Personen mit Sanktionen wegen objektiven strafwürdigen Unrechts belegen soll.
3.3.5 Bundesstaatlichkeit
Das Bundesstaatsprinzip (Bundesstaat) ist in wesentlichen Gewährleistungen Teil rechtsstaatlicher Gewaltenteilung, ergänzt und vervollständigt dieses Prinzip im Übrigen in der Regionalisierung der Staatsgewalt. Die Autonomie der Kommunen in der Selbstverwaltung ihrer örtlichen Gemeinschaft bildet ein weiteres Gegengewicht der Eigenverantwortlichkeit gegenüber einer Zentralisierung und dient der individuellen Freiheit wie auch der politisch-kulturellen Vielfalt. Das Zusammenwirken von Bund und Ländern beim Setzen und Durchsetzen von Recht, die gegenseitige Rücksichtnahme aufeinander („Bundestreue“), die Entfaltung und Kreativität politischer Mächte im Dienste des Rechts, die Einheit in Vielfalt ist heute Bestandteil der Rechtsstaatlichkeit in Deutschland, die ihr im Vergleich zu nicht föderalen Staaten (Föderalismus) eine verbesserte verfassungsgesicherte Institutionenstruktur und Entwicklungsfähigkeit bietet.
3.4 Kontrollsysteme
Das R.s-Prinzip ist ein Kontrollsystem. Die Staatsgewalt ist kontrollierte Gewalt. In einer „politischen“ Kontrolle überprüft das Parlament die Regierung. Die Regierung kontrolliert die Verwaltung mit Weisungs- und Selbsteintrittsrechten. Die Finanzkontrolle ist institutionell durch den Rechnungshof und die parlamentarische Entlastung verselbständigt. Verfassungsrechtlich gebundenes Handeln garantiert seine Rechtmäßigkeit v. a. selbst, ist auf Selbstkontrolle angelegt. Innerhalb der Verwaltung wirkt die Rechts-, Fach- und Dienstaufsicht als Selbstkontrolle der Verwaltung. Die Remonstrationspflicht des einzelnen Verwaltungsbeamten bei drohendem unrechtmäßigen Verwaltungsvollzug macht jeden Entscheidungsträger zu einem Garanten des Rechts. Verwaltungsvorschriften bieten einen Maßstab der Selbstvergewisserung. Selbstkontrolle ist grundsätzlich selbst veranlasste Kontrolle, findet „von Amts wegen“ statt. Durch Widerspruch und Einspruch kann der Bürger die Verwaltung auch zur Überprüfung ihrer Entscheidungen zwingen.
4. Rechtsstaatlichkeit dank gemeinsamer Überzeugung
4.1 Normen und Werte
Jede Gemeinschaft des Rechts ruht auf gemeinsamen Überzeugungen. Diese verbindenden Leitgedanken über das gemeinsame Wohl und den Rechtsstatus des Einzelnen erwachsen aus der jeweiligen gemeinsamen Kultur, aus dem Begreifen und Verstehen der politischen Gemeinsamkeit in einer Sprache, aus der geografischen und weltpolitischen Lage des Gemeinwesens, aus den technisch-wissenschaftlichen Standards, aus einer gemeinsamen Geschichte, aus gleichgerichteten oder aufeinander abstimmbaren wirtschaftlichen Zielen. Jede Rechtsgemeinschaft braucht gemeinsame Werte und ein individuelles Ethos in Verantwortlichkeit für das Gemeinwesen.
Der moderne R. ist auf Sachlichkeit und Vernünftigkeit, Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit seiner Entscheidungen angelegt, wehrt jede Subjektivität und Voreingenommenheit des Entscheidungsträgers ab, erwartet eine Staatlichkeit in Distanz zu den Betroffenen, in Gelassenheit von Geschichtsbewusstsein und Lebenserfahrung, in maßstabsbewusster Selbstkontrolle, Gewaltenteilung und Gewaltenkooperation. Diese R.s-Idee wird allerdings teilweise in der Forderung missverstanden, der R. müsse frei von Werten und Ethik sein. Dieses Postulat kämpft für den unbefangenen, um Objektivität bemühten R., vergisst aber, dass der Aufbruch nach 1945 den wertefundierten Verfassungsstaat begründet hat und an die Zukunft weitergeben will. Der R. ist geprägt vom Friedensprinzip, verpflichtet sich den Menschen- und Bürgerrechten, begründet eine Herrschaft des Rechts, die Willkürentscheidungen ausschließt, anerkennt die Werte von Freiheit, Gleichheit, sozialer Zugehörigkeit jedes einzelnen Menschen im Gebiet und Einflussbereich des Staates.
Allerdings unterscheiden sich Normen und Werte in ihrem wechselseitigen Zusammenwirken. Normen sind verbindlich, Werte sind Überzeugungen von Gut und Böse, von Richtig und Falsch, die den Menschen ansprechen, an die Gemeinschaft des Rechts appellieren, aber niemals Verbindlichkeit beanspruchen. Normen fordern Vernünftigkeit. Werte stiften Sinn. Normen regeln eine Rechtsfolge, Werte vermitteln eine Idee. Die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen und das GG mögen etwas ewig Wahres kodifizieren, Rechte begründen, die von Menschen nicht erdacht, sondern ihm angeboren sind. Dennoch bleibt für die Naturwissenschaften wie für die normativen Wissenschaften der Ausgangsbefund, dass der Mensch zwar Wahrheit erkennen kann, aber nie sicher ist, ob er sie erkannt hat. Normen sind geschichtlich gewachsen und können sich mit der Entwicklung des Rechts und seinen bewussten, demokratischen Gestaltungs- und Erneuerungsaufträgen wandeln. Werte beanspruchen grundsätzlich Wahrheit, sind nicht abänderbar, können aber von dem irrenden Menschen nur annähernd begriffen, nicht verlässlich besessen werden. Normen begrenzen staatliche Macht. Werte bestreiten die freie Entscheidungsalternative und drängen zu Richtigkeit und Wahrheit. Normen befehlen, Werte überzeugen. Normen entzaubern die Welt in ihrer Rationalität und Folgerichtigkeit. Werte verzaubern in Hoffen und Staunen, in Humanität und Geborgenheit. Normen beanspruchen Rechtstreue. Werte stehen für Humanität, Nächstenliebe und ein Menschenbild, das die individuelle Existenz transzendiert.
Werte sind deshalb nicht Gegensatz zu Normen, sondern Entstehensquellen für Recht. Nimmt das Gesetz erfahrene und bewährte, auch erahnte und erhoffte Werte auf, gewinnt es an innerer Überzeugungskraft. Der demokratische Entstehensgrund eines Gesetzes begründet Verbindlichkeit, aber noch nicht ein Bewusstsein notwendiger Geltung und nachhaltiger Befolgungspflicht. Der moderne R. hofft, mit seiner Verfassung eine wertefundierte Ordnung geschaffen zu haben. Diese versteht sich aus sich heraus, erübrigt aber nicht, ein Wertebewusstsein lebendig zu halten.
4.2 Die Ethik der Gesellschaft
Der R. baut auf eine freie Gesellschaft, in der freie Bürger gemeinschaftstiftende Überzeugungen hervorbringen. Der Staat nimmt diese teilweise in die Verfassung auf, rückt sie auch als Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen ins Bewusstsein. Die ethischen Kriterien für gutes und schlechtes Handeln, für die Bewertung von Handlungsabsichten und Handlungsfolgen, für die Verantwortlichkeit (Verantwortung) gegenüber anderen bilden sich in Vernunft, Wissen und Gewissen des Menschen. Sie festigen sich in Traditionen und guter Gewohnheit, in der Kultur von Sprache und Kunst, begründen Vertrautheit und Vertrauen, entwickeln Formen und Riten, sind Gegenstand selbstkritischer Selbstbeobachtung. Die freie Gesellschaft braucht den redlichen Bürger, der dem anderen Menschen mit Anstand rücksichtsvoll begegnet, gegenseitiges Vertrauen schafft, auch selbstlos – „ehrenamtlich“ – handelt. Der wirtschaftliche Wettbewerb erwartet den ehrbaren Kaufmann, der nach bestem Wissen und Gewissen handelt, Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung folgt, die Prinzipien des lauteren Wettbewerbs beachtet, sich für sein Unternehmen verantwortlich weiß. Die „unsichtbare Hand“ (Smith 1759: 317) veranlasst den Landwirt, seine Ernte beinahe so zu verteilen, als wäre die Erde zu gleichen Teilen unter alle ihre Bewohner verteilt worden. Die Aufklärung will den Menschen veranlassen, seine „Kräfte dahin anzuwenden, daß Verstand und Tugend unter den Menschen zunehmen möchten“ (Wolff 1751: 2). Die unzulängliche menschliche Vernunft ist auf „Toleranz“ angelegt, die nicht das weichmütige Wort des Wohlmeinenden meint, das jeden Wohlklang für Wahrheit hält, sondern den intellektuellen Kraftakt fordert, zwischen vertretbarem und unvertretbarem Meinen zu unterscheiden. Freiheit dient im klassischen Verständnis v. a. der (sittlichen) Vervollkommnung des Menschen. Ein Staat, der Gewissensfreiheit (Gewissen, Gewissensfreiheit), Meinungsfreiheit und Handlungsfreiheit garantiert, braucht eine gefestigte Grundlage allg.er und verallgemeinerungsfähiger Überzeugungen, die den Frieden wahren, Hass und Rache unterbinden, Existenz und Entfaltung des einzelnen Menschen sichern, Sprache und Begegnung, aber auch Individualität und Persönlichkeit gewährleisten, zu Gemeinsamkeiten in Kultur, Wissenschaftlichkeit, Religion und Wirtschaft einladen.
5. Stetige Erneuerung der Rechtsstaatlichkeit
Der Kerngedanke des R.s, das Recht solle herrschen und nicht der Mensch, trifft auf neue Konfliktsituationen und menschliche Unzulänglichkeiten, in denen das Recht neu gesetzt und durchgesetzt werden muss.
Die Mitgliedschaft Deutschlands in der EU, einem notwendigen und erfolgreichen Staatenverbund, hat zur Folge, dass die urkundlich verbrieften Verfassungen der Mitgliedstaaten für ein nur vertraglich begründetes Europarecht geöffnet werden, das eine vergleichbare Verfasstheit nicht gewähren kann. Die Staaten handeln dort durch ihre Exekutive, nicht durch ihre Parlamente. Die wesentliche Gesetzgebungskompetenz liegt bei dem Exekutivorgan des Rates, die Gesetzesinitiative bei der Europäischen Kommission. Diese Art der Gesetzgebung bestimmt deren Themen, schwächt die Gewaltenteilung und die Bürgernähe. Soweit Recht nur einstimmig gesetzt werden kann, entwickelt die Union außervertragliche Entscheidungsorgane, vernachlässigt geltendes Recht, hat die rechtsverbindlichen Verschuldensgrenzen faktisch außer Kraft gesetzt. Die EZB ist zur Stabilisierung der Währung mit Unabhängigkeit ausgestattet, nutzt diese aber tatsächlich zu einer Umverteilungspolitik, die parlamentarisch so nicht entschieden würde. Die politische Aufmerksamkeit verschiebt sich zu gesamtwirtschaftlichen Daten, rechtfertigt sich vor einem Markt, weniger vor den Bürgern, bringt die hochverschuldeten Staaten in Abhängigkeit vom Finanzmarkt und schwächt damit die rechtsstaatliche Verantwortlichkeit gegenüber Union und Staatsbürgern. Die europäische Rechtsprechung mehrt die Hoheitsgewalt der Unionsorgane, mäßigt sie kaum.
Staat und EU nutzen neben dem Recht verstärkt die Macht des Geldes als Gestaltungsmittel, drängen mit diesem Verlockungspotential den Bürger in eine durch staatliche Bedingungen und Auflagen fremdbestimmte Freiheitswahrnehmung, gefährden durch diese Verteilungspolitik den Zusammenhalt der Rechtsgemeinschaft, weil der Zahlungsempfänger das Geld als zu gering beanstandet, der Zahlungspflichtige ein Übermaß der Zahllast rügt. Anstrengungslos empfangene Gelder entsolidarisieren. Zudem überspringt das Geld alle Kompetenzgrenzen, lässt sich nur schwer in einem Konnexitätsprinzip bändigen, das die Finanzkompetenz an die Sachkompetenz knüpft. Der Geldzuweisung fehlt auch die klare Entscheidungsalternativität. Eine Geldsumme erlaubt so viel Kompromisse, als eine Summe in Euro teilbar ist.
Moderne Formen der Digitalisierung, der anonymen Medien, auch der Fondswirtschaft im Finanzmarkt machen die Anonymität zum Geschäftsprinzip. Dadurch stellen sie die Idee der Freiheit auf den Kopf. Der Mensch verantwortet nicht mehr das, was er tut, mit seiner Person und seinem Namen, sondern diskriminiert andere in organisierter Unverantwortlichkeit oder lässt sein Kapital ohne eigenes Wissen und eigene Kontrolle wirken, bietet kaum noch einen Anknüpfungspunkt für rechtliche Zurechnung und Haftung. Weltweit tätige Unternehmen sind teilweise ortlos, können deshalb nur schwer einer staatlichen Rechtsordnung zugeordnet werden, bestimmen dennoch mit ihren Angeboten allg.e Lebensbedingungen.
Die maschinelle Güterproduktion durch Computer und Roboter verändert die Arbeitswelt grundlegend, veranlasst aber auch die Frage, ob die Erträge aus dieser Produktion allein den Kapitalgebern zustehen oder auf einen deutlich erweiterten Kreis der Produktionsbeteiligten verteilt werden müssen. Die Digitalisierung macht das Wissen zu einem Wirtschaftsgut, das bisher allein dem Organisator der Digitalsysteme zugewiesen wird, aber vermehrt dem Wissensgeber an seinem privaten PC gehören sollte. Rechtsstaatliche Freiheit muss Bestimmungsmacht und Verantwortlichkeit neu zuordnen.
Naturwissenschaftlich-technische Fortschritte (Innovation) fordern vom R., das wachsende menschliche Können deutlicher dem rechtlichen Dürfen zuzuweisen. Wenn der Mensch durch die Atomspaltung über die Kraft der Selbstvernichtung verfügt, in der Genforschung sich anschickt, die Identität des Menschen zu ändern, in der Entwicklung der Psychopharmaka den menschlichen Willen lenken kann, die Kriegsdrohne ohne Eigenrisiko Menschen vernichtet, muss der Mensch Herrschaft und Verantwortlichkeit für dieses von ihm veranlasste, sich aber verselbständigende Wirkungssystem zurückgewinnen. Das Stichwort der „KI“ spricht der Maschine menschliche Fähigkeiten zu, die sie nicht hat. Sie kann Geschehensabläufe veranlassen, die den Menschen nicht möglich wären, Wissen speichern, das ein menschliches Gedächtnis weit übersteigt, Wissen wirkungsvoller kombinieren als der Mensch es je vermöchte, damit Wissen und Handlungsmöglichkeiten weit über die Lernfähigkeit des Menschen hinaus anreichern. Doch die von Empathie, Gewissensverantwortlichkeit, Humanität und eigenständiger Zukunftseinschätzung geprägte menschliche Intelligenz erreicht eine Maschine nie. Der R. muss deshalb die Intelligenz, die Menschlichkeit unseres Zusammenlebens neu sichern.
Rechtsstaatlichkeit fordert Vernunft und Einsichtigkeit, begegnet aber einer Entwicklung der Gesellschaft, die ihre Rationalität in Teilrationalitäten verliert. Die Wirtschaft vernachlässigt im Prinzip der Kapitalmehrung die ökologische und regionale Vernunft, organisiert auch individuell medizinische und familiäre Unvernunft. Kapitalgesellschaften, im Streubesitz gehalten, werden anfällig für feindliche Übernahme, liefern damit die bisher persönlich verantworteten Produktionsstätten, Arbeitsplätze und Einkaufszentren den Mächtigkeiten von Spekulation und Spiel aus. Der Finanzmarkt wettet auf den Niedergang von Unternehmen und Staaten, stellt damit die Rechtfertigung der so erzielten Gewinne grundlegend in Frage. Naturwissenschaften und Technik entwickeln in ihrer Spezialisierung jeweils neue Erkenntnisse, ohne die Folgen dieses Erkenntnisgewinns abschätzen und verantworten zu wollen. Die sozialen Medien (Social Media) vermitteln Stimmungen und beeinflussen Verhaltensweisen, ohne dass die Adressaten sich dessen bewusst werden, gefährden damit die freiheitliche Selbstbestimmung. Der R. muss zu einer modernen Aufklärung beitragen, die eine ganzheitliche, dem einzelnen Menschen dienende Rationalität zurückgewinnt.
Rechtsstaatlichkeit meint grundsätzlich eine Kultur des Maßes. Diese muss gegenüber der Tendenz einer übermäßigen Verrechtlichung des Gemeinwesens neu entfaltet werden. Die Freiheitsrechte sind als definierte, begrenzte Rechtspositionen zu verstehen, berechtigen nur in den kleinen Alltagsfreiheiten zur Beliebigkeit, sind bei Mitbetroffenheit anderer Verantwortlichkeiten. Das Wirtschaftssystem neigt im Prinzip der Gewinnoptimierung zur Maßstabslosigkeit und damit zur Maßlosigkeit. In diesem Gewinnstreben schwächen v. a. anonyme Kapitalgesellschaften eine Sichtbarkeit der persönlichen Verantwortung, verschleiern die Zurechnung des Eigentums zur Person des Eigentümers, begründen weniger Versorgungssysteme und mehr Machtstrukturen. Werden diese Strukturen dann international zunehmend von staatlicher Hand genutzt, stellt sich das Grundsatzanliegen der Rechtsstaatlichkeit neu: Nicht Willkür soll herrschen, sondern das Recht, das den Rahmen für die freie Entfaltung des einzelnen Menschen setzt.
Literatur
P. Kirchhof: Der Bürger in Zugehörigkeit und Verantwortung, in: HStR, Bd. 12, 32014, § 283 • E. Schmidt-Assmann: Rechtsstaat, in: H. Kube u. a. (Hg.): Leitgedanken des Rechts. Paul Kirchhof zum 70. Geburtstag, Bd. 1, 2013, 237–248 • G. Kirchhof: Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009 • P. Kirchhof: Mittel staatlichen Handelns, in: HStR, Bd. 5, 32007, § 99 • W. von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, 2006 • C. Möllers: Gewaltengliederung, 2005 • E. Schmidt-Assmann: Der Rechtsstaat, in: HStR, Bd. 2, 32004, § 26 • W. Roth: Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum, 1994 • W. Kasper: Die theologische Begründung der Menschenrechte, in: D. Schwab u. a. (Hg.): Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft. FS zum 65. Geburtstag von Paul Mikat, 1989, 99–118 • J. von Eichendorff: Preussen und die Konstitutionen, in: ders.: Werke, Bd. 5, 1988, 95–133 • P. Kunig: Das Rechtsstaatsprinzip, 1986 • D. Merten: Rechtsstaat und Gewaltmonopol, 1975 • A. Smith: Theorie der ethischen Gefühle, 1759 • C. Wolff: Vernünfftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet, 1751.
Empfohlene Zitierweise
P. Kirchhof: Rechtsstaat, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Rechtsstaat (abgerufen: 24.11.2024)