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Version vom 5. Dezember 2022, 17:00 Uhr
I. Allgemeines/Philosophisch-ideengeschichtliche Grundzüge
Abschnitt drucken1. Name und Begriff
E. war nie ein eigener Kontinent aufgrund geographischer Gegebenheiten. Seine Einheit verdankt es der Geschichte. Die Abgrenzung nach Osten und Süden hin war immer unscharf: räumlich ist E. eine Halbinsel Asiens, geomorphologisch ist es eng mit Afrika verbunden. Üblicherweise zieht man die Grenze nach Osten vom Südfuß des Uralgebirges entlang der Nordküste des Kaspischen und der Ostküste des Asowschen Meeres bis zur Straße von Kertsch am Schwarzen Meer. Mit der Türkei und Russland ragen Staaten nach E. hinein, deren Landmasse zum größeren Teil in Asien liegt.
Der Name E. ist mythologischen Ursprungs. Nach der von Herodot überlieferten Sage wurde die phönikische Fürstentocher E. von dem als Stier verkleideten Zeus aus ihrer Heimat nach Kreta entführt. Der E.-Mythos (Mythos), wahrscheinlich auf vorgriechische Zeit zurückgehend, gelangte durch Isidor von Sevilla in den Schulunterricht des Mittelalters. E. auf dem Stier wurde seit der Renaissance ein beliebtes Thema der bildenden Kunst. Als abkürzendes Symbol für den zweitkleinsten Kontinent hat sich das Bild bis in die Gegenwart hinein erhalten.
Die moderne politische Ikonographie E.s ist freilich nicht durch den Stier, sondern durch die auf Richard Graf Coudenhove-Kalergi, den Gründer der Pan-E.-Bewegung, zurückgehenden zwölf Sterne geprägt worden (die sich wiederum an das Bild des himmlischen Jerusalem in der Apokalypse des Johannes anlehnen).
Mit der Sage von E. verbinden sich schon im Altertum geographische Vorstellungen. Die Spaltung der Oikumene in die als Inseln vorgestellten Teile Asiens und E.s findet sich schon in der jonischen Kartographie des 6. Jh. v. Chr.. In christlicher Zeit treten biblische Ideen der Völkerherkunft und Weltverteilung hinzu. Um 400 erscheint der E.-Begriff als Bezeichnung der nördlichen römischen Reichsteile am Mittelmeer im Gegensatz zu Asien und Afrika. Im Frankenreich umschreibt er den von christlichen Völkern bewohnten, durch die örtlichen Heiligen kenntlich gemachten nordalpinen Raum. Die Jafet-Historie (Gen 9 und 10) wird seit dem 7. Jh. auf E. hin gedeutet: Ham erhielt von Noach Afrika, Sem Asien und Jafet E.
Für die Begegnung und Entfaltung von Menschen und Völkern bot E. von Anfang an günstige äußere Bedingungen. Extreme Klimaunterschiede waren hier ebenso unbekannt wie ausgedehnte Wüsten, Steppen und Ödländer. Bes. im Süden, Norden und Westen war E. reich gegliedert: kaum ein anderer Teil der Erde besaß eine so lange Küstenstrecke und stand mit dem Meer in so enger Verbindung. Erzeugnisse der verschiedensten Art aus unterschiedlichen geographisch-klimatischen Zonen verwiesen die Menschen auf Austausch, Handel, arbeitsteilige Kooperation. Die Bevölkerungsdichte war immer hoch. Eine Fülle von Völkern lebte in E. auf engem Raum. Dies alles trug dazu bei, dass der europäische Kontinent in einem Jh. dauernden Prozess zum Zentrum von Wissenschaft, Wirtschaft, Zivilisation wurde.
Diese Entwicklung war vorbereitet in den mittelmeerischen Kulturen der Antike. Schon damals begannen sich – trotz engem räumlichem Zusammenhang – Orient und Okzident (Abendland) als etwas Verschiedenes zu empfinden. In den „Persern“ des Aischylos werden die Griechen den Persern mit den Worten vorgestellt: „Keines Menschen Knechte sind sie, keinem Menschen untertan“ (Aischylos: Zeile 242). Und bei Herodot erregt Solon das Erstaunen des Lyderkönigs Krösus, weil er den Nahen Osten „philosophierend“, also allein zum Zweck der Erkenntnis, bereist. Hier werden Grundzüge des europäischen Zugangs zur Welt sichtbar: politisch in der Freiheit gleichberechtigter Menschen (im Unterschied zu Herrschaft und Knechtschaft in orientalischen Reichen) und philosophisch im freien Erkunden und Wissenwollen (im Gegensatz zu östlicher Weisheit und Versenkung). Das reicht bis in unterschiedliche Körperhaltungen: auf der einen Seite das forschende, erfahrende Unterwegssein, auf der anderen die Meditation und das regungslos gesammelte Sitzen. Daher gilt als europäisch eine Lebensordnung, die getragen wird von beweglichen, erfinderischen, anpassungsfähigen Menschen; die bestimmt ist von Entdeckungsfreude und rationalem Zugriff auf die Welt; der die Individualität mehr bedeutet als die Masse, die Freiheit mehr als die Macht.
In den äußeren Verhältnissen E.s, aber noch mehr in der inneren Haltung der Europäer liegt es begründet, dass sich E. immer wieder gegen Versuche der Fremdbestimmung, der Unterwerfung durch äußere Mächte behauptet hat. Im Lauf der Jh. setzte es sich erfolgreich gegen zahlreiche Eroberer aus dem Osten und Südosten (Perser, Hunnen, Mongolen, Türken) zur Wehr. Aber auch Hegemoniebildungen im Inneren waren in E. nie von Dauer: das gilt sowohl für die Ansätze einer spanisch-deutschen Weltmacht im 16. Jh. wie später für die Eroberungen Ludwigs XIV., der Französischen Revolution und Napoleons – von den tönernen Reichen Benito Mussolinis, Adolf Hitlers, Josef Stalins im 20. Jh. nicht zu reden. Auch das Römische Reich und seine fränkischen und deutschen Fortsetzungen haben dauerhafte Traditionen nur begründet, soweit sie – über die Machtausübung hinaus – Rechtsordnungen und Formen zivilisierten Lebens zu schaffen verstanden. Die europäische Staatenwelt war stets pluralistischer und vielgliedriger als die der byzantinischen, mongolischen, osmanischen und großrussischen Nachbarn. Neben Großreichen und Nationen haben im europäischen politischen Haushalt immer auch kleine Länder, Stadtstaaten, föderative Gebilde eine Rolle gespielt. Kleinräumigkeit ist ein typisches Merkmal europäischen Lebens. „Alles Kolossale und Uniforme ist eindeutig uneuropäisch, und das ist das Geheimnis aller Verfeinerung und aller Eigenart europäischer Zivilisation“ (Halecki 1957: 6).
2. Grundzüge der Geschichte
Die Entstehung des modernen E., „the Making of Europe“ (Dawson 1932) beginnt mit dem Frankenreich. In den Gewichtsverlagerungen der Karolingerzeit, der „Achsendrehung der Weltgeschichte nach Norden“ (Henri Pirenne), grenzt sich das mittelalterliche E. einerseits vom islamischen Südrand des Mittelmeers, anderseits vom byzantinisch beherrschten Ost- und Südost-E. ab. Schon die Truppen, mit denen Karl Martell die Araber besiegte, werden „Europäer“ genannt. Als Karls des Großen Feldzug in Italien die Historiker zu einer neuen Kennzeichnung seines Herrschaftsraumes zwingt, wird E. zum Namen jenes Reiches, dessen Haupt der Kaiser – schon damals als pater Europae bezeichnet – ist. Die umfassende fränkische Integration schließt das Zeitalter der Völkerwanderung ab. Das Frankenreich und seine ostfränkisch-deutschen Nachfolger treten die Nachfolge des Imperium Romanum an; sie verstehen sich zugl. als Vormacht des Christentums und als Hüter und Erneuerer antiker Bildung und Kultur.
Das werdende E. wird getragen von Romanen, Germanen und Slawen. Aus dem allmählichen Zerfall der griechischen Oikumene gehen die slawischen Völker und Sprachen hervor. Aus den Resten des römischen Reiches erwächst die Sprach- und Völkervielfalt der Romania. Die germanische Welt kommt als neues Ferment der Staatenbildung (Staat) hinzu; sie schafft die Grundformen der gesellschaftlichen Struktur des Kontinents im Zeitraum von 800 bis 1800: die Adelsherrschaft mit monarchischer Spitze, gestützt auf Grundbesitz und Beherrschung des Landes (Feudalismus). Germanische Lebensformen und –gewohnheiten reichen tief in das staatliche und kirchliche Leben hinein (Fehden, Adelskriege, Eigenkirchenwesen, Laieninvestitur).
Im Ringen um die rechte Ordnung in der christlichen Welt (Investiturstreit) bilden sich freiere Formen der Autonomie von Kirche und politischer Welt heraus; dauerhafte Friedensordnungen entstehen, zunächst zeitlich begrenzt, in kleinen Kreisen; die Macht von Faust und Fehde wird begrenzt, die Ebenbürtigkeit der Monarchen und Staaten findet Anerkennung, es entwickeln sich Ansätze eines gemeinsamen Rechts (Verbot der Tötung Kriegsgefangener, beginnende territoriale Integrität der Staaten). Zu den Patronen E.s gehören Martin von Tours und Benedikt von Nursia, Columban von Luxeuil und Winfrid Bonifatius – im 20. Jh., in der Zeit Johannes Pauls II., kommen die Slawenapostel Kyrillos und Methodios sowie Birgitta von Schweden, Katharina von Siena und Edith Stein hinzu.
In E. wurden wichtige Pilotprogramme für die moderne Welt entwickelt. Viele Rationalitätsstrukturen der globalen One World haben hier ihren Ursprung. Der beherrschende Zugriff des Menschen auf die Natur, der Schritt von der gärtnerisch-pflegenden Agrikultur zur Kultur als einem Werk bewusster Veränderung und Neugestaltung, die Entwicklung von Fernhandel, Technik, serieller Produktion, die Entstehung einer Wissenschafts-, aber auch einer Gedächtniskultur – das alles ist europäisch. Weltweit messen und gliedern wir Zeit und Raum mit Maßen, die in E. (z. T. aus älteren jüdischen und vorderasiatischen Quellen) entwickelt und eingeschliffen wurden: Tag, Stunde, Woche, Monat. Zeitrechnung und Zeitmessung sind gemeineuropäisch, die Raummaße immerhin kontinentaleuropäisch (man denke an das Urmeter in Paris!). Das Projekt Moderne könnte man in einer Kurzfassung so umschreiben: Herrschaft über Raum und Zeit; Zähmung der Natur; Entfaltung individueller Freiheit. Das Programm hat ein weltweites Echo gefunden; sein Siegeszug ist noch keineswegs am Ende.
Auch spezifische politische Strukturen sind aus dem Experiment hervorgegangen. Für die rechte Ordnung in der Christenheit war E. der erste Versuchs- und Erprobungsort. Die christliche Tradition gab nicht nur die Natur in die Hände des Menschen, sie befreite die Menschen auch vom Druck der antiken religiös-politischen Einheitskulturen. Der moderne Dualismus von Staat und Kirche (politischer Sphäre und Gewissenssphäre [ Kirche und Staat ]) trat ans Licht: bei Augustinus, in der mittelalterlichen Zweigewaltenlehre, im Investiturstreit, im Wormser Konkordat, dem ersten Vertrag zwischen Kirche und Staat in der Weltgeschichte (1122). Staunend entdeckte man, dass die Christen in der einen Christenheit in zwei Rechtskreisen lebten, die einander gegenüberstanden, die miteinander paktieren, aber auch gegeneinander streiten konnten. Die Welt schwang nicht mehr um eine einzige Achse. Politik wurde aus einem übermächtigen, mit Religion eng verwobenen Schicksal zu einer menschlichen, immer neu zu lösenden Aufgabe: zu Menschenwerk.
In E. entwickelte sich eine bis heute wirksame verbindliche Rechtskultur – beruhend auf christlichen Überlieferungen und auf der Formkraft des Römischen Rechts. Historisch trat sie vor allem als Gegengewicht zu staatlicher und nationaler Machtentfaltung, als Bändigung emotionaler Leidenschaften, als Beitrag zu friedlicher Verstetigung der Politik hervor.
Das Zusammengehörigkeitsgefühl der europäischen Völker gründet in Erfahrungen einer gemeinsamen Geschichte, einer gemeinsamen christlichen Erziehung. Klöster und Kathedralschulen schufen seit dem frühen Mittelalter eine ganz E. formende Bildungstradition. „Schola“ und „Clericus“ wurden Grundworte für Schule und Gebildete in vielen europäischen Sprachen. Die Universität als Vereinigung aller Wissenschaften, als Hohe Schule für intellektuelle Berufe erwuchs in einem E., das vom Christentum geprägt war. Gebetsverbrüderungen, gemeinsame Feste, christlicher Kalender und christliche Zeitrechnung und nicht zuletzt die „leise integrierende“ Wirkung der römischen Liturgie (Tellenbach 1950) – dies alles ließ einen europäischen Kulturraum entstehen, der geprägt wurde von der Botschaft des Christentums, der sich immer wieder herausfordern ließ von antiken Überlieferungen der Poesie und Philosophie und der auf der Grundlage des Lateinischen (im Osten des Griechischen und Kirchenslawischen) eine Fülle eigener nationaler Literaturen hervorbrachte.
Trotz gemeinsamer Prägungen (Rittertum) und gemeinsamer Unternehmungen (Kreuzzüge) blieb das christlich gewordene E. freilich in sich spannungsreich; es verfestigte sich weder zu einer Theokratie, noch erstarrte es in byzantinischen Formen des Cäsaropapismus. Aus dem mittelalterlichen Kampf der Universalgewalten ging kein neues „Drittes Rom“ hervor; vielmehr wurden die modernen Völker und Staaten zu Erben des römischen Universalismus. In der europäischen Staatengemeinschaft, die sich im späteren Mittelalter bildet, kann man bereits die Umrisse der modernen National- und Mehrvölkerstaaten erkennen. Die europäische Ausbreitung über die Welt wird von Nationen getragen und vorangetrieben (Portugiesen, Spanier, Engländer, Holländer, Franzosen), wobei sich Motive der Mission, der Suche nach einem Reich im Osten, der Entdeckungs- und Eroberungslust, der Gold- und Herrschgier überlagern. So entstand ein durch Verkehr und Handel verbundener europäisch-atlantischer Raum: der Atlantik wurde aus dem gefahrendrohenden Okeanos des Mittelalters zu einem vertrauten europäischen Binnenmeer. Das alte E. bildet die Urform dessen, was man später „den Westen“ nennt; im 18. Jh. kommen die USA als „neuer Westen“ hinzu (Westen).
Das neuere E. ist von der christlichen Tradition geprägt, jedoch in Konfessionen gespalten; es bildet eine Zivilisationsgemeinschaft, die jedoch häufig durch Staatenrivalitäten und Kriege erschüttert wird; es bildet ein zunehmend einheitliches („E.-zentrisches“) Geschichtsbild, ein „Recht der zivilisierten Staaten“ und eine gemeinsame europäische Rationalität und Technik aus – doch es weckt in den unterworfenen Völkern der Welt zugl. den Wunsch nach Befreiung und Selbstverfügung. Auf dem Weg der Kolonisierung (Kolonialismus), der Ausbreitung der europäischen Zivilisation, des diplomatischen Verkehrs, des internationalen Rechts entsteht im Lauf der neueren Jh. ein Weltstaatensystem, in dem die Dynamik E.s globale, den ganzen Erdkreis umspannende Formen annimmt. Während die älteren Reiche in historischen Sackgassen enden, beginnt mit der europäischen – und später internationalen – Staatengemeinschaft ein Prozess universeller Verflechtung der Völker und Nationen. Was wir heute Globalisierung nennen – die Entstehung eines Weltmarkts der Kommunikation, des Verkehrs, des Handels und der Kapitalströme –, ist nur der Endpunkt dieser Entwicklung.
3. Europäische Integration
Die Zeit von den großen Entdeckungen bis zum Ersten Weltkrieg steht im Zeichen einer kaum angefochtenen Dominanz der europäischen Kultur. Es ist die Zeit der Europäisierung der Welt. Die Europäer übten in der Neuzeit eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Vorherrschaft über weite Teile der Welt aus. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs war ein Drittel der Erdoberfläche europäisches Kolonial- oder Einflussgebiet. E. setzte die Standards – ob in Technik oder Administration, ob in Wirtschaft oder Militärwesen, ob in den Wissenschaften oder in den Künsten.
Doch im Ersten Weltkrieg zerbrach diese Vorrangstellung, und im Lauf des 20. Jh. schwand die Vorherrschaft E.s in der Welt nahezu ganz dahin. Nach dem Ende der übernationalen Reiche (der Habsburger, Osmanen, Zaren) vervielfältigten sich die Nationalitätenfragen bes. im Osten und Süden des Kontinents. Die 1917–1920 geschlossenen Friedensverträge (von Brest-Litowsk bis Versailles und Sèvres) führten nicht zu dauerhaftem Frieden. Der Völkerbund in Genf erwies sich – ohne amerikanische Beteiligung – als zu schwach zur Kanalisierung der politischen Dynamik E.s. Seit den 20er Jahren strebten autoritäre und totalitäre Regime eine Revision der nach dem Krieg gezogenen nationalstaatlichen Grenzen an. Der alte Kontinent drohte sich in ein „E. der Diktaturen“ (Besier/Stoklosa 2006) zu verwandeln.
Die Politik A. Hitlers und J. Stalins und der Zweite Weltkrieg zerstörten das verhängnisvoll geschwächte E. gänzlich. Es verlor für längere Zeit die Kraft zu einheitlichem politischem Handeln. Der Schwund traf Sieger und Besiegte gemeinsam. Nach zwei Weltkriegen blieb von der Glorie europäischer Herrschaft und Kultur nur noch matter Glanz übrig. Die außereuropäische Welt entzog sich endgültig der Vormundschaft des alten Kontinents. Die Kolonialreiche der Engländer, Franzosen, Holländer, Belgier und Portugiesen lösten sich auf. Ihr Ende führte weltweit zu einer Ent-Europäisierung der Kultur. Zugl. zog der Ost-West-Konflikt eine Grenzlinie mitten durch E. Zum ersten Mal in seiner Geschichte wurde der Kontinent in gegensätzliche Blöcke (Warschauer Pakt im Osten, WEU und NATO im Westen) geteilt.
Trotz dieser Schwächung und Teilung war jedoch die geistige und politische Dynamik der Europäer nach 1945 nicht endgültig gebrochen. Im Westen kamen seit 1951 auf Initiative Robert Schumans, Konrad Adenauers und Alcide De Gasperis Prozesse wirtschaftlicher, später politischer Zusammenarbeit in Gang. Diese Entwicklung verband sich seit den 70er Jahren mit den von Polen ausgehenden Freiheitsbewegungen in Mittel- und Ost-E., die 1989–1991 zum Sturz der kommunistischen Herrschaft und zur Auflösung der UdSSR führten.
R. Schumans Initiative betraf die Wirtschaftspolitik, die Bereiche Kohle und Stahl, sie zielte auf die Schaffung gemeinsamer Interessen zwischen Frankreich und Deutschland. Damit kam eine bis heute anhaltende Dynamik in Gang. 1967 entstand aus der Fusion von EGKS, EWG und Euratom die EG. Es folgte die Bildung einer Teil-Exekutive (Rat der Europäischen Union, Europäische Kommission), eines EuGH und eines – seit 1979 von den Völkern direkt gewählten – &pfv;Europäischen Parlaments. 1992 war der Europäische Binnenmarkt vollendet. 1993 lag mit dem hart umkämpften Vertrag von Maastricht ein erster verbindlicher Bauplan für ein Europäisches Haus vor. In den folgenden Jahren wurde die EWWU vollendet, der Schengen-Vertrag über die Abschaffung der stationären Grenzkontrollen geschlossen (1985), der Euro eingeführt (2002). Die EG wurde zur EU. Sie erweiterte sich, am stärksten nach Osten – eine Folge des Falls der Mauer, des Endes der UdSSR, der Befreiung der mittel-, ost- und südosteuropäischen Länder. 2004 kamen zu den 381 Mio. Menschen in 15 EU-Staaten rund 74 Mio. Einwohner der Länder Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Ungarn, Slowakei, Slowenien, Tschechien und (Griechisch)Zypern hinzu. Es folgten Bulgarien und Rumänien (2007) und Kroatien (2013).
Westeuropäische Integration und osteuropäische Freiheitsbewegungen haben die Spaltung E.s in zwei Blöcke beendet. Sie waren jedoch bisher nicht imstande, E. seine alte Selbständigkeit und eigenes Gewicht in der Weltpolitik zurückzugeben. Es zeigte sich, dass E. die durch die Auflösung des Ostblocks entstandenen Probleme, v. a. im ehemaligen Jugoslawien, nicht aus eigener Kraft bewältigen konnte. Im Konflikt mit Serbien musste es die USA und die NATO um Hilfe angehen. Als militärischer Akteur hat die EU nur geringes Gewicht. International relevant ist sie allenfalls in der Klimapolitik. Die EU fühlt sich in erster Linie für den Frieden nach innen verantwortlich, kann jedoch die Weltpolitik und den Weltfrieden kaum mitgestalten. Eine GASP ist erst im Aufbau. So ist die EU nach dem Urteil Janusz Reiters bisher mehr eine Ruhegemeinschaft als ein aktives Element der Weltpolitik.
Trotz mehrerer Anläufe ist es bisher nicht gelungen, der EU eine Verfassung zu geben. Der Verfassungsvertrag von 2005 scheiterte an Einsprüchen in Frankreich und den Niederlanden. Als Ersatz dient gegenwärtig der im Dezember 2009 in Kraft getretene Vertrag von Lissabon. Er erweiterte die EG- und EU-Verträge durch die rechtliche Fusion von EU und EG, schuf das neue Amt des Präsidenten des Europäischen Rates, gründete einen Europäischen Auswärtigen Dienst und entwickelte die Regelungen zu EU-Militäreinsätzen in einer Weise weiter, die es erlaubt, von einer Verteidigungsunion zu sprechen.
Die heutige Lage ist gekennzeichnet durch die Suche nach dem Platz E.s in der gegenwärtigen, nicht mehr bipolaren, sondern multipolaren Welt. Im transatlantischen Dialog der Europäer und der Amerikaner traten heute jene Eigenarten europäischer Kultur hervor, die nicht – oder nur teilweise – ins Spiel der Globalisierung eingegangen sind. Die heimischen Widerlager der europäischen Expansionsdynamik werden sichtbar: Kleinräumigkeit, zähes Festhalten an Traditionen, die Wertschätzung des Verschiedenen, die friedeschaffende Kraft von Rechts- und Sozialstaatlichkeit, die Bedeutung einer allen gemeinsamen (im Zweifel kostenlos zugänglichen) staatsbürgerlichen Grundbildung und anderes mehr. Die meisten EU-Staaten haben die Dynamik des Marktes einer wirtschaftspolitischen Ordnung unterworfen. Sozialpolitik ist für sie ein unentbehrlicher Teil der Ökonomie. Der mit Elementen der „guten Ordnung“ gesättigte europäische Begriff von Ökonomie und Politik hebt sich von der – zuletzt in der Computerrevolution bezeugten – globalen Dynamik der USA, ihrem Vertrauen in die eigene Kraft, ihrer imperialen Selbstentfaltung deutlich ab.
Die europäische Integration ist etwas Neues in der Geschichte. Im Gegensatz zum amerikanischen Prinzip des „E pluribus unum“ erstrebt sie (nur) so viel Einheit, wie zu gemeinsamem Handeln nötig ist, ohne jedoch die Verschiedenheit der Nationen, der Sprachen, der Lebensweisen zu leugnen und zu nivellieren. Sie verzichtet bewusst auf eine Gemeinsprache, einen europäischen way of life. Ob sie mit diesem Konzept obsiegt, ist offen. Die Risiken sind groß, historische Beispiele und Vorbilder fehlen. Immer wieder treten – wie jüngst mit der Flüchtlingskrise – Rückschläge ein. Doch E. hat sich aus Krisen und Katastrophen immer wieder mit neuer Kraft erhoben. Das Experiment Europäische Integration ist keineswegs am Ende.
Literatur
J. Paulmann: Globale Vorherrschaft und Fortschrittsglaube. Europa 1850–1914, 2016 • R. Schieffer: Christianisierung und Reichsbildungen. Europa 700–1200, 2013 • A. Wirsching: Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, 2012 • N. Davies: Vanished Kingdoms – The History of Half Forgotten Europe, 2011 • H. A. Winkler: Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert, 2009 • G. Besier/K. Stoklosa: Das Europa der Diktaturen: eine neue Geschichte des 20. Jahrhunderts, 2006 • P. Krüger: Das unberechenbare Europa. Epochen des Integrationsprozesses vom späten 18. Jahrhundert bis zur Europäischen Union, 2006 • T. Judt: Postwar. A History of Europe Since 1945, 2005 • D. Cannadine (Hg.): Penguin History of Europe, ab 2001 • M. Salewski: Geschichte Europas. Staaten und Nationen von der Antike bis zur Gegenwart, 2000 • P. Blickle (Hg.): Hdb. der Geschichte Europas, 10 Bde., ab 2000 • W. Schmale: Geschichte Europas, 2000 • R. Elze/K. Repgen (Hg.): Studienbuch Geschichte. Eine europäische Weltgeschichte, 2 Bde., 1999/2000 • N. Davies: Europe. A History, 1996 • B. Beutler (Hg.): Reflexionen über Europa, 1992 • R. Brague: Europe. La voie romaine, 1989 • E. Schmitt (Hg.): Dokumente zur Geschichte der Europäischen Expansion, 7 Bde., 1986–2008 • G. Duby: Europa im Mittelalter, 1986 • A. Langner (Hg.): Katholizismus, nationaler Gedanke und Europa seit 1800, 1985 • D. Gerhard: Old Europe. A Study of Continuity 1000–1800, 1981 • J. Schwarz (Hg.): Der Aufbau Europas. Pläne und Dokumente 1945–1980, 1980 • W. Hallstein: Die Europäische Gemeinschaft, 51979 • K. v. Raumer: 1648/1815: Zum Problem der internationalen Friedensordnung im älteren Europa, 1963 • D. de Rougement: Europa. Vom Mythos zur Wirklichkeit, 1962 • M. Beloff: Europe and the Europeans, 1957 • J. Fischer: Oriens – Occidens – Europa, 1957 • O. Halecki: Europa. Grenzen und Gliederung seiner Geschichte, 1957 • T. Schieffer: Winfrid-Bonifatius und die christliche Grundlegung Europas, 1954 • H. Gollwitzer: Europabild und Europagedanke, 1951 • G. Tellenbach: Vom Zusammenleben der abendländischen Völker im Mittelalter, 1950 • H. Pirenne: Mahomet et Charlemagne, 1937 • C. Dawson: The making of Europe, 1932.
Empfohlene Zitierweise
H. Maier: Europa, I. Allgemeines/Philosophisch-ideengeschichtliche Grundzüge, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Europa (abgerufen: 25.11.2024)
II. Historische Entwicklungen: Mittelalter
Abschnitt drucken1. Antike Voraussetzungen
E. war im geographischen Weltbild der Antike einer von drei Erdteilen im Umfang eines Viertels des Weltganzen mit schwankender Landgrenze zu Asien. Eine bestimmte Identität in politischer, sprachlicher oder religiöser Hinsicht im Unterschied zu den anderen Erdteilen kam E. nicht zu. Jahrhundertelang bestand eine deutlich markierte Zweiteilung in das im Süden und Westen dominierende Imperium Romanum, das auch Teile von Asien und Afrika einschloss, und die politisch kaum organisierten Länder des Nordens und Ostens, die als „barbarisch“ empfunden wurden. Nur das Römerreich wurde zum Ausbreitungsraum des Christentums und des Judentums, die ebenso wie später der Islam in Vorderasien wurzelten.
Aus dem Zerfall des Imperiums seit etwa 400 und der sog.en Völkerwanderung ergab sich ein neues Gefüge, das von vier Faktoren bestimmt war: der Etablierung germanisch-romanischer Reiche mit lateinischem Christentum (von England bis Italien), der Selbstbehauptung des östlichen Kaiserstaates (Byzanz) mit orthodoxem Christentum, dem Erwachen heidnischer Völker slawischer Sprache im Osten und germanischer Sprache im Norden sowie seit dem 7. Jh. der arabischen Expansion, die 711 auch in E. Fuß fasste, als sie auf die Iberische Halbinsel vordrang.
2. Früh- und Hochmittelalter
Die Entwicklung vom 8. bis zum 13. Jh. war in E. bestimmt von der Ausbreitung des Christentums im spannungsreichen Nebeneinander von lateinischer und griechischer Kirche.
Im Westen lag die Initiative beim Frankenreich der Karolinger. Sie betrieben mit angelsächsischer Unterstützung die Christianisierung ihres rechtsrheinischen Vorfelds, was in der Unterwerfung und zugl. Missionierung (Mission) der Sachsen durch Karl den Großen (768–814) gipfelte. Als Herrscher über einen Großteil der lateinischen Christenheit (vereinzelt literarisch als E. gerühmt) beanspruchte Karl seit seiner Kaiserkrönung (800 durch den Papst) Gleichrangigkeit mit der östlichen Traditionsmacht Byzanz. Die Nachfolger sahen von weiteren Eroberungen ab, sodass die Christianisierung Skandinaviens (mit englischer Beteiligung) vom 9. bis zum 11. Jh. ohne militärische Intervention von außen der Eigenständigkeit Dänemarks, Norwegens und Schwedens Raum gab. Auch nach Osten beschränkte sich die erneute Zwangsmission unter Otto I. (936–73) auf die Elbslawen (Wenden), wohingegen sich Polen, Böhmen, Ungarn und Kroatien bis gegen 1000 durch eigene Anführer der lateinischen Kirche zuwandten.
In Byzanz, das sich in Asien ständig der Araber zu erwehren hatte und als E. bloß eine kleine Provinz westlich der Hauptstadt bezeichnete, blieb das spätantike Leitbild vom Kaiser als Oberhaupt eines Universalreichs aller Gläubigen lebendig. Das Imperium und die griechische Kirche wurden in ihrer Reichweite gleichgesetzt, was es den seit dem 9. Jh. orthodox getauften Bulgaren und Serben sehr schwer machte, sich bis zum Ende des 12. Jh. politisch von Byzanz zu emanzipieren. Nur Russland, das nie zum Römerreich gehört hatte, nahm 988 eigenständig die Orthodoxie an und grenzte sich damit dauerhaft von der lateinischen Welt ab.
Die 711 in Spanien eingedrungenen islamischen Araber errichteten 756 ein gesondertes Emirat, 929 den Kalifat von Córdoba (bis 1031), bevor im 11. Jh. vom christlich gebliebenen Nordrand her die Rückeroberung in Gang kam, die sich bis zum Ende des Mittelalters hinzog. Andere Muslime aus Nordafrika sicherten sich seit 831 die Herrschaft über Sizilien und zeitweilig auch in Unteritalien. Ihnen traten im späten 11. Jh. Normannen aus Nordfrankreich mit Erfolg entgegen und etablierten 1130 im Widerstreit zu beiden christlichen Imperien ein multikulturelles Königreich mit dem Zentrum Palermo, wo sich eine muslimische Minderheit bis weit ins 13. Jh. hielt.
Die stärkste Dynamik entfaltete die lateinische Sphäre, die, anfangs der griechischen und der arabischen kulturell unterlegen, im Laufe des Mittelalters die anderen Teile E.s überflügelt hat. Das westliche Imperium, das 962 von Otto I. auf der schmaleren Basis des ostfränkischen, später deutschen Reiches sowie großer Teile Italiens (bis nach Rom) erneuert wurde, blieb bis weit ins 11. Jh. die Vormacht, war aber nicht länger der politische Gesamtrahmen der lateinischen Christenheit. Ihn füllte daneben eine wachsende Zahl von prinzipiell gleichrangigen Reichen aus, die durch Könige von Gottes Gnaden mit geistlicher Weihe regiert wurden und schon deshalb einer eigenen Kirchenorganisation (mit Erzbischof) bedurften. Überall setzte sich früher oder später die dynastische Erbfolge durch, während das Kaisertum an die Wahl durch die deutschen Fürsten und die Krönung durch den Papst in Rom gebunden war, was zu immer längeren Unterbrechungen in der Sukzession führte. Von 1056 bis 1155 gab es bis auf vier Jahre keinen allg. anerkannten Kaiser des Westens.
Umso mehr brachte sich als übergeordnete Instanz das Papsttum (Papst) zur Geltung, das in der Mitte des 11. Jh. zur Zentralisierung der Gesamtkirche überging (und dabei 1054 den Bruch mit der Orthodoxie in Kauf nahm). Seit dem Investiturstreit entzog es sich der Verfügbarkeit durch weltliche Gebieter und setzte seine geistliche Strafgewalt auch gegen regierende Herrscher ein. Die Päpste ergriffen die Initiative zu den „international“ geführten Kreuzzügen und boten legitimierenden Rückhalt für Machtverschiebungen innerhalb von E., was sich zuerst bei den Normannen Unteritaliens, später bei der Formierung christlicher Reiche in Spanien und Portugal zeigte und um 1200 in den Anspruch auf Lehnshoheit über weite Teile des Kontinents mündete. Als oberste Gesetzgeber und Richter der lateinischen Kirche bewirkten sie grenzüberschreitende Rechtseinheit und schufen mit den Laterankonzilien ein Forum gemeinsamer Beratung und Begegnung. Sie förderten gesamtkirchlich agierende Ordensgemeinschaften (Orden) und sanktionierten die Entstehung der ersten Universitäten.
Politisch bestand Lateineuropa um 1200 aus sechzehn gleichartigen, auf Adel und Kirche gestützten Königreichen mit dem alpenübergreifenden Imperium in der Mitte. Nachdem Friedrich I. Barbarossa (1152–90) eine direkte Herrschaft in (Ober-)Italien kaum noch durchzusetzen vermocht hatte, gelang infolge der Heirat seines Sohnes Heinrich VI. (1190–97) mit der Erbin des normannischen Sizilien eine Zusammenfassung der ganzen Halbinsel, die freilich das Verhältnis zum Papsttum schwer belastete. Nicht zustande gekommen ist eine eigene Monarchie in Irland und Wales, wo sich die englischen Könige von außen der Herrschaft bemächtigten. Umgekehrt zerfiel in Polen (ebenso wie in Russland) die bereits erreichte Reichseinheit durch Erbteilungen wieder in einzelne Fürstentümer. Ganz aus dem Rahmen fielen das erst im 9. Jh. besiedelte Island, wo sich bis ins 13. Jh. eine oligarchisch verfasste Bauernrepublik hielt, sowie die autonome Seestadt Venedig, die von einer kaufmännischen Führungsschicht regiert wurde. Byzanz wurde erst im 12. Jh. nach schweren Gebietsverlusten in Kleinasien zu einer vorwiegend europäischen Macht, die jedoch auch auf dem Balkan Einbußen erlitt und sich die Feindschaft der sizilischen Normannen wie auch der Venezianer zuzog. Am Ende standen 1204 die Okkupation Konstantinopels durch den Vierten Kreuzzug und die Errichtung eines lateinischen, dem Papst ergebenen Kaisertums, das indes nicht zur Integration der Orthodoxie in die westliche Kirche führte und nach 57 Jahren wieder erlosch. Zu einer Randerscheinung war der europäische Islam geworden, der seine Herrschaft allein im Süden Spaniens (um Granada) behauptete.
Obgleich das Zusammenwachsen des Kontinents durch die Ausbreitung von städtischem Leben und Geldwirtschaft, die Intensivierung von Fernhandel und Reiseverkehr sowie die gemeinsame lateinische Bildung begünstigt wurde, ist ein explizites E.-Bewusstsein weiterhin kaum fassbar. Vielmehr dominierten die Selbstbeschreibungen als Christianitas oder ecclesia, auch als orbis Romanus oder Okzident (Abendland), um einen Kontrast zum Heidentum anderer Weltgegenden einschließlich des Islam auszudrücken. Die Vorstellung von einem politischen Verbund der christlichen Herrscher in E. findet sich so wenig wie gesonderte kartographische Darstellungen des Erdteils.
3. Spätmittelalter
Im Ostseeraum kam im 13./14. Jh. die Christianisierung E.s zum Abschluss. Finnland wurde durch Eroberung der schwedischen Kirche angeschlossen. In Estland wurden anfängliche dänische Missionare vom Ritterorden der Schwertbrüder verdrängt, der auch Livland (um Riga) unterwarf und bald darauf im Deutschen Orden aufging. Dessen Auftrag war es seit 1231, die heidnischen Prußen zu bekehren, was zur Etablierung eines vom Reich und von Polen unabhängigen Ordensstaates neuer Art führte. Am längsten widersetzte sich Litauen, das nach einer episodenhaften früheren Königstaufe (1253) erst 1386 als Folge einer dynastischen Verbindung mit Polen das Christentum annahm.
An der Spitze der lateinischen Welt verfiel die Autorität der Kaiser seit der Absetzung Friedrichs II. durch den Papst (1245) zusehends und damit zugl. die Reichsgewalt südlich der Alpen. Kaiserkrönungen in Rom fanden nur noch 1312, 1328, 1355, 1433 und 1455 statt. Das Papsttum geriet nach seinem Sieg über die Staufer in Italien in wachsende Abhängigkeit von Frankreich und verlegte 1305/09 seine Residenz nach Avignon. Der Versuch, dieses „Exil“ zu beenden, führte zum Großen Abendländischen Schisma (1378–1417), in dem ein römischer und ein avignonesischer, zuletzt noch ein dritter Papst konkurrierten. Zu überwinden war der Zwiespalt nur durch ein allg.es, also gesamteuropäisches Konzil, das 1414–18 in Konstanz tagte und einen neuen Papst wählte, der nach Rom zurückkehrte. Seine Nachfolger im 15. Jh. behaupteten ihren innerkirchlichen Primat, verzichteten aber auf aktives Reformhandeln und agierten politisch nur noch im Rahmen Italiens.
Außerhalb des Imperiums kam das größte Gewicht Frankreich und England zu, die seit der normannischen Eroberung des Inselreichs (1066) eng aufeinander bezogen waren. Die englischen Herrscher, die als Vasallen der französischen Könige über reichlichen Festlandsbesitz verfügten, waren im 12. Jh. deutlich überlegen, während im 13. Jh. die Krone Frankreichs die Oberhand gewann und den Engländern die meisten Gebiete abnahm. Aus dem Erbanspruch des englischen Königs auf den französischen Thron erwuchs der Hundertjährige Krieg (1337–1453), an dessen Ende sich die Engländer trotz zeitweise großer Siege ganz aus Frankreich zurückziehen mussten. Mitbedingt durch diesen Ausgang stürzte England in die blutigen Thronwirren der Rosenkriege zwischen den Häusern York und Lancaster (1455–85), während sich die französische Monarchie der Herausforderung durch die nach eigenem Königtum strebenden Herzöge von Burgund zu erwehren hatte.
An seiner Peripherie erlebte E. die Entstehung beachtlicher Großreiche. So wurde Aragon durch den Erwerb von Sizilien (1282), Sardinien (1326) und weiteren Inseln, 1435 auch noch des Königreichs Neapel zur Vormacht im westlichen Mittelmeer, bevor es 1479 durch Heirat zur Vereinigung mit Kastilien und damit zur gesamtspanischen Monarchie kam. Im Norden fanden Dänemark, Norwegen und Schweden 1397 in der Kalmarer Union zusammen, die mit Unterbrechungen bis 1523 Bestand hatte. Im Osten führte der Mongoleneinfall von 1237/42 zur langfristigen Tatarenherrschaft über die russischen Fürstentümer und indirekt zu deren Einigung unter Führung Moskaus. 1301/08 erwarb das in Neapel regierende Haus Anjou die Krone Ungarns und dazu 1370 diejenige Polens, die jedoch nach 1382 wieder verlorenging, als sich das erwähnte Doppelreich Polen-Litauen (1385/86) anbahnte, das tief nach Russland hineinragte. 1387 fiel Ungarn an den Luxemburger Sigismund, der später das römisch-deutsche Königtum, die Krone Böhmens und 1433 noch das Kaisertum hinzugewann. Eine Verbindung mit Böhmen erstrebte 1469 auch der ungarische Wahlkönig Matthias Corvinus (1458–90), der sich zudem Schlesien, Mähren, (Nieder-)Österreich und Steiermark sicherte und zuletzt in Wien residierte.
Die 1261 nach Konstantinopel zurückgekehrten byzantinischen Kaiser herrschten nur noch über ein allseits bedrohtes Kleinreich, das im frühen 14. Jh. den Aufstieg Serbiens zur Großmacht hinnehmen musste, v. a. aber von den türkischen Osmanen stranguliert wurde, die sich ganz Kleinasien unterwarfen und 1354 nach E. übersetzten. In wenigen Jahrzehnten zwangen sie große Teile der Balkanhalbinsel unter ihre islamische Herrschaft und stießen bis an die Grenze Ungarns vor. Dringend erbetene Hilfe aus dem lateinischen Westen blieb aus, weil die gewünschte Kirchenunion nicht durchzusetzen war, so dass die völlig isolierte Kaiserstadt am Bosporus 1453 den Osmanen anheimfiel.
Wie kein Ereignis zuvor hat der Fall von Konstantinopel den Okzident aufgeschreckt und zum Bewusstsein gebracht, dass die Christenheit auf den Kontinent E. reduziert war. Er erschien nun als die gemeinsame „Heimat“ (patria) aller Rechtgläubigen, und die Europaei waren aufgerufen, gegen die Türkengefahr zusammenzustehen. Die gleichzeitig an der Westküste Afrikas beginnende koloniale Expansion (Kolonialismus) in andere Erdteile tat ein Übriges, um in der Neuzeit E. insgesamt als einen Weltteil mit spezifischem Gepräge erscheinen zu lassen.
Literatur
K. Oschema: Bilder von Europa im Mittelalter, 2013 • R. Schieffer: Christianisierung und Reichsbildungen. Europa 700–1200, 2013 • B. Schneidmüller: Grenzerfahrung und monarchische Ordnung. Europa 1200–1500, 2011.
Empfohlene Zitierweise
R. Schieffer: Europa, II. Historische Entwicklungen: Mittelalter, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Europa (abgerufen: 25.11.2024)
III. Historische Entwicklungen: Frühe Neuzeit
Abschnitt drucken1. Begriff und Umschreibung
Die Epochenbezeichnung Frühe Neuzeit verdankt sich einem in den 1950er Jahren einsetzenden Forschungsdiskurs, der wenig später zur Einrichtung (oder Umwidmung) der ersten Lehrstühle speziell für die Epoche vom ausgehenden 15. bis zum beginnenden 19. Jh. führte. In Deutschland und im angelsächsischen Bereich (Early Modern History) setzte sich die Begrifflichkeit rasch durch, in anderen Wissensgesellschaften dagegen nicht, etwa in Frankreich, wo man die Epoche der Frühen Neuzeit nach wie vor den temps modernes zuordnet. Auch im Polnischen ist der Begriff bis heute nicht heimisch geworden. Im Übrigen kann der Begriff nur für die Geschichte Alt-E.s eingesetzt werden; seine Übertragbarkeit auf andere Kulturen ist zwar geprüft worden, aber problematisch.
Dabei hat es gute Gründe gegeben, die traditionelle, auf Christoph Cellarius zurückgehende Trias Altertum/Mittelalter/Neuzeit zu modifizieren. Diese Erkenntnis speiste sich aus der Konstruktion zweier Epochenschwellen, die so tiefgreifend waren, dass sie E. je grundlegend veränderten: Einerseits wurde um 1500 eine (auch den Menschen um 1800 schon voll bewusste) Zäsur gesetzt, die durch Phänomene wie die Staatsbildung überhaupt und die bürokratische Verdichtung der Staaten, durch die Ausbildung einer auf Interaktionen und Kommunikation (Diplomatie, Außenpolitik) beruhenden Staatengesellschaft, durch das Entstehen eines veränderten („humanistischen“) Menschenbildes, durch die (u. a. von emigrierten griechischen Gelehrten bewirkte) „Rückkehr“ zu den antiken Gewährsleuten und Idealen und andere „Renaissancen“, von denen die „Reformation“ der Kirche die größte Dynamik entwickelte, durch die bahnbrechende Entwicklung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern und die von ihm ausgelöste erste „Medienrevolution“ und nicht zuletzt durch die von der geradezu obsessiv verfolgten Suche nach dem Seeweg nach Indien ausgelösten Erschließung der Welt jenseits der Ozeane gekennzeichnet ist. Das Ende des mehrere Jh. umfassenden Zeitraums einer „alteuropäischen“ Gesellschaft bildete die Phase um 1800 mit dem Übergang von feudalen Strukturen und des Prinzips des „ganzen Hauses“ zu neuen politischen und gesellschaftlichen Parametern, zur Garantie von Menschen– und Bürgerrechten, in der Perspektive der „modernen“ Industriegesellschaft zu gravierenden Veränderungen der Produktion von Massenwaren, die nicht mehr nach den Regeln der alten Zunftordnungen vor sich ging. Schon von der Terminologie her ist damit klar, dass es sich periodologisch um eine Übergangs- und Zwischenepoche zwischen dem Mittelalter und der eigentlichen Moderne handelt.
2. Geographie und Sozialstruktur
Über die Physiognomie und die Außengrenzen E.s herrschte am Beginn der Frühen Neuzeit noch längst keine Klarheit. Es gab Karten, die „Europa“ ohne Skandinavien und ohne die britischen Inseln darstellten, und ganz unsicher waren sich die Kartenzeichner, wenn es um die Begrenzung E.s nach Osten ging. Hier wurde zunächst der Don – angelehnt an antike Autoritäten – als Grenze E.s nach Asien hin angenommen, ehe sich im 18. Jh. das russische Konstrukt durchzusetzen begann, dem Ural diese Funktion zuzuweisen. Obwohl dagegen gute Gründe vorgebracht werden konnten, ist es allmählich zur communis opinio geworden.
Das E. der Frühen Neuzeit war in seinen beiden Teilen, der „lateinischen“ und der orthodoxen Christenheit, insofern eine recht homogene Geschichtslandschaft, als sie überwiegend agrarisch strukturiert war – mit agrarischen Bevölkerungsanteilen von bis zu 90 % – und nur wenige verdichtete Gewerbelandschaften (in den südlichen Niederlanden, in Oberdeutschland und in Oberitalien) aufwies. In diese überwiegend dörflich geprägte Struktur waren in unterschiedlicher Dichte ummauerte Städte mit einem hohen Anteil an kommunaler Selbstverwaltung eingesprengt, die als eine Art Charakteristikum Alt-E.s eingestuft werden können. Grundsätzlich galt das ständische Prinzip: In seinen Stand wurde man hinein geboren, ihn hinter sich zu lassen gelang eher selten: durch Bildung und akademischen Aufstieg, durch den Kirchendienst oder durch zeitweise Öffnungen des Amtsadels bzw., wie in England, durch die Aufnahme bürgerlicher Elemente in die gentry. Mit dem Stand war auch eine entsprechende Lebensform verbunden, bei der in allen Gruppen das Moment der „Ehre“ eine Schlüsselrolle spielte. Die Bevölkerungszahlen nahmen zwar überall zu, aber es gab Selbstregulierungsmechanismen, um die Bevölkerung nicht „explodieren“ zu lassen, und sie erlebte zudem durch die vielen Kriege und durch Witterungsphänomene wie die sog.e Kleine Eiszeit und viele Epidemien immer auch wieder Rückschläge. Vielerorts in der Mitte E.s bedurfte es zweier Generationen, um die durch den Dreißigjährigen Krieg bedingten Bevölkerungsverluste wieder auszugleichen. Der Anstieg der europäischen Bevölkerung auf ca. 200 Mio. Menschen verdankte sich im Wesentlichen erst dem 18. Jh.
3. Staatlichkeit
Relativ homogen war der Kontinent auch insofern, als die monarchische Struktur der Einzelstaaten deutlich überwog. Ob es Erbmonarchien wie in Frankreich, ob es – wie im Heiligen Römischen Reich oder in Polen nach dem Aussterben der Jagiellonendynastie – Wahlreiche waren: Der Regelfall war ein lebenslang amtierender Fürst, der im Übrigen auch einen geistlichen Status (Kirchenstaat) haben konnte. Nicht-monarchische Gebilde wie die Eidgenossenschaft oder die sich von der Krone Spanien emanzipierenden Niederlande waren zunächst Ausnahmen von der Regel und tendierten zudem (Venedig, Genua) dazu, ihren gewählten Vorstehern einen königsähnlichen Rang zu verschaffen. Freilich waren das nie und nirgendwo – selbst zunächst nicht im Russländischen Reich – Fürsten, die autoritär, also „absolutistisch“, hätten agieren können; der Regelfall im frühneuzeitlichen E. war vielmehr der Dualismus zwischen Herrscher und den Ständekorporationen, die „das Land“, also die Gesamtbevölkerung vertraten und die personell und wegen des ihnen im Allgemeinen zustehenden Budgetrechts für ein Gemeinwesen unverzichtbar waren. In manchen Staaten – so in England – hat das früh zu parlamentarischen Mitwirkungsrechten (Parlament) geführt, in anderen – so in Frankreich – zu Einrichtungen wie den Generalständen, die allerdings nur noch sehr sporadisch einberufen wurden. Ganz entmachten konnte aber selbst in der Hoch-Zeit fürstlichen Selbstbewusstseins der Monarch (Monarchie) die Stände nirgendwo, die zudem in den Wahlstaaten mittels Wahlkapitulationen und anderen Fundamentalgesetzen die Fürsten einer ständigen Kontrolle unterwarfen. Ein besonderes, mit den dynastischen Austauschprozessen zusammenhängendes Phänomen des frühneuzeitlichen E. waren die sog.en composite-monarchies, deren Spitze es mit sehr heterogenen, auf dem Erbweg kumulierten Territorien mit je unterschiedlichen Verfassungsstrukturen zu tun hatten; das spanische Imperium des 16./17. Jh. ist dafür ein Paradebeispiel mit seinen Besitzungen in den Niederlanden und in Ober- und Süditalien, von der zeitweise bestehenden Personalunion mit Portugal und den überseeischen Besitzungen gar nicht erst zu reden.
Unbeschadet dieses Dualismus Fürst/Stände tendierten die frühneuzeitlichen Staaten im Allgemeinen zu mehrfachen Verdichtungsprozessen mit dem Ziel der Herstellung eines möglichst homogenen Untertanenverbandes und Ausweitung ihrer eigenen Kompetenzen: in Bezug auf die Administration, in denen die Fürsten die Mitwirkung der Stände möglichst zurückzudrängen und ganz auf die Person des Monarchen auszurichten suchten, in Bezug auf die Aneignung des Gewaltmonopols, in Bezug auf die Unterordnung bzw. Instrumentalisierung der Kirche, wie es am schlagendsten in England praktiziert wurde, in Bezug auf das ständige Drehen an der Steuerschraube, das die Inhaber der „Souveränität“ in die Lage versetzte, stehende Heere aufzubauen und sich von privaten Kriegsunternehmern des Typus Albrecht von Wallenstein unabhängig zu machen, in Bezug auf die Wirtschaft, indem sie, soweit meerseitig gelegen, sich in den lukrativen Überseehandel der exklusiven Art (Edelmetalle, luxuriöse Rohstoffe) einzuschalten und die großen Unternehmer- und Handelsdynastien (Fugger) an den Rand zu drängen suchten. Die überseeische Welt wurde der dortigen agrarischen und metallenen Ressourcen und des neuen Marktes für eigenen Export wegen zur großen Versuchung für die europäischen Staaten, der sie veranlasste, unter Zurückstellung anderer Prioritäten ganz auf Kapitalgewinn durch Handel (Merkantilismus) zu setzen, der sie aber letzten Endes auch nicht davor bewahrte, reihenweise in Staatsbankrotte zu treiben. Das zeitgemäße Instrumentarium wurden ihnen die großen, aus privaten Initiativen hervorgegangenen, dann aber mehr und mehr zu halbstaatlichen Organisationen sich entwickelnden Handelsgesellschaften, denen am Ende gar völkerrechtliche Aufgaben in Übersee überantwortet wurden.
4. Konkurrenzen
Das Nebeneinander relativ vieler Gemeinwesen mit unterschiedlichen Ressourcen und Potentialen machte aus dem frühneuzeitlichen E. einen Kontinent, in dem die Konkurrenz zum bestimmenden Merkmal wurde. Bei aller Tendenz, den Kontinent als eine vom Christentum geprägte Einheit zu verstehen, die sich in vielen Manifesten und Bekenntnissen zu „Europa“ und europäischen Friedens- und Konföderationsplänen niederschlug, war der zwischenstaatliche Krieg die bestimmende Signatur Alt-E.s, die fast kein Jahr in diesen drei Jh. völlig kriegsfrei machte. Krieg wurde aus dynastischen Gründen geführt, um Erbansprüche durchzusetzen – die Konjunktur der Erbfolgekriege – oder um dynastischen Bedrohungen entgegenzuwirken. Kriege wurden gegen vermeintliche „Universalmonarchien“ unternommen. Krieg wurde aus strategischen Gründen geführt, um vorgeblichen oder tatsächlichen Umklammerungen durch Dritte zu entgehen und um bestimmte strategisch wichtige Punkte zu halten oder zu erobern. Krieg wurde begonnen, um Meereszugänge zu gewinnen oder Behinderungen des freien Schiffsverkehrs abzubauen. Krieg wurde nicht zuletzt der gloire, des persönlichen Ehrgeizes wegen geführt und von späteren Beobachtern mit einem Sport der Könige gleichgesetzt. Kriege erwuchsen aus Auseinandersetzungen zwischen Ständen und der Krone, Kriege in Außer-E. zwischen den Protagonisten schlugen auf E. zurück. Dass das Machtkartell der Großmächte dann auch einmal einen Krieg zu verhindern suchte und sich zu Lasten eines Schwachen skrupellos zu bereichern verstand (Teilungen Polens), fiel da kaum noch ins Gewicht. Krieg, die Permanenz des Krieges wurde zum Normalzustand, wobei erst das 18. Jh. zumindest den Anspruch formulierte, im Zeitalter der sog.e Kabinettskriege die Bevölkerung möglichst aus dem Kriegsgeschehen herauszuhalten und Kriegstechniken zu entwickeln, die mit Methoden der Ermattungsstrategie eher auf die Vermeidung der Schlacht hinausliefen. Kriege beförderten den Aufstieg von Staaten zu Großmächten, die für ihre Kartelle dann verharmlosende Begriffe wie „Gleichgewicht“ oder „Convenance“ erfanden, und sie waren verantwortlich für den Wiederabstieg von Aufsteiger-Staaten. Die Friedensschlüsse, die die Kriege beendeten – seit der Mitte des 17. Jh. in aller Regel auf großen multilateralen Friedenskongressen –, hatten entgegen ihrer Ewigkeits-Bekundungen immer nur eine sehr begrenzte Halbwertzeit. Auch den Bemühungen des sich seit den spanischen Spätscholastikern und Hugo Grotius entwickelnden neuzeitlichen Völkerrechts um Einhegung und Humanisierung des Krieges blieb der ganz große Durchbruch vorderhand versagt.
Ein eigenes Gewicht kam dem Kampf gegen die Osmanen zu, die seit den 1520er Jahren fast permanent den Südosten E.s bedrohten und als eine existentielle Gefährdung der Christianitas eingestuft wurden (und eine entsprechende Flugschriftenliteratur provozierten). Ihrer von beiden Seiten geübten Grausamkeiten wegen, aber auch weil das Osmanische Reich sich konsequent nur zu befristeten Waffenstillständen mit seinen (christlichen) Anrainern bereitfand, nicht zu „ewigen“ Friedensschlüssen, fallen sie aus dem Rahmen der üblichen Kriege heraus, auch deswegen im Übrigen, weil fallweise nach entsprechenden päpstlichen Aufrufen noch einmal größere europäische Koalitionen zum „Türkenkrieg“ zusammenfanden.
Und überhaupt war die Frühe Neuzeit eine unruhige Epoche. Die zwischenstaatlichen Kriege, die Übergriffe von muslimischen Korsaren zu Land und zur See, die Türkenkriege, die erst seit dem zweiten Drittel des 18. Jh. an Massivität allmählich abnahmen und mit dafür sorgten, dass sich das lange pejorativ aufgeladene Bild der Osmanen ins Ridiküle veränderte, waren nur die eine Ebene. Die andere waren die endlosen Ketten von sozialen Aufständen gegen die staatlichen Obrigkeiten und deren Handlanger, zu denen oft die Juden gezählt wurden. Ob es Bauern, Handwerker oder soziale Unterschichten waren, sie fanden in allen Teilen E.s immer wieder Anlass, sich gegen den dramatisch steigenden Steuerdruck, gegen Beschränkungen ihrer Selbstverwaltungsrechte, gegen die Rigidität der Aushebungen, religiöse Unterdrückung oder schlicht des Hungers wegen zu erheben und die Obrigkeiten herauszufordern. Die Aufstände des „Gemeinen Manns“ im frühen 16. Jh. wurden dank ihres Rekurses auf ein „göttliches Recht“ und damit auf „zeitlose Urnormen“ (Burkhardt 1990: 366) legendär und wurden in vielen Regionen Alt-E.s zu einer Art theologisch und altrechtlich begründetem Modell für zivilen Ungehorsam.
Den Revolten von unten entsprachen Umstürze, die von Funktionseliten initiiert oder doch mitgetragen wurden: in England und Schottland ein im Religiösen, aber auch in kontrovers diskutierten Verfassungsfragen wurzelnder Bürgerkrieg, der zu einem monarchielosen Intermezzo, das auch den Charakter eines gesellschaftlichen Laboratoriums hatte, führte (1649–1660); in den Niederlanden ein achtzigjähriger Kampf um die Emanzipation von der Krone Spanien; auf Korsika eine Befreiungsbewegung, der auch sozialrevolutionäre Momente eigneten; in Frankreich schließlich jene „Große Revolution“ (Französische Revolution), die bis heute als Mutter aller Revolutionen gilt und mit der für französische Historiker, aber längst nicht nur für sie, eine neue Zeit zum Tragen kam.
5. Reformation und Konfessionalisierung
Freilich ging es bei den Bauernaufständen von 1524/5 längst nicht nur um das „alte Recht“, um die vermehrten Forderungen des (Territorial–)Staats, sondern um mehr. Hier überlappte sich der Aufruhr gegen die Verdichtung des Staates mit Hilfe des Römischen Rechts zu Lasten der alten Freiheiten bestimmter sozialer Gruppen mit der religiös-politischen Bewegung der „Renaissance“ der alten Kirche in Gestalt der Reformation. Es war ein wesentliches Interpretament, die Reformation, die sich dann noch weiter ausdifferenzieren sollte (Zweite Reformation), als die Wiederherstellung der durch das Papsttum (Papst) pervertierten alten Kirche zu verstehen, die eine Rückveränderung notwendig machte. Die Kirchenreform mit ihrem Grundtenor der Rückkehr zur alten Kirche teilte, so sehr auch die altgläubig bleibende Gesellschaft sich nach dem Trienter Konzil entsprechenden Ansätzen öffnete, den Kontinent in zwei Hälften, die – pauschal gefasst: ein protestantisch werdender Norden und ein altgläubig bleibender Süden – einander unversöhnlich gegenüberstanden, sich mit Kriegen überzogen und die Konfession, die Fragen von „Wahrheit“ und Ritus, zum zentralen Parameter staatlichen Handelns erhoben, wenigstens bis ins frühe 18. Jh. hinein und bis Momente der Toleranz zum Tragen kommen konnten. Das galt nicht nur für das Römisch-Deutsche Reich, wo die Gegensätze im Sinn einer dogmatischen Intoleranz am schroffsten aufeinanderprallten und trotz eines frühen Kompromisses (1555) dann doch in einen Dreißigjährigen Krieg einmündeten, das galt in ganz ähnlicher Weise für Frankreich, wo die Religionskriege (Religionskonflikte) einander ablösten und sich dann im ausgehenden 17. Jh. noch einmal reaktivierten, für England, Polen und natürlich die Niederlande. Die Forschung spricht seit geraumer Zeit von dem Prozess der Konfessionalisierung, weil das konfessionelle Paradigma den Prozess der Homogenisierung der einzelnen Gemeinwesen – mit konfessionell-politischen Strukturen, mit Grundsatzdokumenten, mit Methoden der Sozialdisziplinierung – beschleunigte und auf alle Lebensbereiche durchschlug (und somit differente Kulturlandschaften entstehen ließ) und zudem bis weit ins 17. Jh. hinein auch in der zwischenstaatlichen Politik ein maßgebender Ordnungsfaktor wurde; das Eingreifen Gustav Adolfs von Schweden im Reich war vom Religionskriegspathos getragen!
6. Aufklärung und kulturelle Angleichungsprozesse
Die andere ganz E. ergreifende Bewegung, die sich im Unterschied zur Reformation freilich nicht ursprünglich als „Renaissance“ verstand, sondern als ein Phänomen, das für Aufbruch in eine neue Zeit stand, das mit dem Moment der Innovation eher kokettierte statt es weit von sich zu weisen, war die Aufklärung. Wie die Reformation, griff auch sie tief in das gesellschaftliche wie das politische Leben ein, etwa in Gestalt von Justizreformen und Rechtskodifikationen, von der Förderung der Alphabetisierung, von Schul- und Universitätsreformen, vom Abschied vom Unwesen von Hexenverfolgungen, von einem neuen Verhältnis zum Judentum, von Ansätzen einer „Bauernbefreiung“, von einem veränderten Selbstverständnis der Monarchen („Ich bin der erste Diener meines Staates“). Man hat diese Verflechtung von Aufklärung und „aufgeklärten“ Impulsen und Staat mit Schlagworten wie „Aufgeklärter Absolutismus“ oder Reformabsolutismus bedacht. Aber den Staaten des ausgehenden 18. Jh. eignete letztlich nicht mehr viel „Absolutistisches“.
Es war ein eher mühsamer Prozess, bis „Europa“ zu einer gewissen kulturellen Homogenität fand; die unterschiedlichen Konfessionen mit all ihren Implikationen standen dem zunächst entgegen: die Baukunst nahm im katholischen E. lange eine andere Entwicklung als im protestantischen, die Jesuitenuniversitäten waren mit denen im protestantisch-anglikanischen E. nicht vergleichbar, die niederländische Malerei des mittleren 17. Jh. differierte von der zeitgleichen spanischen gravierend, die musikalischen Themen waren gänzlich andere. Immerhin: Die (katholische) lingua franca des ausgehenden 17. Jh., das Französische, wurde zunehmend in ganz E. akzeptiert, die Übersetzungen von Literatur aus den „katholischen“ Sprachen im protestantischen E. und vice versa häuften sich. Die Aufklärung wurde zu einem gesamteuropäischen und konfessionenübergreifenden Diskurs, der beispielsweise auch die schottische Aufklärung in Russland heimisch machte; die Toleranz wurde von einer Denkleistung mehr und mehr zur politischen Praxis. Die vielen durch Publikationen rasch zum Gemeingut werdenden wissenschaftlichen Fortschritte hatten dem vorgearbeitet: Am Ausgang des 18. Jh. war E. zumindest auf dem Weg, zu einer mehr oder weniger homogenen Kulturlandschaft zu werden – einer Kulturlandschaft freilich, die sich einem unaufhörlichen Fortschrittsoptimismus (Fortschritt) hingab, den die Zukunft nur teilweise erfüllte.
Literatur
T. Maissen: Geschichte der Frühen Neuzeit, 2013 • K. Vocelka: Frühe Neuzeit 1500–1800, 2013 • R. von Friedeburg: Europa in der frühen Neuzeit, 2012 • H. Neuhaus (Hg.): Die Frühe Neuzeit als Epoche, 2009 • W. Buchholz (Hg.): Das Ende der Frühen Neuzeit im „Dritten Deutschland“, 2003 • R. Dürr u. a. (Hg.): Eigene und fremde Frühe Neuzeiten, 2003 • A. Völker-Rasor (Hg.), Frühe Neuzeit, 2000 • H. Schilling: Die neue Zeit. Vom Christenheitseuropa zum Europa der Staaten, 1999 • P. Münch: Lebensformen in der Frühen Neuzeit 1500–1800, 1998 • R. van Dülmen: Gesellschaft der Frühen Neuzeit, 1993 • J. Burkhardt: Frühe Neuzeit, in: R. van Dülmen (Hg.): Fischer Lexikon Geschichte, 1990, 364–385 • S. Skalweit: Der Beginn der Neuzeit: Epochengrenze und Epochenbegriff, 1982.
Empfohlene Zitierweise
H. Duchhardt: Europa, III. Historische Entwicklungen: Frühe Neuzeit, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Europa (abgerufen: 25.11.2024)
IV. Historische Entwicklungen: Moderne (19./20. Jh.)
Abschnitt druckenEin „langes“ 19. Jh., gefolgt von einem „kurzen“ 20. Jh., d. i. eine übliche Periodisierung der Neuesten und Zeitgeschichte E.s. Die Französische Revolution, der Erste Weltkrieg und der Zusammenbruch des Kommunismus in Ost-E. um 1990 als dahinterstehende epochale Wendungen spiegeln jedoch nur unzureichend die politischen, sozioökonomischen und kulturellen Brüche und Kontinuitäten in der Entwicklung des Kontinents über 200 Jahre wider, die zudem höchst ungleichzeitig verlief.
1. Nationalstaatsbildung und wirtschaftlicher Aufbruch
Mit der Niederlage Napoleon Bonapartes gegen die europäischen Koalitionsarmeen 1815 kam es zunächst in großen Teilen des Kontinents zu einer Restauration der etablierten Herrschaften, die sich jedoch allerorten wachsenden National- und Vereinheitlichungsbewegungen gegenüber sahen. Bis in die 1870er Jahre gründeten sich zahlreiche neue Nationalstaaten, die teils aus zerbrechenden Imperien stammten (z. B. Griechenland, Rumänien, Bulgarien), teils eine Vereinigung existierender Herrschaftsgebiete waren oder aus diesen herausgeschnitten wurden (z. B. Belgien, Italien, Deutschland). Mit Frankreich und dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Irland konsolidierten sich zwei traditionell als Nationalstaaten auftretende Mächte, während die drei großen Vielvölkerimperien Österreich-Ungarn, Russland und das Osmanische Reich politisch zunehmend unruhiger wurden und wirtschaftlich zurückblieben. Begrenzte militärische Konflikte zwischen einzelnen Mächten (Krimkrieg oder deutsch-französischer Krieg) blieben Ausnahmen in einem Zeitalter, in dem es den Europäern meist gelang, das prekäre Gleichgewicht der Kräfte mittels Diplomatie und Konferenzen zu bewahren. Dazu gehörte auch eine Verteilung der europäischen Interessengebiete in Übersee. Während Portugal und Spanien ihren südamerikanischen Besitz weitgehend verloren, weiteten Briten, Franzosen und Niederländer, später auch Belgier, Italiener und Deutsche, ihre Ansprüche auf zahlreiche afrikanische und asiatische Territorien erheblich aus. E. beherrschte praktisch konkurrenzlos einen Großteil der Welt, was sich erst im Laufe des 20. Jh. ändern sollte.
Die Demokratisierung v. a. des Westens und Nordens sowie partiell des Südens des Kontinents machte Fortschritte, obgleich politische Partizipationsrechte zunächst nur wenigen, vermögenden männlichen Einwohnern zugestanden wurden. Im Osten und Südosten E.s blieben autokratische Strukturen häufig bis ins 20. Jh. erhalten, während in der zweiten Hälfte des 19. Jh. der Liberalismus und, begrenzt, der Sozialismus an politischem Einfluss im Westen E.s gewannen.
Um 1815 lebten rund 170 Mio. Menschen in E. Durch verbesserte Ernährung sowie medizinische und hygienische Fortschritte verringerten sich die Sterberaten in großen Teilen des Kontinents erheblich, was ein solides natürliches Bevölkerungswachstum bedingte (1914 ca. 470 Mio.). Während weit über 50 Mio. Europäer auswanderten (v. a. nach Nord- und Südamerika), gab es kaum außereuropäische Zuwanderung. Auch zwischen den europäischen Staaten hielten sich Migrationsbewegungen zahlenmäßig in Grenzen; lediglich innerhalb von Nationen oder Regionen kam es aufgrund wirtschaftlicher Ungleichgewichte zu erheblichen Bevölkerungsverschiebungen (Migration). Zudem sollte nicht vergessen werden, dass E. ein von den drei großen christlichen Religionen dominierter Kontinent war, der eine nur in Ostmittel-E. signifikant große jüdische und allein auf dem Balkan eine muslimische Minderheit verzeichnete. Auch wenn die Säkularisierung schon im 19. Jh. einsetzte, blieb die Bedeutung der Amtskirchen immens. In der zweiten Jahrhunderthälfte setzte zudem ein partielles Wiederaufleben der Volksfrömmigkeit ein (Wallfahrten, Reliquienverehrung, angebliche Marienerscheinungen).
Die auf den britischen Inseln und in Flandern bereits seit dem 18. Jh. sichtbare Industrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution) erfasste im Laufe des 19. Jh. weite Teile E.s, was nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die sozialen Strukturen und Lebensbedingungen der Menschen tiefgreifend veränderte. Allerdings waren davon die meisten Regionen des Südens und Ostens E.s erst im 20. Jh. und dann meist in andersartiger Weise betroffen, und auch im früh industrialisierten Nordwesten blieben viele Regionen von Veränderungen lange unberührt. Im Allgemeinen bewirkte die Industrialisierung eine Modernisierung der Landwirtschaft (Land- und Forstwirtschaft), aus der mehr und mehr Arbeitskräfte freigesetzt wurden, die ihrerseits unter Nutzung neuer Antriebskräfte – zuerst der Dampfkraft, später der Elektrizität – in zunehmender Arbeitsteilung immer effizienter eine wachsende Palette von Gütern produzierten. Teile des Kontinents wuchsen durch das seit den 1840er Jahren rapide ausgebaute Eisenbahnnetz enger zusammen; parallel dazu sorgte die elektrische Telegrafie und seit dem späten 19. Jh. das Telefon für eine immense Dynamisierung der Informationsübertragung (Medienrevolution).
Die sich verändernde Wirtschaftsordnung führte zu Arbeitsmigration und beschleunigte die Urbanisierung. Während sich die Mittelklasse deutlich vergrößerte, differenzierte und im Allgemeinen wohlhabender wurde, wuchsen mit einer zahlenmäßig gewaltig ansteigenden Industriearbeiterschaft auch die sozialen Unterschiede in Nordwest-E. Letztere politisierte sich seit dem letzten Drittel des Jh. zunehmend und begann, eigene Interessenvertretungen auszubilden (ebenso die neue Schicht der Angestellten). Im weiterhin maßgeblich agrarisch geprägten Süden und Osten des Kontinents dagegen herrschten bis ins 20. Jh. de facto meist adlige, landbesitzende Eliten, die dem aufstrebenden Bürgertum (Bürger, Bürgertum) nur begrenzt politische Mitsprache einräumten. Dennoch ist das europäische 19. Jh. auch als „bürgerliches Zeitalter“ bezeichnet worden, was der wirtschaftlichen Potenz und hohen kulturellen sowie wissenschaftlichen Produktivität v. a. des westeuropäischen großstädtischen Bürgertums geschuldet ist. Aus dem Bürgertum heraus entstand spät im 19. Jh. auch eine Bewegung, die die politische Ohnmacht und soziale Unterordnung der Frauen (Frauenbewegungen) kritisch hinterfragte, was jedoch zunächst wenig an den überkommenen Geschlechterrollen änderte.
2. Kriege, Spaltung und der schwierige Weg zur Einheit
Der Erste Weltkrieg (1914–18) war seit knapp 100 Jahren der erste paneuropäische Konflikt, der mit seiner „industriellen“ Kriegführung viele Mio. Opfer forderte, in weiten Teilen des Kontinents die politische Ordnung radikal veränderte und zahlreiche politische wie gesellschaftliche Grenzen verschob. Wissenschaftlich umstritten ist die Frage nach der Schuld am Kriegsausbruch. Letztlich entscheidend war wohl v. a. der fehlende Wille auf allen Seiten, einen Krieg unbedingt zu vermeiden. Alle Staaten gingen davon aus, dass ein kurzer, harter Kampf die Machtverhältnisse in E. klären würde; der mehrjährige Stellungskrieg in den flandrisch-nordfranzösischen Schützengräben brachte außer unsäglichem Elend jedoch keine wirkliche Entscheidung. Nach dem Waffenstillstand im November 1918 und den in den beiden Folgejahren unterzeichneten Friedensschlüssen zwischen den diversen Kriegsparteien, hatte sich E. grundlegend verändert. Die deutschen, russischen und österreichischen Monarchien zerfielen; zahlreiche Grenzen wurden verändert, Staaten, Nationen und Völker dabei neu gegründet, beschnitten oder zusammengewürfelt, was sogleich neue Konfliktpotentiale schuf. In der Zwischenkriegszeit entwickelten sich mehrheitlich autoritäre oder diktatorische Regime. Benito Mussolini (1922 italienischer Ministerpräsident) war mit seinem faschistischen System Vorbild für zahlreiche weitere Machthaber (Faschismus). Lediglich in Skandinavien, auf den britischen Inseln, in Frankreich, dem Beneluxraum und sehr wenigen Staaten Ost- und Südost-E.s hielten sich parlamentarische Demokratien. Im Osten entwickelte sich mit der totalitären Sowjetunion eine ganz neue, nominell sozialistische Gesellschaftsordnung, die ihre Gegner radikal beseitigte und im Westen Ängste vor linken politischen Bewegungen schürte. Seit dem Ersten Weltkrieg war E. in Gestalt der wirtschaftlich und militärisch dominanten USA ein Konkurrent auf weltpolitischer Bühne erwachsen, der sich jedoch nach 1918 zunächst weitgehend aus europäischen politischen Angelegenheiten heraushielt. Während Deutschland seine Kolonien verlor, änderte sich bis zum Zweiten Weltkrieg kaum etwas an der fortdauernden Beherrschung eines Großteils der Welt durch einige wenige europäische Mächte. Lediglich Großbritannien begann damit, seinen großen Siedlungskolonien („Dominions“ Kanada, Südafrika, Neuseeland und Australien) durch die Überführung in ein „Commonwealth of Nations“ weitgehende Unabhängigkeit zuzugestehen.
Seit 1933 etablierte sich in Deutschland mit dem Nationalsozialismus innerhalb kürzester Zeit ein auf verbrecherischer, menschenverachtender Ideologie basierendes totalitäres und auf gewaltsame Expansion ausgerichtetes Regime (Totalitarismus). 1939 provozierte dieses einen weiteren Weltkrieg, der zunächst die rasche Eroberung eines Großteils West- und Nord-E.s durch Deutschland und seine Verbündeten nach sich zog. 1941 griff Deutschland die Sowjetunion an und dehnte seinen Machtbereich auf große Teile des östlichen und südöstlichen Kontinents aus. Dabei wurde keinerlei Rücksicht auf die Zivilbevölkerung genommen, die von der NS-Ideologie als „minderwertig“ angesehen wurde. Dies galt im Besonderen für die Juden, die im Deutschen Reich bereits seit 1933 systematisch verfolgt worden waren und nun millionenfach in Lagern vernichtet wurden (Shoa). Nach dem Kriegseintritt der USA im Jahr 1941 weitete sich der bis dahin maßgeblich europäische zu einem Weltkrieg, der für E. mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht im Mai 1945 endete. Er hinterließ einen Kontinent, der in großen Teilen zerstört und wirtschaftlich zerrüttet war. V. a. unter amerikanischer Führung und mittels groß angelegter Wirtschaftshilfe gelang dem Westen E.s innerhalb weniger Jahre ein umfangreicher Wiederaufbau. Einer Reihe von ostmitteleuropäischen Staaten wurde von der siegreichen UdSSR ihr sozialistisches politisches System aufgezwungen. Mit der amerikanisch geführten NATO und dem sowjetisch dominierten Warschauer Pakt entstanden zwei ideologisch unvereinbare militärische Bündnisse, die die Teilung E.s für mehr als vier Jahrzehnte zementierten. Nur wenigen Staaten (Österreich, Jugoslawien, Schweden, Finnland) gelang die politische Neutralität bzw. „Blockfreiheit“. Auch Spanien und Portugal, wo die in der Vorkriegszeit etablierten Diktaturen bis in die 1970er Jahre intakt blieben, waren Teil des westlichen, antikommunistischen Bündnisses. Gegenseitiges Misstrauen und ein (atomares) Wettrüsten charakterisierten die Ost-West-Beziehungen, die sich seit den 1970er Jahren u. a. durch die deutsche Ostpolitik ein wenig entspannten. Zunehmende Engpässe und Spannungen in den planwirtschaftlichen Ökonomien des Ostblocks in Kombination mit einer auf Öffnung und Umbau fokussierten Neuausrichtung sowjetischer Politik seit der Mitte der 1980er Jahre führten zum überraschend rapiden Zerfall dieses Systems. Die deutsch-deutsche Wiedervereinigung (Deutsche Einheit) nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 läutete weitere Regimewechsel ein.
Im Westen E.s entwickelte sich bereits seit 1951 (Gründung der EGKS) eine zunehmende politische Kooperation. Die Römischen Verträge begründeten 1957 die EWG, die eine gemeinsame parlamentarische Versammlung (später Europäisches Parlament) und einen EuGH vorsah. In mehreren Beitrittswellen zwischen 1973 und 2004 wuchs die seit 1993 EU genannte Gemeinschaft auf 28 Mitgliedsstaaten an, aus der jedoch das Vereinigte Königreich aufgrund eines Referendums voraussichtlich 2019 ausscheiden wird. 19 dieser Staaten verwenden mittlerweile die 1999 eingeführte Einheitswährung Euro.
Die europäische Bevölkerung wuchs zwar von etwa 530 Mio. um 1950 auf 730 Mio. ein halbes Jh. später, aber der Anteil der Europäer an der Weltbevölkerung fiel im 20. Jh. stetig. Zahlreiche vor dem Ersten Weltkrieg angelegte gesellschaftliche Veränderungen setzten sich im 20. Jh. fort. Früh erhielten Frauen in den meisten europäischen Staaten die volle politische Mitbestimmung, aber erst in den 1970er Jahren erkämpfte sich die Frauenbewegung weitere maßgebliche Rechte. Im Laufe des 20. Jh. setzten sich industrielle Strukturen auch im Osten (v. a. Schwerindustrie) und partiell im Süden E.s durch, wobei der Wandel hin zur Dienstleistungsgesellschaft nach 1945 immer deutlicher wurde, was u. a. erhebliche Veränderungen in der Entstehung von „Freizeit“ und neuer Unterhaltungsmedien beinhaltete. Auch durch grenzüberschreitenden Tourismus (erschwingliche Charterflügen seit den 1970er Jahren) rückte E. enger zusammen. Dazu trugen ferner massive innereuropäische Migrationen bei. Eklatante Ungleichheit in der wirtschaftlichen Entwicklung zwischen Nordwest- und Süd-E. sorgten dafür, dass die industrialisierten Staaten seit den 1950er Jahren immer multikultureller und letztlich zu Einwanderungsgesellschaften wurden. Die europäischen Kolonialmächte verloren zwischen den 1950er und 1970er Jahren praktisch ihren gesamten überseeischen Besitz und mussten erhebliche Kontingente von Einwanderern aus diesen Territorien integrieren. Überkommene soziale Schichtungen (v. a. die „Arbeiterklasse“) wandelten sich sukzessive, was wiederum Auswirkungen auf das politische Spektrum in vielen europäischen Ländern hatte. Auch der politische Einfluss der organisierten Religionsgemeinschaften nahm, je nach Region, mehr oder weniger rasch ab. Wie gut sich die neu formierte, aber fragile europäische „Einheit“ angesichts der Probleme des 21. Jh. (außereuropäische Masseneinwanderung, populistische Strömungen, ein der sowjetischen Machtfülle nachtrauerndes Russland, wirtschaftlich expandierende Schwellenländer und eine USA, die E. nicht mehr zwangsläufig als natürlichen Partner in der westlichen Werteordnung begreifen) behaupten kann, bleibt abzuwarten.
Literatur
W. Hippel/B. Stier: Europa zwischen Reform und Revolution, 1800–1950, 2012 • T. Judt: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, 2009 • R. Liedtke: Geschichte Europas von 1815 bis zur Gegenwart, 2009 • G. Mak: Europa. Eine Reise durch das 20. Jahrhundert, 2005 • W. L. Bernecker: Europa zwischen den Weltkriegen, 1914–1945, 2002 • J. Fisch: Europa zwischen Wachstum und Gleichheit, 1850–1914, 2002.
Empfohlene Zitierweise
R. Liedtke: Europa, IV. Historische Entwicklungen: Moderne (19./20. Jh.), Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Europa (abgerufen: 25.11.2024)