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Version vom 14. November 2022, 06:00 Uhr
I. Rechtlich
Abschnitt drucken1. Vieldeutigkeit des Begriffs
S. ist eine in den Zeitläuften und politischen Systemen mehrdeutige Bezeichnung, die selbst für die deutsche Entwicklung nicht auf einen Begriff und eine historisch klar nachvollziehbare Traditionslinie gebracht werden kann. Für Deutschland muss z. B. unterschieden werden zwischen der Sozialstaatlichkeit in der Weimarer Zeit und den in unterschiedlicher Weise daran anknüpfenden Ausprägungen „sozialer“ Staatlichkeit im Nationalsozialismus, in der DDR und der BRD. Bezogen auf das vom GG geprägte Modell des S.s, das historisch maßgeblich auf preußische Wurzeln zurückgeht, lässt sich der S. umschreiben als ein Staat des Ausgleichs, der Hilfe für die Schwächeren, der gerechten Sorge für ihr menschenwürdiges Dasein, der dazu ein sozialgestaltender und dabei gesellschaftsbezogener Staat u. a. im Rahmen der Leistungsverwaltung sein muss. Ein solcher S. ist auf die Gemeinschaftsgebundenheit, aber auch -bezogenheit aller Bürger – und zwar derjenigen, denen geholfen werden soll, aber auch und gerade der anderen – angewiesen.
2. Der Sozialstaat des GG
Verfassungsrechtlich ist unter der Geltung des GG v. a. das S.s-Prinzip für die nähere Ausgestaltung des S.s prägend. Es ist in Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 S. 1 GG verankert und wird zu den Fundamenten der vom GG geformten staatlichen Ordnung gerechnet, die nach Art. 79 Abs. 3 GG nicht einmal durch eine Verfassungsänderung berührt werden dürfen. Als Staatszielbestimmung verpflichtet das S.s-Prinzip den Staat, „für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und damit für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen“ (BVerfGE 22,180 [204]; 69,272 [314]). Die wesentlichen Leitgedanken des S.s-Prinzips sind damit bereits angedeutet; es sind der soziale Ausgleich, die soziale Sicherheit und die soziale Gerechtigkeit. Der soziale Ausgleich meint den Abbau sozialer Ungleichheiten. Er wird oft mit dem Gedanken der Chancengleichheit (Chancengerechtigkeit, Chancengleichheit) in Verbindung gebracht und erfasst Maßnahmen zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation schlechter gestellter Bevölkerungsgruppen. Ziel des sozialen Ausgleichs ist die „Herstellung erträglicher Lebensbedingungen für alle“ (BVerfGE 1,97 [105]). Unter dem Gesichtspunkt der sozialen Sicherheit verlangt das S.s-Prinzip die Fürsorge für Hilfebedürftige und allg. den Schutz der sozialen Existenz gegen die Wechselfälle des Lebens (BVerfGE 28,324 [348 ff.]; 45,376 [387]). Soziale Gerechtigkeit schließlich bedeutet zunächst eine annähernd gleichmäßige Verteilung der Lasten (BVerfGE 5,85 [198]). Darüber hinaus spielt die soziale Gerechtigkeit als übergreifendes Ordnungsprinzip eine Rolle. Der Staat hat die im Zusammenhang mit sozialem Ausgleich und sozialer Sicherheit stehenden, teilweise widerstreitenden Forderungen, Bedürfnisse und Interessen in eine am sozialen Ganzen bzw. am Gemeinwohl orientierte Balance zu bringen. Das S.s-Prinzip steht damit inhaltlich in deutlicher Nähe zum Gedanken der Solidarität, verstanden als gegenseitiges Einstehenmüssen für einen bestimmten Erfolg. Allein daraus lässt sich aber noch nicht schließen, dass der Gedanke der Solidarität nicht nur als moralisch-ethische Größe der Verfassung vorausliegt, sondern unter dem GG zu einem verfassungsrechtlichen Prinzip erstarkt ist.
3. Sozialstaat nach Maßgabe der Gesetzgebung
Die nähere Ausformung des S.s obliegt dem Gesetzgeber, der dazu einen weiten Gestaltungsspielraum hat. Der Gesetzgeber ist im Hinblick auf die Wahl der Mittel zur Verwirklichung der sozialen Ziele grundsätzlich frei. So kann er z. B. zur Ergänzung staatlicher Aktivitäten die Arbeit privater Wohlfahrtsorganisationen (Wohlfahrtsverbände) vorsehen, ohne sich damit auf die Subsidiarität staatlicher Erfüllung sozialer Aufgaben festzulegen. Auch das gegenwärtige System der Sozialversicherung genießt als solches keinen sozialstaatlichen Bestandsschutz. Ein Rückbau des S.s wie auch Kürzungen einzelner Leistungen bedürfen stets im konkreten Fall einer verfassungsrechtlichen Überprüfung. V. a. an der Menschenwürdegarantie (Menschenwürde) in Art. 1 Abs. 1 GG, dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, der Eigentumsgarantie (Eigentum) des Art. 14 Abs. 1 GG und dem rechtsstaatlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes muss eine Reduzierung von Sozialleistungen verfassungsrechtlich gemessen werden. Das S.s-Prinzip begründet weder konkrete Pflichten des Gesetzgebers noch subjektive Rechte des Bürgers auf bestimmte Sozialleistungen, die durch Gesetz vorgesehen sein müssen (§ 31 SGB I). Es hat heute Bedeutung v. a. bei der Auslegung und Anwendung bestehender Rechtsnormen und der Ausfüllung administrativer Entscheidungsspielräume. Im Einzelfall kann sich allerdings aus der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. dem S.s-Prinzip in Art. 20 Abs. 1 GG ein subjektives Recht des Einzelnen auf ein menschenwürdiges Existenzminimum ergeben. Jedem Hilfebedürftigen müssen diejenigen materiellen Voraussetzungen gewährt werden, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind (Partizipation). Ein bestimmter „Regelsatz“ lässt sich allerdings nicht aus der Verfassung ableiten, sondern muss vom Gesetzgeber konkretisiert werden. Dem Gesetzgeber kommt zwar auch dabei wiederum ein Gestaltungsspielraum zu, jedoch ist er verpflichtet, den Leistungsumfang in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen (BVerfGE 125,175 [225]).
4. Sozialbudget
Das sog.e Sozialbudget stellt als Teil des Sozialberichts der Bundesregierung den Umfang, die Struktur und die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben der einzelnen Zweige der sozialen Sicherung in der BRD dar. Danach stiegen die Sozialleistungen im Jahre 2017 auf ca. 962 Mrd. Euro und werden 2021 ca. 1 091,3 Mrd. Euro betragen. 2016 wurden Sozialleistungen wegen Alters (v. a. Altersrenten) und an Hinterbliebene in Höhe von ca. 343 Mrd. Euro erbracht. Wegen Krankheit wurden rund 305 Mrd. Euro und wegen Invalidität rund 72 Mrd. Euro aufgewandt. Die Leistungen für Kinder, Ehegatten und wegen Mutterschaft betrugen 2016 ca. 99 Mrd. Euro, Aufwendungen wegen Arbeitslosigkeit lagen bei rund 31 Mrd. Euro.
5. Inter- und supranationale Bezüge
Der S. ist nicht als nationales Reservat denkbar. Der in Deutschland bestehende S. weist zahlreiche internationale Bezüge auf. Dabei beantwortet das sog.e Internationale Sozialrecht nach Regeln des deutschen Rechts die Frage, ob im Einzelfall das deutsche oder ein ausländisches Sozialrecht anzuwenden ist. Das zwischenstaatliche Sozialrecht beruht auf bilateralen Abkommen, durch die die einzelnen Staaten gegenseitige Verpflichtungen eingegangen sind. Das Europäische Sozialrecht entfaltet unmittelbare Rechtswirkungen in den Mitgliedstaaten der EU und gewinnt zunehmend an Bedeutung.
6. Probleme des Sozialstaats
Der S. in Deutschland bedarf fortwährend der Reform und Anpassung. Das folgt schon aus seiner enormen volkswirtschaftlichen Bedeutung, die u. a. aufgrund der sog.en Lohnnebenkosten mit der Erwerbstätigenquote bzw. der Arbeitslosigkeit in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen. Mitunter wird der S. in einer regelrechten Krise gesehen. Probleme bestehen in der Tat darin, dass Veränderungen der Arbeitswelt, Belastungen des Rentensystems durch versicherungsfremde Leistungen (Rentenversicherung), die internationale Mobilität des Kapitals im Zuge der Globalisierung, die quantitative Reduktion der Arbeit, der Trend zur Individualisierung, neue Muster der Familien- und Lebensplanung die sozialstaatlichen Systeme vor immer neue Herausforderungen stellen. Dabei bleibt stets die Frage nach einer wirtschaftlich sinnvollen Finanzierung zu beantworten. Ebenso steht der sog.e Generationenvertrag auf dem Prüfstand, wenn die Lebenserwartung älterer Menschen steigt, die erwerbstätige Generation aber (aus ganz verschiedenen Gründen) kleiner wird. Leistungskürzungen werden in Zukunft möglicherweise unvermeidlich sein. Auch über eine größere Flexibilität der Systeme wird nachzudenken sein, die im Sozialversicherungsrecht immer noch an in die Jahre gekommene Kategorien anknüpfen, u. a. an Beschäftigung (§ 7 SGB IV) statt an Vermögen als Grundlage der Beitragsbemessung, ferner die Dreiteilung des Lebens in Ausbildung, Berufstätigkeit und Ruhestand statt gleitender Übergänge, die die soziale Wirklichkeit längst vielfach hervorbringt.
Literatur
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.): Sozialbericht 2017, 2017 • S. Muckel/M. Ogorek/S. Rixen: Sozialrecht, 52019 • F. Welti: Abschied vom Normalarbeitsverhältnis? – Neue Beschäftigungsformen, Diskontinuität von Lebensläufen und das Sozial- und Arbeitsrecht, in: SGb 57/8 (2010), 441–448 • T. Kingreen: Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund, 2003 • H. Maier: Historische Voraussetzungen des Sozialstaats in Deutschland, 2002 • H. Butzer: Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001 • H. G. Hockerts: Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. Das NS-Regime, die ‚alte‘ Bundesrepublik und die DDR in vergleichender Betrachtung, in: F. Ruland/H.-J. Papier/B. Maydell (Hg.): Verfassung, Theorie und Praxis des Sozialstaats. FS für Hans F. Zacher zum 70. Geburtstag, 1998, 267–279 • R.-U. Schlenker: Soziales Rückschrittsverbot und Grundgesetz, 1986 • H. F. Zacher: Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland, 1980.
Empfohlene Zitierweise
S. Muckel: Sozialstaat, I. Rechtlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Sozialstaat (abgerufen: 22.11.2024)
II. Wirtschaftswissenschaftlich
Abschnitt druckenDer moderne S. entstand als Reaktion auf die neue Soziale Frage des 19. Jh., d. h. die vielfältigen Missstände in der Lebenslage der Arbeiter und ihrer Familien, welche durch die sprunghafte wirtschaftliche Entwicklung zu beobachten waren. So ist der S. in seiner Genese eine sozialreformerische Reaktion auf die gesellschaftlich zentrifugalen Wirkungen einer unregulierten Marktwirtschaft, insb. der durch sie ausgelösten Unsicherheit und Ungleichverteilung. Ähnliche Prozesse lassen sich auch heute in jenen Ländern beobachten, die eine sprunghafte wirtschaftliche Entwicklung mit wirtschaftlichen und sozialen Folgen erleben, auf die sozialstaatlich reagiert werden wird.
Aus ökonomischer Sicht dient der S. der Produktion sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit. Seine Institutionen und Instrumente haben immer vertikale und horizontale Verteilungseffekte. Vertikale Verteilungseffekte wirken zwischen Gruppen mit unterschiedlich hohem sozial-ökonomischen Status in sozialpolitischer Intention nivellierend, d. h. von oben nach unten, dies z. B. durch den progressiven Tarif der Einkommensteuer und durch Bezug von Lohnersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit. Horizontale Verteilungseffekte hingegen wirken innerhalb einer sozialen Schicht z. B. zwischen alten und jungen Personen (Rentenbezug bzw. Bildungssubventionen) sowie auch unterschiedlich nach Geschlecht, Wohnort oder anderen Merkmalen. Im deutschen S. wird, bei einem Umverteilungsvolumen von ca. 30 % des BIP, vergleichsweise wenig vertikal, sondern weit stärker horizontal umverteilt. Zudem liegt ein Großteil der Verteilungseffekte intertemporal, d. h. innerhalb der Mittelschicht.
1. Mindeststandards und Sozialversicherungen
Der S. greift in die privatrechtliche Vertragsfreiheit ein und setzt dort Mindeststandards. Dies geschah zunächst im Arbeitsrecht, wo bis heute Arbeitsverbote (z. B. Kinderarbeit, Mutterschutz) und Gebote (z. B. Arbeitszeit, Kündigungsschutz) gelten. Eingriffe in das private Vertragsrecht haben immense Verteilungswirkungen, die allerdings nicht im Sozialbudget ausgewiesen werden. Diese Verteilungswirkungen ergeben sich durch einen Bestandschutz der Mehrheit vertraglich geschützter Personen und benachteiligen eine Minderheit, die aufgrund dieses Bestandsschutzes keinen Marktzugang finden kann. Aufgrund dieser Friktionen, die auch eine Gerechtigkeitsproblematik aufwerfen, hat das Reformkonzept der aktivierenden Sozialpolitik Ende der 1990er Jahre den Fokus auf einen Abbau von Schutzstandards gelegt und gleichzeitig aktivierende sozialstaatliche Transfers (Fort- und Weiterbildung, Kinderbetreuung u. a.) ausgebaut und damit gute Erfolge erzielt. Insgesamt bleibt ein kluges und maßvolles Setzen von Mindeststandards für die moderne Sozialpolitik unverzichtbar.
Auch die Sozialversicherung wurde in allen modernen S.en eingerichtet, jedoch in sehr unterschiedlicher Gestalt. Ihre ökonomischen Merkmale sind, dass sie zum einen wie eine private Versicherung einen beschränkten Personenkreis umfasst und dort einen Risikoausgleich im Kollektiv betreibt. Hier kommt es somit zu einem versicherungsimmanenten Verteilungseffekt zugunsten der durch ein Lebensereignis geschädigten Personen. Zum anderen liegt der Unterschied zur Privatversicherung in der Ausgestaltung der Beiträge. In der Privatversicherung erfolgt sie risikoäquivalent, in der Sozialversicherung hingegen nach der Leistungsfähigkeit, d. h. Einkommenshöhe, weshalb es hier zu einer sozialversicherungsimmanenten Umverteilung von Personen mit hohem Einkommen und geringen Risiken zu Personen mit geringem Einkommen und hohen Risiken kommt. Aufgrund dieser Beitragsfestsetzung gemäß dem Solidarprinzip (Solidarität) muss es bei der Sozialversicherung eine Versicherungspflicht oder eine Pflichtversicherung geben. Ohne diese käme es zu einer Negativselektion (adversen Selektion), da sich die guten Risiken dem solidarischen Beitragssystem entziehen würden und so die Sozialversicherung zusammenbräche. Auch hier ist von der Sozialpolitik Augenmaß gefordert, um den solidarischen Kern der Sozialversicherung zu erhalten, andererseits aber ihrer solidarischen Überfrachtung zu widerstehen.
Ein Ansatz, hier Augenmaß walten zu lassen, ist die Beschränkung des Personenkreises in der Sozialversicherung auf schutzbedürftige Personen. Hier hat die Sozialpolitik Mindesteinkommensgrenzen der Versicherungspflicht und Beitragsbemessung definiert, ab der Personen als nicht mehr schutzbedürftig gelten. Darüber hinaus existieren berufsständische Versicherungs- und Versorgungsinstitutionen. Auch durch sie bleiben gute Risiken den Sozialversicherungen fern, was sie zweifelsohne schwächt. Andererseits stärkt die Beschränkung des versicherten Personenkreises im konservativen S.s-Modell bismarckscher Prägung die Legitimität der Sozialversicherung. In anderen S.s-Modellen ist hingegen die Sozialversicherung universalistisch konstruiert und schließt alle Personenkreise ein; auch diese einheitlichen Sicherungssysteme weisen eine bemerkenswerte Stabilität auf.
2. Wirtschaftlicher Wert
Der erhebliche Umfang sozialstaatlicher Aktivität wirft aus ökonomischer Sicht die Frage auf, welche Allokations- und Wachstumseffekte (Allokation) von ihr ausgehen. Dies wiederum ist eine Frage der Anreize an private Haushalte (Haushalt, privater) und Unternehmen, sich am Markt zu beteiligen, Einkommen zu erzielen und zu investieren. Einen hohen wirtschaftlichen Wert hat der S. dann, wenn er den Marktteilnehmern formale und materielle Freiheitsspielräume gewährt, damit sie möglichst umfassend und überlegt auf dem Markt aktiv sind (z. B. auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt) und bestmögliche Investitionsentscheidungen (z. B. in Bildung und Gesundheit) treffen können. Ist ein S. in diesem Sinne institutionell gut konstruiert, so wird er erhebliche positive Wachstumseffekte haben und Ausdruck eines hohen Entwicklungsstandes sein. Der Wachstumseffekt des S.s ist mithin nicht primär vom Volumen der Sozialbudgets abhängig, sondern vielmehr von den Anreizen, welcher der S. setzt. Ein gut konstruierter und umfangreicher S. wird mehr positive Wachstumseffekte haben als ein schlecht konstruierter minimaler S.
Reformen des S.s zielen daher, sofern sie nicht rein verteilungspolitisch motiviert sind (wie z. B. bei der Mütterrente oder der Rente wegen Erwerbsminderung), auf Veränderungen von Anreizen und dies häufig durch Variation von Details, wie etwa in der Wohnungspolitik oder Gesundheitspolitik, wo nicht nur der Umfang, sondern auch die Art der Regulierung ökonomisch untersucht wird. Details entscheiden darüber, wann und wie z. B. eine Höchstmietengrenze wirkt bzw. welche Effekte eine Selbstbeteiligung Versicherter an den Kosten von Gesundheitsdienstleistungen hat. Angesichts dieser Detailfragen sind Pauschalurteile zu sozialstaatlichen Interventionen unangebracht.
Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, wie es u. a. von dem ordoliberalen Ökonomen Alfred Müller-Armack nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt wurde, zielt darauf ab, die wirtschaftliche Freiheit auf dem Markt mit dem sozialen Ausgleich zu verbinden und somit einen dritten Weg zwischen unregulierter Marktwirtschaft und staatlicher Zentralverwaltungswirtschaft einzuschlagen. Dieser irenische, d. h. versöhnende Gedanke prägt bis heute das Verhältnis von Wirtschaft und S. in Deutschland. Der außerordentliche Erfolg der Sozialen Marktwirtschaft und ihre hohe Akzeptanz in der Bevölkerung liegen auch darin begründet, dass dieses Konzept nachhaltiges Wirtschaftswachstum ermöglicht und es realiter mit sozialem Ausgleich verbunden hat.
Literatur
J. Althammer/H. Lampert: Lehrbuch der Sozialpolitik, 92014 • W. Schönig: Rationale Sozialpolitik, 2001 • E. Liefmann-Keil: Sozialpolitik als Verteilungspolitik, 1961.
Empfohlene Zitierweise
W. Schönig: Sozialstaat, II. Wirtschaftswissenschaftlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Sozialstaat (abgerufen: 22.11.2024)
III. Philosophisch
Abschnitt drucken1. Deskriptiver Begriff
Der Begriff des „S.s“ stellt in deskriptiver Hinsicht eine Präzision des Begriffs des „Wohlfahrtsstaates“ dar. Während der Begriff „Wohlfahrtsstaat“ generell auf eine Wohlfahrtsgesellschaft oder (in früheren Epochen) auf die Wohlfahrtsstadt angewendet wird, bezeichnet der Begriff „S.“ eine Gesellschaftsordnung, in der der moderne Staat der primäre Akteur für Maßnahmen ist, die die soziale und wirtschaftliche Absicherung seiner Mitglieder gewährleisten oder zu große Unterschiede zwischen ihren sozialen und wirtschaftlichen Stellungen abmildern sollen. Damit tritt hier der moderne Staatsbegriff in Erscheinung, der im Gegensatz zum klassischen Staatsbegriff, der i. S. d. Aristotelismus eine autarke und von ihren Mitgliedern organisierte Gemeinschaft beschreibt (Autarkie), um die Dimension des Staates als wirtschaftspolitischem (Wirtschaftspolitik) und sozialpolitischem (Sozialpolitik) Akteur bereichert ist. Der moderne S. zeichnet sich also, wie dies bereits Adolph Wagner beschrieb, dadurch aus, dass „eine Ausdehnung der Staatsthätigkeit und der gesamten öffentlichen, durch die Selbstverwaltungskörper neben dem Staate ausgeführten Thätigkeiten erfolgt. […] Der deutliche Beweis dafür liegt ziffermässig in der Steigerung des finanziellen Staats- und Communalbedarfs vor“ (Wagner 1892: 893). Dabei verweist A. Wagner bereits auf das Problem, dass die Staatsausgaben in der fortschreitenden wirtschaftlichen Entwicklung überproportional zur gesamten Wirtschaftsleistung wachsen würden (sog.es Wagnersches Gesetz).
Deskriptiv verstanden bezeichnet der S. damit die Gesamtheit der vorhandenen sozialpolitischen Institutionen, unter denen die Sozialversicherungen meist eine herausgehobene Position einnehmen. Die Erscheinungsformen des S.s sind äußerst vielfältig, da seine genaue Ausgestaltung sich als Ergebnis seiner jeweiligen historischen Genese und den jeweils vorliegenden gesellschaftlichen Gegebenheiten, wie Ausgestaltung des rechtlichen und politischen Systems, Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung oder bes.n gesellschaftlichen und religiösen Konstellationen, darstellt.
Der rechtsstaatlich verfasste und nach freiheitlichen Prinzipien organisierte S., der im deutschen Kontext häufig mit dem Begriff der „Sozialen Marktwirtschaft“ verknüpft wird, zielt dabei nicht auf ein Maximum von Absicherung oder Gleichheit hin, sondern sucht eine ausgleichende Position zwischen den beiden genannten Werten auf der einen und individueller Freiheit, Eigentumsrechten (Eigentum) sowie ökonomischer Effizienz auf der anderen Seite. So wird bspw. der Fortfall des Arbeitslohns durch Arbeitslosigkeit, Erwerbsunfähigkeit oder Eintritt in das Rentenalter meist nicht vollkommen, sondern nur teilweise kompensiert, oder es werden von einer Krankenversicherung nur bestimmte Anteile aller möglicherweise entstehenden Kosten zur Erhaltung der Gesundheit übernommen. Ebenso sollen soziale Ungleichheiten nicht vollkommen beseitigt werden (wie dies bspw. in sozialistischen Systemen unter dem Schlagwort der „klassenlosen Gesellschaft“ zumindest als Ziel vorgegeben wird), sondern es wird lediglich eine mehr oder minder starke Abmilderung von Ungleichheiten angestrebt.
2. Normativer Begriff
Von einem normativen S.s-Begriff ist mit Blick auf die moralischen oder rechtlichen Regelungen zu sprechen, die den modernen Staat dazu verpflichten, das Wohlergehen aller seiner Bürger in je gleicher Weise durch direkte Eingriffe und in Bezug auf die sog.e Soziale Frage zu verfolgen. Ideengeschichtlich gewinnt das normative Konzept des S.s erst in dem Zusammenspiel ganz unterschiedlicher Grundkonzepte seine heutigen Konturen. So wurzelt es ebenso in der christlichen Caritas (Caritas, Diakonie) und der scholastischen Rezeption des Gemeinwohlgedankens (Gemeinwohl) der aristotelischen politischen Philosophie wie auch in den Antwortversuchen auf die gesellschaftlichen Verwerfungen der Industrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution) durch die politische Philosophie des 18. und 19. Jh., insb. bei den französischen Frühsozialisten. Claude Henri de Saint-Simon „Noveau Christianisme“ von 1825 kann hier als bes. augenfälliges Zusammenspiel der verschiedenen Traditionslinien genannt werden. Politische Wirkmacht erhält der S.s-Gedanke jedoch erst durch die Verknüpfung mit Zielen, zu denen die Wohlfahrt der Bürger nur eine Vorbedingung darstellt, vornehmlich den Zielen der innerstaatlichen politischen Stabilisierung und Herrschaftssicherung (Herrschaft) sowie dem Ausweiten der staatlichen Einflusssphäre. So können etwa die Einführungen der rudimentären Sozialversicherungen im zweiten deutschen Kaiserreich als Abwehrreaktion der staatlichen Obrigkeit gegen die sozialistischen und sozialdemokratischen politischen Bewegungen einerseits und als Zurückdrängen nichtstaatlicher, oft in kirchlicher Trägerschaft geführter sonstiger Wohlfahrtseinrichtungen andererseits verstanden werden.
Sozialstaatliche Maßnahmen konfligieren im Grunde immer mit anderen Staatszielen (Staatszielbestimmungen) oder mit individuellen Rechten von Bürgern, weshalb sie in einem freiheitlichen Rechtsstaat nie schlechthin und absolut zum bestimmenden Merkmal staatlichen Handelns werden können. So muss stets eine Abwägung zwischen sozialstaatlichen Maßnahmen auf der einen und Werten wie individueller Freiheit, Eigentumsrechten, wirtschaftlicher Effizienz usw. auf der anderen Seite getroffen werden, da bspw. Eigentumsrechte durch staatliche Verteilungspolitik eingeschränkt werden. Andere staatliche Ziele oder individuelle Rechte hingegen werden durch sozialstaatliche Eingriffe befördert und dienen somit zu ihrer moralischen Rechtfertigung oder rechtlichen Legitimation, bspw. der Schutz der Menschenwürde, Beförderung von Freiheit und Gleichheit, gleiche Möglichkeiten zu gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Partizipation, Schutz der individuellen Existenz usw. Das S.s-Prinzip, wie es sich im GG andeutet, hat damit v. a. ausgleichende Funktion, denn einerseits darf die Konzeption des S.s nicht nur auf ein bloßes politisches Postulat reduziert werden, sondern stellt eine verpflichtende Norm für staatliches Handeln dar, andererseits darf es aber nicht als Einfallstor für Sozialismus, staatlichen Dirigismus und Einschränkungen der persönlichen Freiheiten missbraucht werden.
Literatur
C. Butterwegge: Krise und Zukunft des Sozialstaates, 2014 • S. Lessenich: Theorien des Sozialstaats zur Einführung, 2012 • M. Gräser: Wohlfahrtsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat. Bürgerliche Sozialreform und Welfare State Building in den USA und in Deutschland 1880–1940, 2009 • M. Stolleis: Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, 2003 • J. Höffner: Christliche Gesellschaftslehre, 1997 • A. Wagner: Lehr- und Handbuch der politischen Ökonomie. Grundlegung der politischen Ökonomie, 1892 • C. H. de Saint-Simon: Le nouveau Christianisme et les écrits sur la réligion, 1825.
Empfohlene Zitierweise
S. Schweighöfer: Sozialstaat, III. Philosophisch, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Sozialstaat (abgerufen: 22.11.2024)