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Version vom 14. November 2022, 06:01 Uhr

  1. I. Historisch
  2. II. Soziologisch
  3. III. Theologisch

I. Historisch

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Unter T. versteht man sprachlich einen vielfältig konnotierten Vorgang, der einerseits konservierend als Festhalten an etwas Gegebenem oder aktivisch als Überliefern oder Weitergeben verstanden werden kann, wobei diesem aktiven Überlieferungsgeschehen immer ein passives bzw. rezeptives Verhalten des mehr oder minder kritischen Übernehmens oder Aneignens gegenübersteht. Tradieren und die Rezeption von T. sind mithin anthropologische Konstanten, da es keine Gesellschaft, Religion oder Kultur geben kann, in der Menschen in völliger Selbstständigkeit aus sich heraus agieren. Bereits in der Familie, dann aber auch im Rahmen staatlicher, religiöser oder anderer Institutionen und Vergemeinschaftungsformen wachsen Menschen durch Aneignungsprozesse in bestehende kulturelle T.en hinein. Hierbei gilt es zwischen vormodernen traditionalen Gesellschaften einerseits und modernen Gesellschaften andererseits zu unterscheiden. In ersteren bleibt die T. in der Regel normativ. Es gilt ein weithin unbeschränktes Recht des Bestehenden, des Kontinuierlichen, des Alten und Überkommenen gegenüber dem Neuen. T. ist dabei nicht notwendig unreflektiert, aber in einem Maße normativ, das für moderne Gesellschaften mit ihrer spezifischen Wertschätzung des Neuen, einer sich als kritisch verstehenden Vernunft und einem auf die Zukunft und nicht auf den „Mythos des Anfangs“ ausgerichteten, linearen, Diskontinuitäten betonenden Fortschrittsnarrativ in dieser Intensität nicht nachvollziehbar ist. Zwar kann es innerhalb moderner Gesellschaften traditional-vormoderne und traditionelle Momente, d. h. innerhalb der Moderne neu formierte T.en geben, auch bleibt die sozialisierende Funktion von T.en erhalten, aber das geistige Gesamtgefüge der Moderne ist traditionskritisch und legt verstärkt Wert auf das rezeptiv-aktiv aneignende Moment von T. Demgegenüber sind auch in traditionalen Gesellschaften intentionale Neuerungen keineswegs ausgeschlossen, obwohl sie oft narrativ als Rückkehr zu den T.en des Ursprungs vermittelt werden. Man denke an die Reformation, frühneuzeitliche Bauernrevolten oder die bekannten „Fälschungen“ von Rechtsquellen im Mittelalter, die ja im Kern bestehende Rechtsverhältnisse auf einen imaginierten Anfang zurückführen wollten. Daher wird die Unterscheidung traditional-vormodern und modern-linear-fortschrittlich dahingehend zu differenzieren sein, im Rahmen einer nicht hintergehbaren Dialektik von T. und Neuerungen für den Bereich der Vormoderne ein Übergewicht der T., für die Moderne hingegen eine Dominanz des Neuen anzunehmen.

Für die Analyse von T. in vormodernen und v. a. schriftlosen Gesellschaften hat sich die Erforschung von oral traditions, wie sie insb. von dem Kulturanthropologen Jan Vansina in tribalen Kulturen Afrikas durchgeführt worden sind, bewährt. J. Vansina hat herausgearbeitet, wie relativ zuverlässig T.en in den ersten rund 80 Jahren – also über etwa drei Generationen, die direkt kommunizieren und interagieren können – oral weitergegeben werden, ehe sie dann wahlweise vergessen, in den Mythos überführt oder ritualisiert werden. Die Erforschung von T. in schriftlosen Kulturen agiert demnach beständig an der Grenze von Logos und Mythos, da sich in der oralen T. beide Narrationsstränge permanent überschneiden und durchmischen. Dies gilt gleichfalls für Schriftkulturen der traditionalen Vormoderne, wo allerdings das Moment des Logos wachsendes Gewicht erhält. Für die historiographische Analyse vormoderner Schriftkulturen und ihres Verhältnisses zur T. haben sich die Ansätze von Maurice Halbwachs zum kollektiven Gedächtnis bzw. von Jan Assmann zum kulturellen Gedächtnis bewährt, denen es um orale und nichtorale Formen der Erinnerung und damit der Weitergabe von sinn- und identitätsstiftenden T.en geht. Dies gilt insb. für religiöse und rechtliche T.en. Überdies kann man beide Ansätze für die Interpretation von T.s-Narrativen in der Moderne einsetzen. Tatsächlich nämlich haben T.en ihre soziale Bedeutung mit dem allmählichen Übergang in die Moderne nicht eingebüßt. Zwar hatte schon die Christianisierung des Abendlandes im westlichen Kulturkreis für eine Aufwertung der Ideen des Neuen und des linearen, auf einen finalen Zustand hinauslaufenden Fortschritts gesorgt, aber dieser Effekt war durch die theologisch positive Bewertung der T. in der Ekklesiologie und Dogmatik von Katholizismus und Orthodoxie eingehegt worden. In der Scholastik des Mittelalters zeigte der philosophische Umgang mit den theologischen und philosophischen Autoritäten der Antike die Funktionsweise der traditionalen Dialektik von T. und Neuerung, wie sie etwa auch im Konflikt zwischen via antiqua und via moderna in der Spätscholastik zum Austrag kam: Der Hinweis auf die Autorität entband keinesfalls von der reflektierten, vernunftbetonten Argumentation, sondern gerade der Konflikt der Autoritäten entfesselte die Tätigkeit der Vernunft (Vernunft – Verstand) in von der T. vorgezeichneten Bahnen. Auf ein weiteres, distinktives Kernelement vormoderner T.en in traditionalen Gesellschaften hat der Islamwissenschaftler Thomas Bauer anhand der Untersuchung des Umgangs mit überkommenen religiösen Texten in der Vormoderne aufmerksam gemacht. Für ihn liegt der zentrale Unterschied zwischen Vormoderne und Moderne in der Tendenz, T.en und traditionale, autoritative Texte immer mehr zu vereindeutigen, während er der Vormoderne eine gewisse Ambiguitätstoleranz, ja sogar die regelrechte Lust an vieldeutigen Interpretationen zuschreibt. Erst mit dem neuen Primat von Diskontinuitätsnarrativen im Renaissancehumanismus (Humanismus), in der Reformation und der Aufklärung wurde der soziokulturelle und ideengeschichtliche Stellenwert der T. nachhaltig relativiert. In den literarischen und philosophischen Querelles des anciens et des modernes an der Wende vom 17. und 18. Jh. kam es dann zu einer regelrechten, oft ironisch-satirischen Abwertung der T. Die konfessionalistische, katholische Reaktion auf die Reformation, das Aufkommen der lutherischen Orthodoxie sowie – als soziopolitische und philosophische Antwort auf den vernunftbetonten Kritizismus der Aufklärung und den Terror der 1790er Jahre – die Kritik an der Französischen Revolution führten freilich zu einer neuerlichen, kritischen und reflexiven Aneignung von T. Politisch reagierten Denker wie Edmund Burke, Joseph de Maistre, Louis-Gabriel-Ambroise de Bonald, Juan Donoso Cortés und Félicité de Lamennais mit einer aktiven Hinwendung zur T. im Sinne eines Rechts des Bestehenden und praktisch Bewährten gegenüber reinen Abstraktionen der Vernunft. Aus dieser praxeologischen Grundhaltung heraus entwickelten sich im Laufe des 19. Jh. wahlweise der moderate Konservatismus oder der radikalere Traditionalismus, der v. a. im spanischen Carlismus oder bei den mexikanischen Cristéros ausgeprägt reaktionäre, auf einen idealisierten mittelalterlichen Ordogedanken verweisende und militante Züge annahm. Aber auch in der Philosophie und den anderen Geisteswissenschaften kam es, unter dem wegweisenden Einfluss der Romantik, zu einer partiellen Abkehr vom bloßen Vernunftkonstruktivismus der Aufklärung, z. B. bei Johann Gottfried Herder, Johann Georg Hamann und in der prozessualen Dialektik Georg Wilhelm Friedrich Hegels, der Vernunft, Freiheit und T. zu versöhnen trachtete. Noch deutlicher wurde der Aspekt historischer T.en im Historismus. Dort wurde der Rekurs auf lebendige T.en methodisch und inhaltlich maßgebend. T.en dienten zum einen – mehr noch als die archäologisch fassbaren materiellen Überreste – als schriftliche Quellen für eine Vergangenheit, die nicht allein einen Zugriff auf eine in sich wertvolle Vergangenheit erlaubten, sondern v. a. die gewordenen T.en als für die Gegenwart relevante Vollzüge menschlicher Daseinsbewältigung artikulierten. Das historische Gewordene, die lebendige T. galt demnach als normativ solange verbindlich, bis möglicherweise bessere Alternativen aus der Erfahrung erwuchsen. Demgegenüber behauptete sich eine moderne Kritik, die gleichwohl selbst zu T. wurde, was wiederum die Bedeutsamkeit von T.s-Bildungsprozessen auch in der Moderne unterstreicht, die Vernunft oder Erfahrung, Fortschritt oder, wie Friedrich Nietzsche, „das Leben“ gegen die vorgeblich tote Reproduktion der T. im historistischen Rückblick ins Feld führten. Freilich nahmen Konservative und Historisten, von denen einige sich selbst als aufgeklärte Liberale verstanden, für sich gerade in Anspruch, ausgerechnet die historische T. sei erfahrungsgesättigt, auf der Reflexionsebene vernünftig und nicht per se fortschritts- oder gar lebensfeindlich. Einzig der radikale, fideistisch-irrationalistische Traditionalismus leugnete dies. Dieser Konflikt zweier soziopolitischer, kultureller und ideeller T.en hält weiterhin an und differenziert sich permanent aus. So ist der Konservativismus der Gegenwart mitunter eher traditionsskeptisch und stark von wirtschaftsliberalen Wachstums- und Fortschrittsgedanken durchsetzt, während die „progressive“ Ökologiebewegung stellenweise einem eher traditionalistischen Lebensstil huldigt. Im politischen Spektrum der Arbeiterbewegung ringen spätestens seit den 1990er Jahren ein traditionsorientierter Flügel und ein Flügel, der auf eine Abkehr von den T.en der Arbeiterbewegung setzt, um die Hegemonie. Sogar die als radikal traditionskritisch angetretene sog.e 68er-Studentenbewegung (Studentenbewegungen) ist, nicht zuletzt durch mediale Inszenierungen, inzwischen selbst zur T. geronnen. Dies belegt die Sinnhaftigkeit der von Karl Mannheim eingeführten Unterscheidung von Traditionalismus und Konservativismus. Nach K. Mannheim ist Traditionalismus eine Gesinnung, die sich je und je spezifisch innerhalb jeder Ideologie oder Weltanschauung ausprägen kann und die nicht mit dem weltanschaulichen Konservativismus verwechselt werden darf. So war die Führung des untergehenden Sowjetreichs der 1980er Jahre gerade nicht konservativ, wie oft behauptet wird, sondern traditionalistisch. Letztlich erweisen sich T.en als unverzichtbare und bis zu einem gewissen Grad nicht hintergehbare formative Elemente jeglichen gesellschaftlichen Lebens.

II. Soziologisch

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1. Soziologische Grundrelationen

Der Ausdruck „T.“ bezeichnet ein breites Spektrum von Phänomenen der Kontinuität. Um sie unter soziologischen Gesichtspunkten begrifflich zu ordnen, empfiehlt sich eine Reihung vom Elementaren zum Komplexen. Es kann sich dabei um bewährte Problemlösungen in wiederkehrenden Situationen des privaten wie beruflichen Alltags handeln oder um das regelhaft geformte, kommunikativ-expressive Verhalten bei periodisch wiederkehrenden Unterbrechungen des Alltags in Fest und Feier, gleich ob im privaten oder öffentlichen Raum; es kann sich um identitätsstiftende Kommunikations- und Verhaltensformen lokal oder regional „eingewurzelter“ Gruppen (insb. „Ethnien“), aber auch überlokal agierender Organisationen, Verbände und Institutionen handeln und schließlich, bei höher entwickelter gesellschaftlicher Differenzierung, um die normativen, orientierend-sinnvermittelnden, institutionellen Kerne zentraler Systeme wie Bildung, Wissenschaft, Recht, politische Organisation (Staat), Religion.

Sind, auf der mikrosoziologischen Ebene, T.en unmittelbar relevant für eine Handlungssituation, gibt es grundsätzlich folgende Möglichkeiten:

a) Die Handelnden folgen der T., ohne sich dieser Tatsache bewusst zu sein;

b) sie folgen ihr bewusst und in allen Teilen übereinstimmend mit den Vorgaben;

c) sie folgen ihr selektiv, ohne Einführung neuer Elemente;

d) sie ersetzen die T. vollständig oder in Teilen durch ein neues Handlungsmuster;

e) sie beenden die T. ersatzlos.

Auf dieser Ebene der Analyse zeigt sich der grundsätzlich prekäre Erkenntnisstatus des Begriffs „T.“ insofern, als T.en (im Fall a) als bloß „gelebte“ eine Herausforderung für methodisch-exakte Beschreibung durch Beobachtung über lange Zeitperioden hinweg darstellen; in den Fällen b) bis d) hingegen ist T. eine Herausforderung für die sekundäre Interpretation des reflexiven, stets interpretierenden Umgangs mit dem, was jeweils als „vorgegeben“, als „geltend“ erachtet wird. Das Reflexivwerden von T. bringt – bes. unter den gesellschaftlichen Verhältnissen der Gegenwart – als eine mögliche Variante des Umgangs mit T. immer wieder auch von materiellen oder ideellen Interessen geleitete Instrumentalisierungen mit sich, u. a. Tatsachen (z. B. der „Folklore“) manipulierende Neuschöpfungen, die im Nachhinein dazu berechtigen, sie als „erfundene“ T.en zu identifizieren. „Erfindung von T.“ kann sich auch nur auf den Entstehungszeitpunkt einer T. beschränken, wie bereits das historisch wirkmächtige Beispiel der „Konstantinischen Schenkung“ zeigt: Die Entstehung dieses kirchenpolitischen Konstrukts aus dem 9. Jh. wurde in der T. der darauffolgenden Jahrhunderte zurückdatiert in das 4. Jh. n. Chr.

Sind hingegen T.en, auf der makrosoziologischen Ebene betrachtet, nicht unmittelbar handlungsrelevant, sondern situationsübergreifend von – z. B. politischer, rechtlicher, ethischer, weltanschaulicher – Bedeutung, entscheiden über die Kontinuität des Tradierten bzw. seinen Wandel Diskurslagen und deren langfristige Entwicklung. Sie werden in Geschichte und Gegenwart maßgeblich von Intellektuellen gestaltet und beeinflusst, in der Geschichte der vormodernen Hochkulturen regelmäßig von Eliten (in Europa insb. Philosophen, Theologen, Literaten, Humanisten, Künstler), die sich in Akademien organisieren. Eine von heftigen Konflikten begleitete Dauerintervention der Intellektuellen charakterisiert den spezifischen Weg der westlichen Gesellschaften zu einer vermeintlich alles Traditionelle hinter sich lassenden Moderne ebenso wie die Revision bzw. die Umkehrung dieser Tendenz in den typischen Reaktionen außereuropäischer Länder auf den modernisierenden Einfluss des Westens. Die breitgefächerte sozial- und kulturwissenschaftliche Literatur zum Thema „Moderne“ kontrastierte lange Zeit den Modernitätsbegriff mit einem überaus heterogenen Begriff von T. Wenn in und außerhalb der Soziologie der Klassiker Max Weber wiederholt diesem Diskurs über den konstitutiven Gegensatz Traditionalität/Moderne zugeordnet wird, so setzt dies eine Kongruenz der geläufigen Konzepte „moderner Gesellschaft“ mit M. Webers Konzeption von „Rationalität“ voraus. Diese Interpretation ist jedoch in dreierlei Hinsicht fragwürdig:

a) M. Weber hat keine allg.e Theorie der „modernen Gesellschaft“ verfasst – sein Hauptinteresse zielt ab auf das Spezifische der okzidentalen Entwicklung;

b) seine analytische Begrifflichkeit zur Rationalität und ihren Alternativen (wie Traditionalität) ist im Vergleich zu den konzeptuellen Prämissen jener Kongruenzauffassung differenzierter;

c) die historischen Kontexte, zu deren Erkundung er diese Begrifflichkeit einsetzt und bei der er sie gleichzeitig verfeinert, reichen weit über die okzidentale Moderne zurück bis in die Antike und schließen eine Auswahl außereuropäischer Kulturen ein.

Ein genauerer Blick auf M. Weber ist daher unumgänglich.

2. „Tradition“ in Max Webers Soziologie und Universalgeschichte

Für M. Webers Konzeptualisierung von „T.“ gibt es vier bedeutsame Orte in seinem Werk:

a) erstens seine Typologie der (sozialen) Handlung (Handeln, Handlung), anhand derer die Motive und sinnhaften Orientierungen jedes möglichen Handelns von Menschen analysiert, gedeutet und in seinen Zusammenhängen erklärt werden kann;

b) zweitens die auf den Handlungstypen aufbauende allg.e, d. h. universalhistorisch einsetzbare Typologie der Legitimierungs- und Organisationsformen von Herrschaft;

c) drittens seine Analysen der bes.n Entwicklungsstrukturen säkularer und sakraler Herrschaftsphänomene, deren Schwerpunkt auf den europäischen Entwicklungen liegt, die sich vom Mittelalter bis ins 20. Jh. erstrecken; und schließlich,

d) viertens, seine religionssoziologisch-kulturvergleichenden Studien zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ (Weber 1989).

Zu a): In der Typologie des sozialen Handelns steht Traditionalität als „eingelebte Gewohnheit“ neben den Typen „affektuell/emotional“ und „rational“ (entweder „wertrational“ oder „zweckrational“ [Weber 2013: 175], d. h. in reiner Ausprägung: an Werten orientiert ohne Rücksicht auf Folgen oder am Erreichen von Zwecken unter Abwägung von Folgen). Das traditional bestimmte Handeln steht wie das affektuelle an der Grenze und oft jenseits einer bewussten, sinnhaften Orientierung. Die Mehrzahl der empirischen Fälle kann als Mischungsverhältnis zwischen den Typen oder Ergebnis eines Übergangsprozesses beschrieben werden. In dieser Hinsicht ist das traditionale Handeln von außerordentlicher Relevanz für die Herausbildung dauerhafter Strukturen, weil bestimmte Arten des traditionalen wie emotionalen Typus in Mischungen beider wertrational überbaut und so auf Dauer gestellt werden oder weil emotional (v. a. „charismatisch“ [Weber 2013: 170]) entstandene Gebilde durch Traditionalisierung sich in dauerhafte Strukturen umformen.

Zu b): Auf die Herrschaftsstrukturen angewandt, ergeben die drei Grundvarianten der Handlungsorientierung auch das Grundmuster für die Typologie der Herrschaftslegitimation und zugleich -organisation:

1) dem traditionalen Typus der Legitimation, der begründet wird im „Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen und [an] die Legitimität der durch sie zur Autorität Berufenen“ (Weber 2013: 453), entsprechen auf der organisatorischen Ebene patriarchale, patrimoniale und feudale Strukturen;

2) dem charismatischen, der auf dem emotionalen Glauben an die als „außeralltäglich […] geltende Qualität einer Persönlichkeit“ (Weber 2013: 490) beruht, entsprechen die relativ strukturlosen Gemeinden und Bewegungen religiöser oder politischer Führer;

3) dem legalen („rationalen“) Typus, der auf „dem Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen“ (Weber 2013: 453) beruht, entspricht die mit nachvollziehbaren Regeln, auf der Grundlage von Fachschulung arbeitende Bürokratie.

Da, so M. Weber, jede Herrschaft „im Alltag primär […] Verwaltung“ (Weber 2013: 459) bedeutet, ist das routinenreiche Kontinuum jeder Verwaltung eine „natürliche“ Matrix für die Entstehung von T.

Zu c): Für den Stellenwert von T. in M. Webers historisch-soziologischen Strukturanalysen der Herrschaftsphänomene sind die Mischungsverhältnisse und Übergänge zwischen den Typen von bes.m Interesse. Traditionale Gebilde können in Richtung auf Legalität „modernisiert“ werden, aber auch durch Charisma revolutionär aufgebrochen und daraufhin aufs Neue, im Prozess der „Veralltäglichung“ (Weber 2013: 497), in T. übergehen. M. Weber hat verschiedene Wege der Veralltäglichung des Charisma beschrieben: als historisch wie kulturell bes. folgenreich den traditionsbegründenden Modus der Institutionalisierung, u. a. in Form von Ämtern („Amtscharisma“, Weber 2013: 502) – sei es an der Spitze einer Hierarchie (wie im Fall des alten China, wo das magische Charisma eines Regenmachers in die traditionale Kaiserrolle integriert war) oder gleichmäßig verteilt über die Hierarchie wie im Fall des traditionell-katholischen Priesters, dessen Amt zur sakramentalen Heilsspendung befähigt, weil das Charisma des Heils in der Weihe-T. von der Person des Religionsstifters abgelöst und auf das Amt als solches – eine an sich unpersönliche Struktur – übertragen wurde (Weber 2005: 529).

Zu d): M. Webers im Anschluss an seine Protestantismusstudie unternommenen Forschungen zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ (Weber 1989) (in China, Indien, im antiken Israel) enthalten – unter der kulturvergleichenden Fragestellung nach den bes.n Bedingungen für die Entstehung des Rationalismus im Okzident – eine vielfältige Kasuistik der religiösen T.en und ihrer unterschiedlichen Folgen für das Handeln in der „Welt“. Im Hinblick auf das Thema „T.“ ist von bes.m Interesse, dass er in der „Einleitung“ zu diesen Studien (Weber 1989) seinen – in der Rezeption oft auf die instrumentell-technische Dimension reduzierten – Begriff des Rationalismus erweitert auf Systematisierungen der Weltbilder sowie der religiös-ethisch, aber auch ästhetisch (in den Künsten wie z. B. der Renaissance über die Normen eines Kanons) bestimmten „Lebensführung“ (Weber 1989: 85).

3. Tradition als kulturelles Gedächtnis

Jede T. hängt ab von kulturellen Kontexten und Prozessen, die Handlungsorientierung ermöglichen und Sinnstrukturen hervorbringen; umgekehrt ist Kultur ihrerseits, als ein sich ständig verändernder Komplex, angewiesen auf die Kerne ihrer T. – auf die Verlässlichkeit all dessen, was ihr an Geltendem entnommen werden kann. Als das relativ statische Element jeder Kultur ist T. unentbehrlich in ihrer Funktion des kulturellen Gedächtnisses, also ein „Gedächtnis der Gesellschaft“ (Erll 2017: 49) zu sein, welches Erinnernswertes aufrechterhält und weiterentwickelt. Als „konservative“ Dimension der Kultur steht sie in notwendiger Spannung zu deren kreativ-innovierenden, dynamischen Seiten; problematisch ist dabei ein Zuviel an „Memorialismus“ (Weinrich 1997: 264) oder ein Zuviel an „Oblivionismus“ (Weinrich 1997: 263). Von soziologischer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang Aleida Assmanns Differenzierung des kulturellen Gedächtnisses in ein „Funktions-“ und ein „Speichergedächtnis“ (Assmann 1999). Das erste ist das lebende, „bewohnte“ Gedächtnis, das zweite das „unbewohnte“ (Assmann 1999: 133) Archiv der Kultur, dessen Bestände ihren Bezug zum gesellschaftlichen Leben verloren haben. Kulturträger interpretieren diesen Bezug und entscheiden darüber, was jeweils aktuell auf der einen Seite als wertvolle oder zweckmäßige T. im Funktionsgedächtnis der Kultur aufgehoben werden soll und was, auf der anderen, „abgespeichert“, temporär vergessen werden kann. Der gegenwärtige Stand der wissenschaftlich-technischen Zivilisation stellt für das Problem, wie eine verantwortbare Balance zwischen Memorialismus und Oblivionismus erreicht werden könne, eine erhebliche Herausforderung dar. Die global wirksame ökonomische Triebkraft dieser Zivilisation bedeutet, i. V. m. der digitalisierten Kommunikation (Digitalisierung), die Dominanz beschleunigter Neuerung und Veränderung – und dadurch ein Übergewicht des Imperativs, alles „Nutzlose“ zu vergessen. Die relativ dauerhaften Gebilde der T. können zwar durch den Hypertext bis ins letzte Detail reproduziert werden, doch kann virtuell erzeugtes räumliches Erleben reales nicht ersetzen (z. B. die sinnlichen und ästhetischen Qualitäten symbolisch-ritueller Handlungen in religiösen T.en). Zudem sind die virtuellen Surrogate für die kulturellen Fixpunkte im Strom der Zeit, die T.en darstellen – zunehmend desintegriert aus ganzheitlichen Zusammenhängen des Lebens – potentiell gleichwertigen Speicher- und Löschoptionen ausgesetzt, wodurch die Fortsetzung gelebter T. grundsätzlich gefährdet ist.

III. Theologisch

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T. bezeichnet zum einen einen grundlegenden Lebensvollzug der Kirche, zum andern ein theologisches Erkenntnisprinzip.

1. Tradition als Lebensvollzug

Gruppen, die sich auf ein Gründungsgeschehen (wie das Judentum auf die Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft) oder eine Gründergestalt (wie das Christentum auf Jesus von Nazaret) beziehen, halten dieses Geschehen oder diese Gestalt mit wachsendem zeitlichem Abstand vielfältig gegenwärtig. Dies geschieht in Texten, aus denen die jüdische und die christliche Bibel entstanden sind, in rituellen Handlungen (wie etwa Beschneidung und Pessachmahl im Judentum oder Taufe, Eucharistie und Sakramente im Christentum), in Sakralräumen und deren Ausstattung sowie „amtlichen“ Strukturen, in denen durch ausgewiesene Personen die jeweilige Gruppenidentität (Identität) gepflegt wird. Hierbei geht es nicht einfach um die Tradierung eines festen Bestandes, sondern auch um dessen Umdeutung und Anreicherung. So wird die Weitergabe des Glaubens selbstverständlich zu dessen Weiterentwicklung, und es stellt sich die Frage nach deren Legitimität.

2. Tradition als Erkenntnisprinzip

Eine Reflexion des T.s-Vorgangs findet sich bereits bei Paulus, der jüdische T.s-Terminologie verwendet: „ich habe euch überliefert, was auch ich empfangen habe“ (1 Kor 15,3; vgl. 1 Kor 10,23). Die Glaubenden werden nach Paulus gerettet, wenn sie an dem von ihm verkündeten Wort festhalten (1 Kor 15,1 f.), das er selber empfangen hat und das er in Gestalt eines frühchristlichen Osterbekenntnisses (1 Kor 15,3 ff.) oder der Abendmahlsüberlieferung zitiert (1 Kor 10,23–26). Im Hinblick auf christliche Lebensformen unterscheidet Paulus zwischen Geboten, die er auf „den Herrn“ zurückführt, und Räten, die er selber gibt (etwa 1 Kor 7,10.12.25), die er seinerseits von dem aktuellen und individuellen Ruf Gottes in die Nachfolge unterscheidet (1 Kor 7,17). In den deuteropaulinischen Pastoralbriefen wird die Lehre des Apostels selber zum „anvertrauten Gut gesunder Worte“ (2 Tim 1,12 ff.), das es gegen häretische Abweichungen zu bewahren gilt. Im Johannesevangelium wird der Heilige Geist als „Beistand“ verheißen, der das Jesus-Ereignis gegenwärtig hält und in ein tieferes Verständnis der „Wahrheit“, d. h. der göttlichen Offenbarung, einführt (Joh 14,16 f. 26; 15,26; 16,13). Die hier deutlich werdende Spannung zwischen überkommenen verbindlichen Vorgaben für christliches Glauben und Leben und zeitgemäßer Umsetzung gilt bis heute. Aus dem Bedürfnis heraus, das Ursprungszeugnis verlässlich weiterzugeben (Lk 1,1–4) und die Identität der Botschaft zu sichern, ist eine Reihe von Schriften entstanden, die in einem langen Prozess im Kanon des NT zusammengefasst wurden und denen für die weitere Entwicklung der Kirche und ihrer Lehre normative Funktion zukommt. Da diese Schriften selber der Auslegung offenstehen bzw. dieser bedürfen und zudem nicht alle entstehenden Fragen beantworten, hat sich ein kirchliches Lehramt herausgebildet, das seinerseits verbindliche Lehren formuliert. Dieses Lehramt wurde und wird von den Vertretern der Ortskirchen (Bischof) synodal wahrgenommen (Konzil, Synode). Im Verlauf der Geschichte gelang es dem Bischof von Rom (Papst) immer mehr, dieses Lehramt an sich zu ziehen.

Strittig wurde die T. in der Auseinandersetzung mit Strömungen, die sich ausschließlich auf die Heiligen Schrift beriefen, zuletzt in der Reformation (sola scriptura – „allein die Schrift“). Das Konzil von Trient (1545–63) hat demgegenüber festgestellt, dass das „Evangelium“ als „Quelle aller heilsamen Wahrheit und Sittenlehre“ von Jesus Christus den Aposteln anvertraut und „in geschriebenen Büchern und ungeschriebenen Überlieferungen […] gleichsam von Hand zu Hand“ bis in die Gegenwart weitergegeben wurde. Beide sind „mit dem gleichen Gefühl der Dankbarkeit und der gleichen Ehrfurcht“ zu behandeln (DH 1501). Während die biblischen Bücher einzeln aufgeführt werden (DH 1502–1503), wird nicht konkretisiert, um welche Überlieferungen es sich handelt. Das Konzil ist eher zurückhaltend, einzelne Gebräuche wie etwa Kindertaufe, Messkanon oder Ohrenbeichte auf die apostolische Zeit zurückzuführen. Lange hat man die Aussage des Tridentinums i. S. gleichberechtigter Offenbarungsquellen interpretiert, von denen die eine, die T., das bietet, was die andere, die Heilige Schrift, vermissen lässt. Beide bilden das eine Glaubensdepositum, das allein dem Lehramt zur Auslegung anvertraut ist (Erstes Vatikanisches Konzil [1869/70], DH 3070). Nach heftigen Auseinandersetzungen hat das Zweite Vatikanische Konzil (1962–65) in der Offenbarungskonstitution DV eine ganzheitliche Sicht formuliert, in der nicht mehr von einzelnen T.en, sondern von der T. die Rede ist (DV 7–10, DH 4207–4214). Das Verhältnis von Heiliger Schrift und T. wird so bestimmt, dass die erstere das schriftlich festgehaltene Wort Gottes ist, während die Aufgabe der T. darin besteht, dieses weiterzugeben (DV 9, DH 4212). Ihre Funktion wird, auch wenn DV 8 von einer Weiterentwicklung der T. spricht (DH 4210), eher als eine konservierende verstanden, die unter der Leitung des kirchlichen Lehramts steht. Die nachkonziliare Lehrverkündigung der Päpste hat diesen Aspekt in den Vordergrund gerückt und gegen Forderungen nach einer Neubewertung der überkommenen Lehre, etwa in der Frage der Frauenordination, ins Feld geführt. Von Seiten der neueren römisch-katholischen Theologie wird die Entscheidungskompetenz des Lehramts keineswegs bestritten, aber die Vielfalt der Bezeugungsinstanzen kirchlicher Lehre, wie etwa der Theologie und des Glaubenssinns der Gläubigen, und deren aktive Beteiligung an der Rezeption und Weiterentwicklung des überkommenen Glaubens herausgestellt.