Verfassung

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1. Begriff

V. war anfangs ebenso wie ihr fremdsprachliches Äquivalent „Konstitution“ ein empirischer Begriff, der aus der Naturbeschreibung in die rechtlich-politische Sprache überging und dort den Zustand eines Landes bezeichnete, wie er durch die Beschaffenheit des Territoriums und seiner Einwohner, die historische Entwicklung und die bestehenden Machtverhältnisse, die rechtlichen Normen und politischen Institutionen geprägt wurde. Mit dem Bemühen, die Staatsgewalt zugunsten der Untertanenfreiheit zu beschränken, das seit der Mitte des 18. Jh. in der Naturrechtslehre (Naturrecht) vordrang, setzte jedoch eine Verengung des V.s.-Begriffs ein, in deren Verlauf die nichtnormativen Elemente allmählich abgestoßen wurden, bis V. schließlich nur noch als der vom Staatsrecht determinierte Zustand erschien. Erst mit den Revolutionen des ausgehenden 18. Jh. in Nordamerika und Frankreich, die die angestammte Herrschaft gewaltsam beseitigten und eine neue auf Grundlage rationaler Planung und rechtlicher Fixierung errichteten, vollzog sich der Übergang vom Seins- zum Sollensbegriff. V. wird seitdem gewöhnlich mit dem Normenkomplex identifiziert, der die Einrichtung und Ausübung der Staatsgewalt sowie die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft grundlegend regelt. Sie ist das dem Souverän zugeschriebene, die Staatsorgane bindende und insofern vorrangige, meist in einer Urkunde zusammengefasste und erschwert änderbare Recht. Von den naturrechtlichen Entwürfen legitimer Herrschaft unterschieden sich die neuen V.en durch ihre positiv-rechtliche Geltung (Rechtspositivismus), von den älteren rechtlichen Bindungen staatlichen Handelns in Gestalt von Herrschaftsverträgen (Vertragstheorie), leges fundamentales etc. durch ihren herrschaftskonstituierenden (nicht nur -modifizierenden), universalen (nicht nur partikularen) und umfassenden (nicht nur punktuellen) Charakter. In diesem normativen Sinn überwiegt der V.s-Begriff bis heute, wenngleich er den älteren empirischen keineswegs obsolet gemacht hat. Dieser pflegt vielmehr immer dann als Erklärungsfaktor wiederzukehren, wenn die rechtliche V. sich in der sozialen Wirklichkeit nicht durchsetzt oder andere als die erwarteten Wirkungen hervorbringt.

2. Entstehung und Verbreitung

Eine V. im empirischen Sinn besitzt jedes Gemeinwesen. Die V. im normativen Sinn ist ein Produkt der bürgerlichen Revolutionen des späten 18. Jh. Diese hatten die überkommene und aus sich selbst legitimierte monarchische Staatsgewalt (Monarchie) gestürzt und standen nun vor der Aufgabe, eine neue, legitime zu errichten. Dabei wiesen mehrere Faktoren in Richtung der V. In der Sozialphilosophie der Zeit galt nach dem Verblassen religiöser Legitimitätsmuster infolge der Glaubensspaltung nur noch diejenige Herrschaft als legitim, die auf der Zustimmung der Herrschaftsunterworfenen beruhte. Dieses als regulative Idee gedachte Kriterium gewann im Kampf gegen die traditionelle Staatsgewalt realen Forderungsgehalt. Seine Bedeutung für die V. lag darin, dass eine Herrschaft kraft Auftrags, die damit an die Stelle der Herrschaft aus originärem oder göttlichem Recht treten musste, ohne eine sie begründende und tradierende Regel nicht vorstellbar ist. Sie erfordert also einen Konstitutionsakt, ohne dass dieser mit der Konstitution schon identisch wäre. Es lässt sich auch absolute Herrschaft aus übertragenem Recht denken, die dann näherer verfassungsrechtlicher Bindung weder bedürftig noch fähig ist. Die förmliche V. drängte sich aber deswegen auf, weil nach den Überzeugungen des sozialen Trägers der Revolution Wohlfahrt und Gerechtigkeit von einer Beschränkung des Staates auf den Schutz individueller Freiheit abhing. Die konzentrierte und mit dem Gewaltmonopol ausgestattete Staatsgewalt, die in der Neuzeit die polyzentrische, auf verschiedene autonome Träger räumlich, gegenständlich und funktional aufgeteilte Herrschaftsgewalt des Mittelalters verdrängt hatte und den regelnden Zugriff einer V. erst ermöglichte, wurde also beibehalten. Es kam aber darauf an, sie so umzugestalten, dass sie zwar ihre Garantenfunktion wirksam erfüllen, aber keine eigenen Steuerungsambitionen entfalten konnte. Die Aufgabe war so beschaffen, dass sie gerade im Recht ihre adäquate Lösung fand: Grundrechte begrenzten die Staatsgewalt auf Schutz und Ausgleich individueller Freiheit, und Gewaltenteilung beugte der Missbrauchsgefahr vor.

Die V. als neue Art der Herrschaftsbegründung und Herrschaftsbegrenzung übte sogleich beträchtliche Anziehungskraft außerhalb ihrer Ursprungsländer aus. Der V.s-Staat (Staat) wurde für längere Zeit zum wichtigsten innenpolitischen Thema der meisten europäischen Staaten. Dabei verbanden sich für seine Anhänger die normativ-urkundliche Form, die herrschaftsbegründende und -begrenzende Funktion und der grundrechtlich-gewaltenteilende Inhalt zu einer untrennbaren Einheit. Der Verbreitung der V. kam es jedoch gerade zugute, dass sie als Form der Herrschaftsregulierung weder auf den Inhalt noch die Funktion der Prototypen festgelegt war. Das erlaubte ihre Rezeption auch unter Bedingungen, die der Entstehung feindlich gewesen wären. Je ferner ein Land den Entstehungsbedingungen des V.s-Staats stand, desto mehr schrumpfte freilich der herrschaftslegitimierende und -limitierende Gehalt der V. Mit der Erfindung der Konstitution (Konstitutionalismus) war auch die Möglichkeit von Semikonstitutionalismus oder Scheinkonstitutionalismus gegeben. Ohne eine vorausgegangene Revolution fehlte ihr v. a. die herrschaftsbegründende Wirkung. Viele V.en des 19. Jh. beschränkten sich auf Herrschaftsmodifikation, unterschieden sich von den älteren rechtlichen Bindungen politischer Herrschaft aber immer noch durch ihre universale Geltung und ihren umfassenden Regelungsanspruch. Zur weltweiten Durchsetzung der V. im 20. Jh. trug v. a. die gründliche Veränderung des Staatensystems infolge von Revolution, Krieg und Dekolonialisierung bei. Wo immer es in solchen Situationen an einem vorfindlichen und für legitim gehaltenen Herrschaftssubjekt fehlte, drängte die Notwendigkeit der Errichtung und Organisierung der Staatsgewalt auf einen Konstitutionsakt, der fast durchweg in V.s-Gesetzen Ausdruck fand. D. h. aber nicht notwendig, dass ihnen dieselbe normative Bedeutung wie den urspr.en V.en beigemessen wird. Die weltweite Verbreitung der V., von der sich nur noch wenige Staaten distanzieren, darf also nicht mit universaler Effektivität gleichgesetzt werden.

3. Funktion und Eigenart

Die prekäre Situation der V. ergibt sich daraus, dass sie die oberste Gewalt selber zum Gegenstand hat. Erklärter Zweck ist die Verrechtlichung der politischen Machtausübung. Damit greift die V. auf ältere Ordnungsvorstellungen zurück, die die Neuzeit überholt hatte, und passt sie veränderten Bedingungen an. Politische Herrschaft war urspr. nur als Sachwalter einer ihr vorgegebenen und von ihrem Willen unabhängigen Ordnung göttlichen Ursprungs begriffen worden. Bedingt durch die Glaubensspaltung, die dieser Ordnung die Grundlage entzog, sowie die dadurch entfesselten konfessionellen Bürgerkriege, die im traditionellen Ordnungsrahmen nicht überwunden werden konnten, und den beschleunigten sozialen Wandel, der die Problemadäquanz des überlieferten Rechts minderte, hatte sich die politische Gewalt von der göttlichen Ordnung emanzipiert und selbst zur Quelle einer neuen weltlichen Ordnung erhoben. Die Herrschaftsbefugnis ging infolgedessen nicht mehr in der Rechtsdurchsetzung auf, sondern erfasste auch die Rechtsetzung. Das Recht verwandelte sich damit vom ewig gültigen Richtmaß zum kontingenten Willensprodukt der Politik. Mittels der V. gelang es, die rechtliche Bindung von Herrschaft mit der unumkehrbaren Positivierung des Rechts zu vereinbaren, indem Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung ihrerseits wieder an positives Recht gebunden wurden. Das bedingte freilich eine Aufspaltung der öffentlichen Gewalt in pouvoir constituant und pouvoirs constitués und folglich auch eine Aufspaltung des positiven Rechts in eine Gruppe von Basisnormen für die Herstellung politischer Entscheidungen, die sich an die Machthaber richteten, und eine Gruppe politikerzeugter Normen, die sich an die Herrschaftsunterworfenen richteten. Die erstere musste dann notwendig über der letzteren stehen. Der Vorrang gehört begrifflich zur V., auch wenn das nicht sogleich überall erkannt worden ist. Auf diese Weise sollte die Ausübung von Herrschaft dem subjektiven Belieben ihrer Träger entzogen und wieder objektiven, von ihrem Willen unabhängigen, freilich nicht mehr unveränderlichen Regeln unterworfen werden: a government of laws and not of men.

Ihrer Funktion gemäß ist die V. zuallererst ein Inbegriff von Rechtsnormen. In dieser Eigenschaft bildet sie nicht die soziale Wirklichkeit ab, sondern richtet Erwartungen an sie, deren Erfüllung nicht selbstverständlich ist und eben deswegen rechtlicher Stützung bedarf. Die V. bezieht also Distanz zur Wirklichkeit und gewinnt daraus erst das Vermögen, als Verhaltens- und Beurteilungsmaßstab für Politik zu dienen. Sie kann daher ohne Funktionseinbußen weder in eine einmalige Dezision noch in einen kontinuierlichen Prozess aufgelöst werden, sondern verselbständigt sich als Norm von der Dezision, der sie ihre Geltung verdankt, und fungiert als Struktur für den Prozess, den sie voraussetzt. Von anderen Rechtsnormen unterscheidet sich das V.s-Recht nächst dem Rang v. a. durch den Gegenstand. Es bezieht sich konstituierend und regulierend auf die oberste Gewalt. Deswegen erschöpft es sich aber nicht etwa im Staatsrecht oder gar in der Staatsorganisation. Seine Normen sind gewöhnlich nicht nur formeller, sondern auch inhaltlicher Natur. Gerade darin übersteigt die V. das Staatsrecht. Indem der Staat nämlich seine Aufgaben in Bezug auf die Gesellschaft erfüllt, bilden die an ihn adressierten Strukturbestimmungen, Zielvorgaben und Tätigkeitsschranken zugl. Grundprinzipien der Sozialordnung. Als solche sind sie freilich lapidarer und konkretisierungsbedürftiger als normales Gesetzesrecht. Überdies fällt V.s-Recht aufgrund seiner Entstehung auch fragmentarischer und kompromisshafter aus als einfaches Recht. V. a. aber hat es als Verhaltensmaßstab für die oberste Gewalt keine organisierte Durchsetzungsinstanz mehr hinter sich. Regelungsadressat und Regelungsgarant sind vielmehr identisch. Dieses spezifische Durchsetzungsproblem des V.s-Rechts ist prinzipiell unlösbar und kann auch durch V.s-Gerichte nur entschärft, nicht aufgehoben werden. V.s-Recht muss daher in wesentlich höherem Grad als das an den Einzelnen oder die nachgeordneten Agenturen des Staatsapparats gerichtete Recht die Bedingungen seiner Verwirklichung in sich selber tragen.

4. Voraussetzungen und Grenzen

Wichtigste Voraussetzung der tatsächlichen Geltung einer V. ist ihre Konsensbasis. Ohne die generelle Bereitschaft der politischen Akteure, die V. auch dann einzuhalten, wenn sie den eigenen Absichten im Wege steht, und ohne den Rückhalt in der Bevölkerung, der ihre Verletzung politisch riskant macht, entfaltet eine V. entweder keine Wirkungskraft oder verliert sie in Krisensituationen (Krise) wieder. Andererseits kann die V. den für jede Gesellschaft bestandsnotwendigen Konsens über Art und Form ihrer Einheit stabilisieren. Alle Gesellschaften stehen ja vor dem Grundproblem, die gegebene Pluralität der gesellschaftlichen Überzeugungen und Interessen mit der aufgegebenen staatlichen Einheit zu vermitteln. Daher muss über Verfahren und Ziel der Einheitsbildung Einverständnis hergestellt werden, wenn nicht Dauerkampf und Desintegration herrschen sollen. Dieser Konsens darf nicht mit der V. gleichgesetzt werden. Er geht ihr zeitlich voraus und ist nicht auf die Form der V. angewiesen. Sie gibt ihm aber Ausdruck. Ihre Bedeutung liegt darin, dass sie den Konsens von der Entstehungssituation und den beteiligten Personen ablöst und ihm Verbindlichkeit, Dauer und Bestimmtheit verleiht. Auf diese Weise lässt sich der mögliche Dissens über den Konsens vermindern und der politische Prozess von einer permanenten Diskussion über Verfahren und Ziele der Einheitsbildung entlasten. Was in der V. steht, ist nicht mehr Thema, sondern Prämisse politischer Entscheidungen. Darin liegt die anderweitig nicht adäquat ersetzbare Leistung der normativen V. Der Erfolg hängt freilich davon ab, in welchem Maß die unterschiedlichen Positionen in den Konsens einbezogen werden. Das scheint politischen Systemen, die die Pluralität der Meinungen und Interessen als legitim anerkennen und sich daher auf die Formulierung eines Basiskonsenses beschränken können, besser zu gelingen als solchen, die sich über Wahrheit legitimieren und daher zum Totalkonsens tendieren. Sie müssen das schmälere Einverständnis durch erhöhten Zwang kompensieren und setzen insoweit die legitimierende, pazifizierende und stabilisierende Wirkung der V. aufs Spiel.

Auf der Konsensverankerung beruhen alle expliziten Funktionen der V., die Legitimations- und die Limitationsfunktion, die Ordnungs- und die Streitentscheidungsfunktion. Aus der Konsensabhängigkeit folgen aber auch die wichtigsten Grenzen der Verrechtlichung politischer Herrschaft. Politik lässt sich aus mehreren Gründen nicht total verrechtlichen. Zuerst setzt die Konsensbeschaffung bei der V.-Gebung der Verrechtlichung Grenzen. Als Vorrat an Gemeinsamkeiten der politischen Konkurrenten stellt die V. höhere Anforderungen an den Konsens als einfaches Gesetzesrecht. Lücken und Formelkompromisse sind daher oft Bedingung ihres Zustandekommens. Ferner kann die V. zwar Gegenstände und Ziele, Kompetenzen und Verfahren für kollektiv verbindliche Entscheidungen festsetzen. Es liegt aber außerhalb ihres Vermögens, auch den Input in den Entscheidungsprozess im Voraus zu normieren. Grenzen der Verrechtlichung ergeben sich überdies aus der Zeitdimension, in welche die V. den Konsens erstreckt. Der gesellschaftliche Konsens, dem die V. Verbindlichkeit verleiht, ist ja stets ein historischer Konsens, dessen Gegenwartsrelevanz davon abhängt, dass er für spätere Generationen anerkennungsfähig bleibt. Das setzt relative Offenheit voraus. Je geschlossener der Konsens ist, desto stärker haftet er an den Bedingungen seiner Entstehungszeit und erschwert die Fortgeltung unter gewandelten Verhältnissen. Schließlich und prinzipiell wird positives Recht als politisches Produkt von der Politik notwendig überschritten. Als gesetztes Recht ist es änderbar und änderungsbedürftig, und Politik hat die Aufgabe, es auf wechselnde Lagen und Anforderungen einzustellen. Dazu sind Gestaltungsspielräume nötig, die eine V. eröffnen muss. Demgegenüber würde eine lückenlos gedachte V. die Politik auf V.s-Vollzug festlegen und damit letztlich in Verwaltung auflösen. Aus diesem Grund kann die V. von vornherein nur eine Rahmenordnung bilden, die politische Entscheidungen ermöglichen, nicht erübrigen soll. V.en, die die Verrechtlichung der Politik zu weit treiben, legen selbst den Grund ihrer Umgehung oder Missachtung. V.s-Perfektionismus schlägt in V.s-Irrelevanz um.

5. Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit

Ist einmal anerkannt, dass die V. nicht mehr als eine Rahmenordnung des politischen Prozesses bilden kann, entschärft sich auch das Problem von V.s-Recht und V.s-Wirklichkeit. Zum Ärgernis kann die Existenz einer V.s-Wirklichkeit nur vor dem Hintergrund eines V.s-Verständnisses werden, dass von der V. eine restlose Verrechtlichung der Politik erwartet. Betrachtet man die V. dagegen nur als Rahmen und Richtmaß für die Politik, dann ist sie auf politische Ausfüllung nachgerade angewiesen. Eine solche rahmenausfüllende V.s-Wirklichkeit zehrt weder an der normativen Kraft der V. noch liefert sie ein Indiz ihrer Geltungsschwäche. Von der verfassungsausfüllenden V.s-Wirklichkeit ist freilich die verfassungsaushöhlende und erst recht die verfassungsdurchbrechende V.s-Wirklichkeit zu unterscheiden. Von verfassungsaushöhlender V.s-Wirklichkeit kann man sprechen, wenn sich politische Einrichtungen oder Praktiken entwickeln, die von der V. weder zugelassen noch verboten sind, aber die Verwirklichung verfassungsrechtlich gesetzter Ziele oder das Funktionieren von verfassungsrechtlich vorgesehenen Institutionen und Prozeduren beeinträchtigen. Soweit sich solche Einrichtungen oder Praktiken als absichtliche V.s-Umgehung darstellen, muss die V. sich ihnen gegenüber behaupten. Da sie in der Mehrzahl der Fälle jedoch eine Folge veränderter Politikbedingungen sind und daher nicht ohne weiteres rückgängig gemacht werden können, lässt sich die normative Kraft der V. nur erhalten, wenn sie ihren regelnden Zugriff auf solche Neuerungen erstreckt. Im Unterschied zur verfassungsaushöhlenden V.s-Wirklichkeit, die das geltende V.s-Recht nur mittelbar beeinträchtigt, setzt die verfassungsdurchbrechende V.s-Wirklichkeit Vorschriften der V. direkt außer Anwendung. Davon kann allerdings nicht schon bei jedem einzelnen V.s-Verstoß die Rede sein. Zur V.s-Wirklichkeit verdichtet sich ein solcher Verstoß nur, wenn er zur Regel, die V.s-Befolgung dagegen zur Ausnahme wird. Hier kann je nach Bedeutung der Vorschrift und Ursachen des Verstoßes Behauptung oder Änderung der Norm gefordert sein. Die normative Kraft der V. leidet aber, wenn der verfassungswidrigen V.s-Wirklichkeit unter dem Mantel der „Staatspraxis“ selbst V.s-Rang zugeschrieben wird.

Die Existenz scheinwirksamer, dysfunktional wirkender oder wirkungsloser V.s-Normen verweist freilich auf ein tieferliegendes Problem, das für die Möglichkeit rechtlicher Steuerung von Politik kardinale Bedeutung besitzt: das Verhältnis von normativer und empirischer V. Mit der Verengung des V.s-Begriffs auf das V.s-Gesetz hat ja die reale V. nicht aufgehört zu bestehen. Sie bleibt vielmehr in denjenigen sozialen Gegebenheiten präsent, die sich in politische Macht ummünzen lassen. Dazu gehören bspw. ökonomisch begründete Vetopositionen, Druckpotenziale von Massenorganisationen, Definitionsmonopole über die öffentliche Meinung, Verfügung über Waffen. Die normative V. findet eine solche empirische V. stets vor und muss sich in ihr behaupten. Dabei ist das Verhältnis der beiden kein einbahniges von rechtlicher Forderung und tatsächlicher Anpassung, sondern ein wechselbezügliches. Die Regelungsgegenstände des V.s-Rechts sind ebenso eigendynamisch wie widerständig und wirken ihrerseits auf das Verständnis und die Anwendung der V.s-Normen zurück. Umgekehrt wird deren Wirkungskraft dadurch bestimmt, dass sie auf der symbolischen Ebene des Rechts operieren. V.en können daher die Wirklichkeit nicht unmittelbar verändern, sondern nur mittelbar beeinflussen. Der Einfluss besteht in der Möglichkeit, die bestehenden Machtverhältnisse zu legalisieren oder zu illegalisieren und auf diese Weise zu stärken oder zu schwächen. Legalität (Legalität, Legitimität) ist selbst ein Machtfaktor, und je tiefer sie sozial verwurzelt ist, desto mehr hängt die Akzeptanz politischer Entscheidungen von ihrer Übereinstimmung mit der V. ab. Die Wirkung der V. beruht deswegen v. a. darauf, dass sie die Gültigkeitsbedingungen kollektiv verbindlicher Entscheidungen festlegt und soziale Macht auf diese Weise zwingt, sich der verfassungsrechtlichen Formen und Verfahren zu bedienen und vor den verfassungsrechtlichen Zielen zu legitimieren, wenn sie Anspruch auf Befolgung erheben will. Darin liegt ein kanalisierender und rationalisierender Effekt, der die umstandslose Transformation von Macht in Recht ausschließt. Die Balance bleibt freilich heikel, und die Effektivität einer ohne Rücksicht auf die empirische V. entworfenen rechtlichen V. ist von vornherein gering zu veranschlagen.

6. Geltungsanspruch und Durchsetzungsvermögen

In der Geltung, die das V.s-Recht gegenüber den realen Machtverhältnissen beansprucht, oder der Effektivität, die es ihnen gegenüber erlangt, liegen, unbeschadet anderer Einteilungsmöglichkeiten, auch die auffälligsten Unterschiede zwischen den V.en. Oft werden V.en von vornherein nicht in Bindungsabsicht erlassen, sondern erschöpfen sich in einer vorteilhaften Außendarstellung des politischen Systems. Es gibt ferner V.en, die lediglich die bestehenden Machtstrukturen abbilden und rechtlich sanktionieren, so dass sich ihr normativer Gehalt auf eine Status quo-Garantie beschränkt. Andere V.en treten zwar in Regelungsabsicht auf und pflegen auch befolgt zu werden, erfassen aber nicht die eigentlichen Machtzentren des politischen Systems, etwa eine Einheitspartei, sondern begnügen sich mit peripheren Regelungen ohne erhebliche Rückwirkungen auf den Entscheidungsprozess. Schließlich kommen V.en vor, die effektive Politikbindung anstreben und damit im Regelfall auch Erfolg haben. Fließende Übergänge sind freilich denkbar, und selbst in ein und ders.n V. können sich Bestandteile verschiedener Typen mischen. Bestimmend für den V.s-Typ scheinen v. a. der Entwicklungsgrad einer Gesellschaft und das vorherrschende Legitimationsmuster zu wirken. Ein geringer Entwicklungsstand erlaubt der politischen Elite verhältnismäßig risikofreie Missachtung verfassungsrechtlicher Bindungen. Konkurrierende Eliten tendieren hier weniger zur Einhaltung von Konfliktaustragungsregeln als zu wechselseitiger Ausschaltung. Fortgeschrittene Gesellschaften bedürfen dagegen eines höheren Grades von Regelhaftigkeit und Verlässlichkeit der politischen Leistungen. Systeme, die eine Wahrheit absolut setzen, sind weniger zur Einhaltung verfassungsrechtlicher Bindungen bereit als Systeme, die die Wahrheitsfrage unentschieden lassen und den verschiedenen Richtungen erlauben, um die befristete Betrauung mit der Staatsgewalt zu konkurrieren. Wenn dort die V. vor dem alles überragenden Geschichtsziel (Geschichte, Geschichtphilosophie) überwiegend instrumentellen Charakter annimmt und ihm im Konfliktfall weichen muss, verleiht hier die Indifferenz des Systems gegenüber Wahrheiten den pluralitätsverbürgenden Regeln größeres Eigengewicht und höhere Befolgungschancen.

Zur Durchsetzung der V. findet die Verfassungsgerichtsbarkeit neuerdings immer weitere Verbreitung. In der Tat können V.s-Gerichte zur Verwirklichung der normativen Anforderungen und zur Erhaltung des verfassungsrechtlichen Konsenses einen wesentlichen Beitrag leisten. Ohne V.s-Gerichtsbarkeit ist die V. allein auf ihren sozialen Rückhalt verwiesen. Selbst wenn dieser hinreichen sollte, absichtliche V.s-Verstöße zu verhindern, kann er doch nicht divergierende Auffassungen über konkrete verfassungsrechtliche Anforderungen ausschließen. Konflikte im Rahmen der V. weiten sich dann schnell zu Konflikten über die V. selbst aus. Da die stärkeren Kräfte im Endeffekt ihre Auffassung zur Geltung bringen können, droht langfristig eine Aufzehrung des verfassungsrechtlichen Konsenses. Dagegen haben V.s-Gerichte die Möglichkeit, einen von Handlungszwängen und Machterhaltungsinteressen verhältnismäßig unabhängigen Blick auf die V. zu richten. Wirksamer noch als die konkrete Gerichtsentscheidung scheint dabei die generelle Vorfeldwirkung zu sein, die eintritt, weil die Existenz der gerichtlichen Kontrolle die politischen Instanzen zwingt, die V.s-Frage relativ früh und relativ unparteiisch zu stellen. Versagt diese Vorwirkung, so ermöglicht es der autoritative Gerichtsspruch, die V. dem politischen Streit zu entziehen und ihrer Funktion als Konsensbasis der Konkurrenten wieder zuzuführen. Die Bereitschaft, Machtfragen durch Gerichte schlichten zu lassen, hat freilich soziale und kulturelle Voraussetzungen, die keineswegs überall, wo eine V. besteht, gegeben sind. Fehlen sie, werden V.s-Gerichte mit den Machthabern kurzgeschlossen oder zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Beide Male ist der Schaden für die V. größer als beim völligen Verzicht auf V.s-Gerichtsbarkeit. Dagegen liegt das Risiko einer effektiven V.s-Gerichtsbarkeit darin, dass die Gerichte bei dem geringen Präzisionsgrad v. a. der materiellen V.s-Normen im Gewande von V.s-Anwendung zu politischer Gestaltung übergehen und dadurch die demokratischen Verantwortungszusammenhänge und Funktionsbegrenzungen stören.

7. Verfassungswandel und Verfassungsidentität

V.s-Gerichte sind gerade wegen der hochgradigen Konkretisierungsbedürftigkeit des V.s-Rechts auch zum wichtigsten Faktor des V.s-Wandels geworden. V.s-Wandel ist eine Folge des Umstands, dass V.s-Normen von ihren Urhebern stets auf einen bestimmten Zustand der Wirklichkeit oder genauer: eine bestimmte Vorstellung vom Zustand der Wirklichkeit, bezogen werden, in der sie ihre Wirkung entfalten sollen. Infolgedessen konstituiert der in den Blick genommene Wirklichkeitssausschnitt den Sinn der Norm mit. Daher lässt er sich auch von den Realisierungsbedingungen der Norm nicht ablösen und unveränderlich halten. Fehleinschätzungen oder Veränderungen der Wirklichkeit schlagen vielmehr auf die V. durch und können sie in ihrer Wirkung verändern oder um ihre Wirkung bringen. Während symbolische oder ineffektive V.en gegen sozialen Wandel relativ unempfindlich sind, weil er keine normativen Erwartungen enttäuscht, setzt sozialer Wandel normative und effektive V.en starken Spannungen aus. Die Zielabweichungen, die dadurch möglich werden, verlangen nach Mechanismen, mit deren Hilfe V.s-Normen veränderten Bedingungen angepasst oder unter veränderten Bedingungen funktionstüchtig erhalten werden können. Dabei lassen sich Anpassungen, die den Text der V. ändern, von solchen unterscheiden, die bei gleichbleibendem Text die Bedeutung der Norm verändern. Im ersten Fall spricht man gewöhnlich von V.s-Änderung, im zweiten Fall von V.s-Wandel. V.en treffen i. d. R. Vorkehrungen für ihre Änderung, binden diese aber meist an breites Einverständnis. Das ist eine Konsequenz der Konsensfunktion der V., die als Grundlage für die Austragung politischer Gegensätze dient und deswegen möglichst weiter Zustimmung der Konkurrenten bedarf. V.s-Wandel ist dagegen das Ergebnis von V.s-Interpretation, die freilich nicht allein in der Tätigkeit der V.s-Gerichte vor sich geht. Ebenso haben die Wissenschaft und die Staatspraxis Anteil an der interpretatorischen Fortentwicklung der V., wenngleich V.s-Gerichte durch die letztverbindliche Kraft ihrer Interpretation eine herausgehobene Stellung einnehmen (Richterrecht).

Nicht abschließend geklärt sind die Grenzverläufe. Wenn auch heute nicht mehr bezweifelt wird, dass sozialer Wandel interpretatorische Folgen hat, so herrscht doch Ungewissheit darüber, welche Intensitätsgrenze überschritten sein muss, damit Umdeutungen erforderlich sind, und v. a., wo der Bereich zulässiger V.s-Interpretation endet und Anpassungen nur noch im Wege förmlicher V.s-Änderung erfolgen können. Bei V.s-Änderungen wiederum stellt sich die Frage nach der Identität der V. bei veränderlichem Inhalt. Die Antwort setzt die Unterscheidung verschiedener Regelungsschichten einer V. voraus. Differenzierungen erscheinen möglich zwischen den Grundentscheidungen über Art und Ziel der politischen Herrschaft, ihren materiellen und formellen Konkretisierungen und Ausgestaltungen sowie bloß akzidentiell hinzutretenden oder situativ bedingten V.s-Bestandteilen. Formell genießen alle denselben Rang. Die Identität einer V. hängt aber offenbar von den Ersteren ab. Dazu zählen jedenfalls das Legitimationsprinzip (Legitimation) der Herrschaft und das Grundmuster seiner Realisierung, über die alle V.en Aussagen enthalten, ferner die fundamentalen Zwecksetzungen und Grenzen der Staatsgewalt, falls die V. dazu Bestimmungen trifft. Werden diese ausgetauscht oder durch dauernde Missachtung oder sozialen Wandel obsolet, liegt verfassungspolitisch eine Revolution vor. Gleichwohl nehmen die wenigsten V.en die identitätsprägenden Normen von der Änderbarkeit aus. Das GG hat diesen Versuch in Reaktion auf die innere Auflösung der WRV, die schon vor der Machtergreifung des Nationalsozialismus begonnen hatte, gemacht. Auch dadurch lässt sich freilich die Dynamik des politischen Prozesses, in den die V. hineingestellt ist, nicht aufhalten. Als Teil einer konkreten V. ist die Identitätsklausel vielmehr an deren Bestand gebunden. Solange sie weiter gelten soll, gilt die Unabänderlichkeit ihrer Grundbestimmungen. Wird sie beseitigt und durch eine neue ersetzt, verliert auch die Identitätsklausel ihre normative Kraft. Das mindert nicht ihre Bedeutung, die immerhin legale Revolutionen verhindert. Aber keine V. kann ihre eigene Existenz gewährleisten.

8. Veränderung und Krise

Der Wandel, dem V.s-Recht stets ausgesetzt ist, wird jedoch neuerdings durch eine Entwicklung überboten, die nicht einzelne V.s-Normen oder die Identität bestimmter V.en, sondern die Funktionsfähigkeit der V. überhaupt berührt. Es handelt sich um tiefgreifende Veränderungen des Regelungsgegenstands der V.: Staat und Staatstätigkeit, die ihrerseits wieder auf die wachsende Komplizierung und Differenzierung der gesellschaftlichen Verhältnisse zurückgehen. Den Anfang setzte das Scheitern der Hoffnung des Liberalismus auf die Selbststeuerungsfähigkeit der Gesellschaft. Statt der verheißenen sozialen Gerechtigkeit entstand die Soziale Frage und zwang den Staat, seine bloße Garantenstellung für die vorausgesetzte Ordnung aufzugeben und den gerechten Interessenausgleich, der sich marktvermittelt nicht einstellte, selbst wieder herbeizuführen. Seitdem lässt sich eine kontinuierliche Ausweitung der Staatsaufgaben beobachten, die inzwischen zu einer Gesamtverantwortung des Staates für die gesellschaftliche Entwicklung vorangeschritten ist. Dieser Verantwortungs- und Aufgabenzuwachs war allerdings nicht von einer entspr.en Ausweitung seiner Verfügungsbefugnis begleitet. In den westlichen V.s-Staaten genießen die verschiedenen gesellschaftlichen Funktionsbereiche vielmehr weiterhin eine grundrechtlich gesicherte Autonomie und folgen ihren eigenen Rationalitätskriterien. Daher kann sich der Staat bei der Erfüllung seiner Steuerungsaufgabe großenteils nicht der spezifisch staatlichen Mittel von Befehl und Zwang bedienen, sondern muss mit indirekt wirkenden Motivationsmitteln die Folgebereitschaft der gesellschaftlichen Akteure zu erringen suchen. Diesen wächst dadurch eine Vetomacht zu, die den Erfolg der Politik und längerfristig die Legitimität des politischen Systems gefährdet. Der Staat antwortet darauf mit intensiviertem Kontakt zu den mächtigen gesellschaftlichen Kräften, der sich zunehmend institutionell verfestigt und keineswegs nur in Konsultationen erschöpft. Der Staat begegnet den gesellschaftlichen Akteuren dann freilich auf gleicher Ebene und findet sich dort als semi-souveränes Gebilde wieder, während diese im selben Maß an der staatlichen Entscheidungsgewalt partizipieren und dem System neokorporatistische Züge verleihen.

Durch die Veränderungen drohen zwei wichtige Entstehungsvoraussetzungen der V. wieder zu schwinden. Zum einen lässt sich das Gerechtigkeitsproblem nicht mehr, wie seinerzeit angenommen, formal durch Staatsbegrenzung lösen, sondern materialisiert sich von neuem. Die Folge ist eine Gewichtsverlagerung von retrospektiv-ordnungsbewahrenden auf prospektiv-ordnungsgestaltende Staatstätigkeiten. Aus demselben Grund verwandeln sich die materiellen V.s-Normen, namentlich die Grundrechte, stärker in Zielvorgaben und Gerechtigkeitsentwürfe, ohne deswegen ihre staatsbegrenzende Funktion völlig einzubüßen. Sie bezahlen die Funktionsausweitung aber mit einem Verlust an Geltungskraft, denn einerseits müssen sie zur Erfüllung des Programms weit mehr Eingriffe dulden, und andererseits können sie die Ausführung des Programms von vornherein nur begrenzt determinieren. Von der Veränderung sind aber ebenso die organisatorischen und prozeduralen V.s-Normen betroffen, denn sowohl das Demokratieprinzip (Demokratie) als auch der Rechtsstaat und die Gewaltenteilung mitsamt ihren konkretisierenden Ausformungen hängen zu einem Gutteil an der Steuerungsfähigkeit des parlamentarischen Gesetzes. Da die moderne Staatstätigkeit inzwischen jedoch einen solchen Komplexitätsgrad erreicht hat, dass sie gedanklich nicht mehr vollständig vorwegnehmbar ist, lässt sie sich gesetzlich auch nur noch begrenzt steuern. Soweit die gesetzliche Steuerung ausfällt oder nur noch scheinbar besteht, laufen die verfassungsrechtlichen Kautelen leer. Zum zweiten verflüchtigt sich die für den regelnden Zugriff der V. notwendige Konzentration der öffentlichen Gewalt beim Staat. Zwar monopolisiert er nach wie vor die Befugnis zu kollektiv verbindlichen Entscheidungen. Materiell betrachtet, erweisen sich diese in einem System mit korporativen Neigungen (Korporatismus) aber vielfach als Gemeinschaftsprodukt öffentlicher und privater Akteure, die als solche noch unterscheidbar sein mögen, aber keine eindeutige Zurechnung des Ergebnisses mehr erlauben. Dieses Problem ist auch durch die Konstitutionalisierung sozialer Macht nicht prinzipiell zu lösen. Vielmehr fällt im selben Maß, wie der Staat seine Befugnisse mit privaten Akteuren teilt, auch die V., die öffentliche Entscheidungen umfassend zu binden beansprucht, auf eine Teilordnung zurück.

9. Verfassungspluralismus und überstaatliche Konstitutionalisierung

Zu diesen inneren Erosionserscheinungen gesellen sich mittlerweile auch äußere. Sie rühren daher, dass die Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg dazu übergegangen sind, supranationale Einrichtungen (Supranationalität) zu gründen, die sich von den traditionellen Allianzen und internationalen Organisationen dadurch unterscheiden, dass sie nicht nur das Handeln souveräner Staaten koordinieren, sondern selber über Souveränitätsrechte (Souveränität) verfügen, die sie von den Staaten erhalten haben und nun mehr oder weniger unabhängig von diesen, aber mit Wirkung ihnen gegenüber ausüben. Den nationalen V.en bleibt es zwar vorbehalten, die Übertragung dieser Rechte zu regeln. Einmal übertragen, lösen sie sich aber aus der Bindung an die nationale V. und werden von den supranationalen Organisationen ohne Rücksicht auf diese wahrgenommen. Materiell betrachtet, kommen die Übertragungsakte also V.s-Änderungen gleich. Die V. enthält fortan Vorschriften, die infolge der Kompetenzübertragung nicht mehr oder nicht mehr in vollem Umfang zutreffen. Manche V.en binden sie daher an die Voraussetzungen für V.s-Änderungen. Das ändert aber nichts daran, dass die Einheit von öffentlicher Gewalt und Staatsgewalt, die der modernen V. zugrunde lag, nicht mehr besteht. Es gibt fortan Akte öffentlicher Gewalt, die zwar auf dem Territorium der Staaten und damit im Geltungsbereich der nationalen V.en wirksam werden, aber nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ausübung öffentlicher Gewalt genügen müssen. Noch deutlicher, als das bei der inneren Erosion der V. der Fall ist, führen diese Veränderungen also dazu, dass die V. ihren Anspruch, die in ihrem Geltungsbereich ausgeübte öffentliche Gewalt durchgängig und umfassend zu regeln, nicht mehr erfüllen kann. Ebenso wenig kann sie ihren unbedingten Vorrang behaupten und schließlich auch nicht mehr sichern, dass jeder Akt öffentlicher Gewalt in ihrem Geltungsbereich auf das Staatsvolk rückführbar ist. Sie wird daher auch in dieser Hinsicht zu einer Teilordnung. Der verfassungsrechtliche Zustand eines Staates erschließt sich nicht mehr aus seiner V. allein, sondern erst aus der Zusammenschau von nationaler V. und supranationalem Recht. Da die verschiedenen Teile aber nicht notwendig harmonieren, sondern vielfach miteinander konkurrieren, kommt es zu einem V.s-Pluralismus, der bislang noch nicht völlig bewältigt ist.

Seitdem dieser lange unbemerkt gebliebene Bedeutungsverlust der nationalen V.en offenkundig geworden ist, stellt sich die Frage nach Kompensationen. Die am häufigsten gegebene Antwort heißt Konstitutionalisierung. Die Statuten internationaler Organisationen werden als deren Konstitutionen gedeutet. Die Binnenhierarchisierung des Völkerrechts durch die Herausbildung eines ius cogens wird als Vorgang der Konstitutionalisierung beschrieben. Sogar die Selbstregulierungsprozesse mächtiger global agierender privater Akteure sind für manche Beobachter Ausdruck von Konstitutionalisierung. Dahinter steht die Erkenntnis, dass das Verrechtlichungsbedürfnis nicht auf den Staat beschränkt bleiben kann, wenn dieser sich die öffentliche Gewalt mit supranationalen Einrichtungen teilt. Das Verrechtlichungsbedürfnis bezieht sich auf die öffentliche Gewalt, gleich von wem sie ausgeübt wird. An Verrechtlichung fehlt es auf der internationalen Ebene freilich nicht. Alle supranationalen Einrichtungen, die öffentliche Gewalt ausüben, sind durch Rechtsakte geschaffen, und rechtliche Statute regeln die Ausübung der ihnen übertragenen Kompetenzen. Diesen Regeln fehlt es auch nicht an Vorrang vor den von den Organisationen selbst gesetzten Rechtsakten, während es um die Durchsetzung des Vorrangs meist noch schlecht bestellt ist. Vergleicht man diese Verrechtlichung mit der von Staats-V.en bewirkten, so kommen jedoch einige Unterschiede in den Blick. Die V. im modernen Sinn setzte einen konstitutionsfähigen Gegenstand in Form der die öffentliche Gewalt konzentrierenden Staaten voraus. Ein solcher konstitutionsfähiger Gegenstand fehlt auf der supranationalen Ebene. Die internationale öffentliche Gewalt ist fragmentiert, nicht konzentriert. Voneinander unabhängige Träger besitzen zur Erfüllung ihrer jeweiligen Aufgabe bestimmte Hoheitsrechte. Eine systematische und umfassende Regelung der international ausgeübten öffentlichen Gewalt nach Art der Staats-V. gibt es nicht. Überdies ist das konstitutionelle Postulat einer demokratisch legitimierten und kontrollierten öffentlichen Gewalt umso schwieriger zu verwirklichen, je weiter man sich von der staatlichen Ebene entfernt. Es bleibt also eine Differenz, die durch die Begriffsidentität nicht überbrückt wird.

10. Zukunftsaussichten

Fragt man im Lichte dieser Erkenntnisse nach der Zukunft der V., so ist vorab festzuhalten, dass ein Phänomen, welches unter bestimmten historischen Bedingungen entstanden ist, den Wegfall dieser Bedingungen nicht oder doch nur um den Preis der Sinnentleerung überdauern kann. Ob dieser Fall für die normative V. bereits bevorsteht, ist allerdings zweifelhaft. In einer Hinsicht nämlich hat sich die Sondersituation, aus der die ersten V.en entstanden, heute zur Regel entwickelt. Überwiegend wird kein vorfindliches, aus göttlichem oder eigenem Recht zur Herrschaft berufenes Subjekt mehr anerkannt. Die Vakuumsituation nach dem erfolgreichen Sturz einer konsensunabhängigen Herrschaft, die die Notwendigkeit der Konstituierung einst begründet hatte, ist dadurch latent auf Dauer gestellt. Die Befugnis zu politischer Herrschaft hängt heute nach weithin geteilter Überzeugung von Beauftragung und Konsens ab und wird treuhänderisch wahrgenommen. Unter diesen Umständen bedarf es auch weiterhin rechtlicher Regeln, die bestimmen, wie öffentliche Gewalt zu Stande kommen und ausgeübt werden soll. In der Ableitungs- und Organisationsbedürftigkeit von Herrschaft besitzt die V. nach wie vor ihre sicherste Stütze. Auch ihre Durchsetzungskraft ist mit der Verbreitung der V.s-Gerichtsbarkeit gewachsen. Im Übrigen wird die V. die Veränderung ihres urspr.en Regelungsgegenstandes, des souveränen Staates, aber nicht unverändert überstehen können. Zwar bleiben Staaten auch unter Globalisierungsbedingungen (Globalisierung) bis auf weiteres die wichtigsten politischen Akteure. Das garantiert auch der Staats-V. ihre Fortexistenz. Da der Staat sich die öffentliche Gewalt jedoch mit supranationalen Organisationen teilt, kann die V. die öffentliche Gewalt nur noch insoweit legitimieren und regulieren, als sie Staatsgewalt ist, und selbst das nicht mehr völlig autonom. Umgekehrt ist die auf die internationale Ebene abgewanderte öffentliche Gewalt noch lange nicht so beschaffen, dass sie einer Legitimierung und Regulierung nach Art der Staats-V. zugänglich wäre. Wenn die Verrechtlichung der supranationalen öffentlichen Gewalt trotzdem als Konstitutionalisierung beschrieben wird, muss man sich darüber im Klaren sein, dass es sich um einen stark reduzierten V.s-Begriff handelt, der einstweilen den Platz für neue, der supranationalen öffentlichen Gewalt gemäßere Formen hält.