Gesellschaft: Unterschied zwischen den Versionen
Alshaw (Diskussion | Beiträge) K |
Alshaw (Diskussion | Beiträge) K |
||
Zeile 214: | Zeile 214: | ||
</p> | </p> | ||
<p> | <p> | ||
− | Schließlich gibt es in den letzten Jahren auch ein religionsphilosophisch relevantes G.s-Konzept, das von René Noël Théophile Girard entwickelt worden ist und auf wesentliche Einsichten der von ihm entwickelten mimetischen Konfliktanthropologie zurückgreift. Für ihn gilt, dass der ursprüngliche G.s-Zusammenschluss mit einem Akt der Gewalt, dem sogenannten Gründungsmord, originär verknüpft ist. Dieser wird durch einen Sündenbockmechanismus reguliert, der den naturzuständlichen Krieg eines jeden gegen jeden in einen Kampf aller gegen einen verwandelt. Ausgrenzung wird somit zu einem bestimmenden Motor im Hervorbringen der gesellschaftlichen Ordnung. Die durch mimetische Rivalitätskonflikte erzeugten Spannungen werden abgebaut, indem ein Opfer gefunden wird, das für Anarchie, Chaos und Zerstörung verantwortlich gemacht werden kann. G., Gewalt und Exklusion hängen demnach für R. Girard unweigerlich zusammen. | + | Schließlich gibt es in den letzten Jahren auch ein [[Religionsphilosophie|religionsphilosophisch]] relevantes G.s-Konzept, das von René Noël Théophile Girard entwickelt worden ist und auf wesentliche Einsichten der von ihm entwickelten mimetischen Konfliktanthropologie zurückgreift. Für ihn gilt, dass der ursprüngliche G.s-Zusammenschluss mit einem Akt der Gewalt, dem sogenannten Gründungsmord, originär verknüpft ist. Dieser wird durch einen Sündenbockmechanismus reguliert, der den naturzuständlichen Krieg eines jeden gegen jeden in einen Kampf aller gegen einen verwandelt. Ausgrenzung wird somit zu einem bestimmenden Motor im Hervorbringen der gesellschaftlichen Ordnung. Die durch mimetische Rivalitätskonflikte erzeugten Spannungen werden abgebaut, indem ein Opfer gefunden wird, das für Anarchie, Chaos und Zerstörung verantwortlich gemacht werden kann. G., Gewalt und Exklusion hängen demnach für R. Girard unweigerlich zusammen. |
</p> | </p> | ||
</div> | </div> |
Aktuelle Version vom 23. Oktober 2023, 23:23 Uhr
I. Soziologisch
Abschnitt druckenG. ist ein Schlüsselbegriff im Selbstverständnis der Gegenwart. In ihm vereinen sich Reflexionen auf die spezifische Lebenswirklichkeit des Menschen mit den normativen Vorstellungen von der gewünschten Ordnung. Aus der Entwicklung der G. lässt sich Legitimität für politische Entscheidungen schöpfen, die vollendete Welt-G. der Gleichen, Freien und Solidarischen liefert einen Horizont für Utopien.
Drei G.s-Begriffe dominieren den gegenwärtigen Wortgebrauch:
a) Im politischen und forschungspragmatischen Sinne bezeichnet G. eine territoriale Großgruppe, meist identisch mit einer Staatsnation (deutsche, japanische G.).
b) Im historischen Sinn benennt G. Typen von Großgruppen, die von Territorien gelöst durch strukturelle Merkmale unterschieden werden (Stammes-G., moderne G.).
c) Im theoretischen Sinn bezeichnet G. „das jeweils umfassendste System menschlichen Zusammenlebens. Über weitere einschränkende Merkmale besteht kein Einverständnis“ (Luhmann 1994: 233 f.).
Der moderne G.s-Begriff ist durch Wissenschaft geprägt. Seine Entwicklung lässt sich nur verstehen, wenn sie in Beziehung zu den sozialen und kulturellen Phänomenen gesetzt wird, auf die der Begriff reflektiert. Begriffs- und Sozialgeschichte gehören hier zusammen. Indem die wissenschaftliche Deutung der Phänomene den überlieferten Wortgebrauch aufgriff, mit neuen Vorstellungen anreicherte und theoretisch formte, prägte sie auch das Handeln. Wissenschaft erweist sich einmal mehr als Gestaltungsmacht, die das soziale Leben gleichermaßen analysiert wie prägt. Deshalb müssen die soziologischen Theorien von G. auf die Begriffs- und Phänomengeschichte bezogen werden.
1. Begriffs- und Phänomengeschichte
In den modernen G.s-Begriff sind Reflexionen aus verschiedenen Sprachen eingegangen (societas, society, société). Sprachübergreifend lassen sich in der europäischen Denktradition drei Bedeutungsfelder von G. unterscheiden:
a) der partikulare G.s-Begriff benennt eine Interaktionsgruppe, die sich zu einem Zweck zusammengefunden hat (Haus-, Reise-, Heer-, Tisch-G.);
b) der politisch-juristische G.s-Begriff benennt den herkömmlichen Gegenstand staats- und naturrechtlicher Überlegungen. Hier ist G. stets an Komplementärbegriffe gebunden (societas civilis, bürgerliche G.);
c) der anthropologische G.s-Begriff benennt die menschliche Soziabilität. Er wird i. d. R. ohne Artikel verwendet und kennt keinen Plural („Die Menschen sind zur Gesellschaft geboren.“ [Adelung 1796: 623])
Die neuzeitliche Wortentwicklung ist durch eine Verschmelzung dieser drei Bedeutungsfelder geprägt, die im Übergang von ständischem Ordnungs- zu modernem Entwicklungsdenken aus der Reflexion auf neuartige Sozialformen entstand. In diesem Kontext ist G. ein Produkt des modernen Anstalts- und Territorialstaates, weshalb sich das Denken über G. als eigenständige Realität jenseits des Politischen am prägnantesten in Frankreich mit seinem früh ausgebildeten und starken Absolutismus entwickelte.
Die Überwindung der frühneuzeitlichen Konfessionskriege durch staatliche Herrschaft entwertete im homogenisierten Untertanenverband ständische Privilegien (Stand). Seinen politischen und militärischen Autonomieverlust kompensierte der französische Adel, indem er ab 1610 die Geselligkeitsformen der italienischen Renaissancehöfe außerhalb des Hofes in Salons imitierte. Ständischer Rang wurde durch kulturelle Leistung nach Verhaltensidealen (civilité, honnêteté, politesse) ersetzt. In den Salons als Formen reiner Geselligkeit wendete sich der Zweck einer partikularen G. auf sich selbst, die soziale Form jenseits anderer Zwecke trat in den Reflexionshorizont. 1664 beschrieb François de La Rochefoucauld in seiner Réflexion „De la société“ die Bedingungen, unter denen diese Form der „höheren G.“ auch bei gegensätzlichen Einstellungen gelingen kann: gesunder Menschenverstand, Humor, individuelle Unabhängigkeit sowie die Fähigkeit, sich zurückzunehmen und natürliche oder gesellschaftliche Vorteile nicht auszuspielen. In der französischen Moralistik entstand eine eigene Literaturgattung, die als sozialpsychologischer Reflexionsapparat für Geselligkeitsformen den Begriff von G. als einer Vereinigung von Gleichen, Freien und Zivilisierten prägte, auf den die Aufklärung zurückgriff.
Aus dem Netzwerk der freien Assoziationen (Salon, Freimaurerloge [ Freimaurer ], Club, Lese-G., Verein) entwickelte sich die bürgerliche Öffentlichkeit und mit ihr ein autonomes Gegenstück zum Staat. Die Trennung von Staat und G. (Staat und Gesellschaft) sprengt die bis auf Aristoteles zurückreichende Einheit von Herrschafts-, Rechts- und Sozialverband, wie sie die politische Philosophie bis Samuel von Pufendorf geprägt hatte. Mit Charles de Montesquieu („Esprit des Lois“, 1748) und der schottischen Moralphilosophie tritt das neue G.s-Verständnis wieder in die politische Philosophie ein, indem G. bei C. de Montesquieu als Produkt einer bestimmten Regierungsform, der Monarchie, betrachtet wird, in der schottischen Moralphilosophie als private Organisation der Bedürfnisbefriedigung, die dem Anstaltsstaat gegenübergestellt wird. Diese Unterscheidung prägt dann auch Georg Wilhelm Friedrich Hegels G.s-Begriff als System der Bedürfnisse, das vom Staat als Prinzip des Allgemeinen überwölbt wird.
Auf der Grundlage dieser Entwicklung wird der partikulare G.s-Begriff nun zum abstrakten Oberbegriff für alle sozialen Verbände. Paul-Henri Thiry d’Holbach („La morale universelle“, 1776) schreibt, dass man nicht nur die ganze Menschheit als eine einzige G. begreifen müsse, sondern jedes Volk eine partikulare G. bilde, ebenso jede Nation, jede Stadt, jede Familie und Ehe. Auf dieser Abstraktionsebene wird der anthropologische G.s-Begriff integriert, jedoch mit einer entscheidenden Wendung: die fundamentale Soziabilität des Menschen drückt sich nicht nur darin aus, dass er „in G.“ lebt, sondern dass er „in einer G.“ lebe. Die substantialisierte Vorstellung von der sozialen Form menschlichen Zusammenlebens konnte nun zum Ziel aufklärerischer Hoffnungen werden, die sich nicht mehr auf das Seelenheil des Einzelnen in einer gegebenen sozialen Ordnung, sondern auf die generelle Verbesserung „der G.“ richteten: Jeder Mensch, schreibt C. de Montesquieu, sei fähig, anderen Einzelnen Gutes zu tun; aber gottgleich sei es, zum Wohl einer ganzen G. beitragen zu können.
In der Sozialphilosophie der französischen Aufklärung rückt der neue G.s-Begriff ins Zentrum. Voltaire lenkt die Geschichtsschreibung von Politik und Religion auf Populationen und ihre Sitten um („Essai sur les M&olig;urs“, 1756), Jean-Baptiste le Rond d’Alembert beschreibt in der Einleitung zur „Encylopédie“ als Gegenstand der Geschichte die Entstehung verschiedener G.en als Ergebnis von Kommunikation und Gesetzen. Indem der neue G.s-Begriff sich von den qualifizierenden Attributen der societas civilis löst und im Vergleich zu den lange noch synonym gebrauchten Alternativen „Volk“, „Staat“, „Nation“, später dann „Zivilisation“ und „Kultur“ als reine Form der Sozialität ablöst, entsteht durch Abstraktionsgewinn im rationalistischen Denkstil der Aufklärung auch die Frage nach den Prinzipien jeder G. jenseits historischer Entwicklungen.
Drei Begründungsmuster bilden sich aus, die an die traditionellen Bedeutungsfelder des G.s-Begriffes anschließen:
a) Im Zentrum der moralistischen Reflexion auf die Salons stand die These, dass die Eigenliebe (amour-propre) den Menschen in G. führe. Zunächst religiös als Sündhaftigkeit des Menschen gedeutet, wandelt sich die Eigenliebe in der Lehre der Materialisten (Materialismus), die den Menschen wesentlich durch seine Bedürfnisse bestimmt sehen, in den ökonomischen Begriff des Interesses: Die legitime Befriedigung seiner Bedürfnisse binde den Menschen an die G., was letztlich allen zu Gute komme. Diese Linie führt über die Bestimmung von G. als Zweckverband bis zu den Theorien rationaler Wahl (Rational Choice Theory), die alles soziale Handeln über Interessen erklären.
b) In der staatsrechtlichen Debatte hatte Thomas Hobbes die absolutistische Staatsform entpersonalisiert, indem er als Grundlage des Staates nicht den Willen eines einzelnen Herrschers annahm, sondern einen Vertrag, durch den alle interessenbedingt ihre Fähigkeit abtreten, Gewalt auszuüben. Indem Jean-Jacques Rousseau den contrat social von der institutionellen Herrschaft löst und ihn zum sittlichen Einverständnis aller Bürger erklärt, wandelt sich dieser Verzicht zur zivilreligiösen Forderung an die Gesinnung der Bürger, an eine politisierte civilité. Bis hin zur modernen Diskussion um Zivilreligion und Zivil-G. wird seitdem die konstitutive Bedeutung von Normen für G. debattiert.
c) J.-J. Rousseaus These, die Ungleichheit zwischen den Menschen sei mit der G. entstanden, hielt Voltaire entgegen, dass die G. in der Natur des Menschen angelegt sei, mithin kein Mensch ohne G. denkbar wäre. Deshalb treibe der Instinkt den Menschen wie bestimmte Tierarten in G. Solche anthropologischen Überlegungen über die Prinzipien der G. führen bis in die moderne soziobiologische Diskussion (Soziobiologie) über die evolutionäre Rolle von Kooperation, Altruismus und Kommunikation.
2. Soziologischer Gesellschaftsbegriff
In der aufklärerischen Diskussion waren die Bedeutungsfelder des G.s-Begriffes zu einem einheitlichen Gegenstand verschmolzen, der als grundlegender Tatbestand aller menschlichen Existenz nicht mehr in Frage gestellt wurde: G. wurde zur „sozialen Tatsache“ (Durkheim 1984: 114). Durch die abstrahierende Ablösung von der Anschaulichkeit der Bedeutungsfelder des partikularistischen und juristisch-politischen Begriffs war der moderne G.s-Begriff strukturell ebenso unterbestimmt wie das Phänomen, auf das er reflektierte: als Assoziierung der Freien und Gleichen geht die konkrete Form weder aus einer vorgängigen Zusammengehörigkeit (verwandtschaftlich, ethnisch, ökonomisch, politisch), noch aus einem Zweck (Religion, Herrschaft, Recht, Bedürfnisse) hervor. G. wird als abstrakte Kategorie jenseits der erlebbaren Sozialformen zum Rätsel, zu dessen Auflösung eine eigene Wissenschaft notwendig wird: die Soziologie. Da die politischen Entscheidungsfragen über die Ordnung und Entwicklung der G. im Zeitalter des Nationalstaates sich auf der mittleren Begriffsebene im politischen Gemeinwesen stellten, wurde die Frage, was G. sei und wie sie sich erklären und begründen lasse, von zwei Seiten aus angegangen: generalistisch aus der Perspektive des essentialistisch erneuerten anthropologischen Begriffes und partikularistisch aus der Perspektive konkreter sozialer Phänomene, die additiv auf den G.s-Horizont verweisen. In der Soziologie unterscheidet man sie als makro- und mikrosoziologische Zugänge.
2.1 Makrosoziologische Gesellschaftstheorien
Die Bestimmungsversuche für G. wurden in Frankreich vom Ideal einer rationalen, positiven Wissenschaft geprägt, die ihren Charakter als Morallehre durch die Vorstellung behielt, die Kenntnis der Wirklichkeit garantiere das richtige Handeln. Verbunden ist damit der Glaube an den Fortschritt des menschlichen Geistes, der sich bei steigender Durchdringung der gesellschaftlichen Wirklichkeit auch in ihrer rationalen Gestaltung und Planbarkeit niederschlage. Mit der Unterscheidung zwischen Statik und Dynamik schlug Auguste Comte zwei Kategorien vor, nach denen sich die makrosoziologischen G.s-Theorien in Begriffspaaren ordnen lassen. Integration – Differenzierung: In der aufklärerischen Sozialphilosophie war die Frage nach dem Band der G. (lien de la société) aufgekommen. Pierre Bayle fragte, ob eine G. von Atheisten möglich sei. War der aufklärerische Horizont durch die Vorstellungen bestimmt, dass Gesetze und moralbegründende Religion G. zusammenhalte, so führt Émile Durkheim beide im Begriff des Kollektivbewusstseins zusammen. Gemeinsame religiöse Überzeugungen und Gefühle als Grundlage der Normen bilden ein umgrenztes System, das G. zusammenhalte, indem es Handlungen als kriminell definiere und dadurch diejenigen integriere, die sich im Rahmen des Kollektivbewusstseins halten. É. Durkheim unterscheidet entwicklungsgeschichtlich zwei Formen der Integration: In G.en mit mechanischer Solidarität sind die Individuen durch ihre Ähnlichkeit ohne vermittelnde Instanzen an die G. gebunden, die nur als Ganzes gleichartig reagieren kann, ähnlich den Molekülen anorganischer Körper. Höher entwickelte arbeitsteilige G.en sind dagegen durch organische Solidarität geprägt, die unterschiedliche Funktionen verbinde und deshalb das Band der G. verstärke, indem die Einzelnen voneinander abhängig werden. Insofern erhöht sich auch der Grad der Integration durch eine Arbeitsteilung, die zu größerer Unähnlichkeit der einzelnen Mitglieder durch soziale Differenzierung führt.
Integrationstheorien spielen heute v. a. im Bereich der Migrationssoziologie eine Rolle, immer noch verbunden mit der Frage, ob allein die Befolgung des geltenden Rechts und die Integration in den Arbeitsmarkt ausreichend sei, eine G. zusammenzuhalten, oder ob es dazu geteilter Glaubensvorstellungen bedürfe, einer Zivilreligion oder Leitkultur (Assimilationstheorien). Das Begriffspaar Integration/Desintegration wird in der neueren Theorie abgelöst durch die systemtheoretischen Begriffe Inklusion/Exklusion, die nicht mehr auf Teilhabe an einer sozialen Gruppe zielen, sondern am dominierenden Differenzierungsniveau, etwa an den Chancen zur Kommunikation in den Subsystemen Recht, Politik, Bildung.
Neben dem organologischen Integrationsprinzip lieferte die Biologie mit dem Entwicklungsgedanken in den Theorien gesellschaftlicher Differenzierung auch eine Grundlage für die Erklärung der Dynamik von G.en. Nach Herbert Spencer verläuft die Evolution von einer unzusammenhängenden Gleichartigkeit zur zusammenhängenden Ungleichartigkeit, von relativ homogenen G.en zu komplexen arbeitsteiligen G.s-Systemen. É. Durkheim betont die integrierende Funktion der zunehmenden Arbeitsteilung zivilisierter G.en, Georg Simmel beschreibt den Zusammenhang zwischen Arbeitsteilung, Kreuzung von sozialen Kreisen und Individualisierung. Die moderne Differenzierungstheorie unterscheidet drei unterschiedliche Formen, die zugleich Entwicklungsstufen bilden:
a) in der segmentären Differenzierung (Stammes-G.) reproduzieren G.en bei einer Teilung die sozialen Strukturen der Ursprungs-G. (Ethnogenese; Vereinsneubildungen, Familiengründung);
b) stratifikatorische Differenzierung (Hochkulturen) bildet innerhalb eines bestehenden Schichtsystems neue Schichten aus (Amtsadel; Großbürger; grundbesitzende Bauern);
c) funktionale Differenzierung (moderne G.) bezeichnet die Ausbildung gesellschaftlicher Subsysteme mit je eigenen Funktionen für die Gesamt-G. (Politik, Recht, Religion, Bildung). Nach Niklas Luhmann bestimmt der höchste Grad der in einer G. vorkommenden Differenzierung den Gesamtcharakter des Systems.
Struktur – Funktion: Um die Unterbestimmtheit der abstrakten Kategorie G. aufzulösen, entstand die Vorstellung, eine verborgene innere Ordnung finden zu können, deren statische Komponente sich im Begriff der Struktur niederschlägt, die dynamische im Begriff der Funktion.
Konstitutiv für viele soziologische Makrotheorien ist die Vorstellung, G. sei strukturell von Großgruppen durchzogen, die mit Hilfe von Indikatoren erkannt und benannt werden könnten. Karl Marx deutet die Geschichte als eine Abfolge von Konflikten zwischen der herrschenden Klasse, die über die Produktionsmittel verfügt (Bedürfnistheorie), und der beherrschten Klasse, die ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellt. Das Ziel der Geschichte sieht er in der Überwindung aller Klassengegensätze zu einer G. der Gleichen und Freien. Neuere marxistische Ansätze (Frankfurter Schule; Kritische Theorie) sprechen vom Prinzip der antagonistischen G. und verschieben die Utopie ins Vage. Als politisch abgeschwächte Alternative zum Klassenmodell hat sich der Begriff der sozialen Schicht durchgesetzt. Sozialstrukturanalyse untersucht anhand von wechselnden Indikatoren (Einkommen, Bildung, Status) das Schichtgefüge von G.en und ordnet die Individuen Ober-, Mittel- oder Unterschicht zu. Seitdem durch wachsenden Wohlstand die primären Bedürfnisse nach Nahrung, Kleidung und Unterkunft in den Hintergrund gerückt sind, hat sich der Begriff Milieu als horizontale Großgruppenordnung etabliert, der anhand von Indikatoren wie Lebensstil oder Werte gebildet wird. Neuere soziologische Ansätze arbeiten mit Pierre Bourdieus Begriff des sozialen Feldes, der es erlaubt, horizontale und vertikale Indikatoren zu kombinieren, indem Interessen, Praxisformen und Diskurse in die Analyse einbezogen werden.
Der von É. Durkheim aus der Biologie übernommene Begriff der Funktion ermöglicht es, Klassen von Kausalbeziehungen generalisiert und prognostisch anzuwenden. Nach É. Durkheim dient die Arbeitsteilung in erster Linie nicht dazu, verschiedene Güter herzustellen, sondern hat die Funktion, soziale Bindungen zu stärken und damit die Normalstruktur der G. aufrecht zu erhalten. Funktion als nicht-offensichtliche Form der Beziehungen zwischen den Elementen ist der dynamische Stabilisator von nicht-offensichtlichen Strukturen. In diesem Sinne ist Funktion ein Zentralbegriff der soziologischen Systemtheorien. Talcott Parsons generalisiert in seinem AGIL-Schema vier Funktionsvoraussetzungen für soziale Systeme:
a) Anpassung des Systems an Umweltbedingungen (adaption)
b) Definition und Erreichung kollektiv verbindlicher Ziele (goal-attainment)
c) Gegenseitigkeit der Interaktionen (integration) und
d) Strukturerhaltung und -erneuerung (latency).
N. Luhmann unterscheidet zwischen Leistung und Funktion eines gesellschaftlichen Systems: Während es die Leistung etwa des Wirtschaftssystems ist, Rohstoffe aus der natürlichen Umwelt in Güter zur Bedürfnisbefriedigung umzuformen, besteht die Funktion darin, durch Kommunikation über die Knappheit von Gütern auch künftig das Funktionieren des Subsystems intern zu sichern. Bei N. Luhmann ist der Begriff der Struktur der Funktion insofern untergeordnet, als Strukturen Bedingungen für die Einschränkung der Operationen zur Autopoesis des Systems darstellen, sie existieren nur im Vollzug. Die Theorie der funktional differenzierten G. löst bei N. Luhmann den Begriff der modernen G. ab.
Soziale Ungleichheit – sozialer Wandel: Im Gegensatz zur Ständeordnung oder zum Kastensystem ist im modernen G.s-Begriff die Gleichheit aller Mitglieder vorausgesetzt. Deshalb wird soziale Ungleichheit von einer selbstevidenten Erfahrung zu einem erklärungsbedürftigen Problem. Im Anschluss an die Bedürfnistheorie wird die ungleiche Verteilung begehrter und knapper Güter (Einkommen, Bildung, generell Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen) anhand von strukturellen Unterprivilegierungen nach sozialer Herkunft oder Geschlecht untersucht. Auf diesem Forschungsfeld erneuern sich die moralischen Implikationen des G.s-Begriffs, indem die egalitären Gerechtigkeitsnormen (Gerechtigkeit) zur Entdeckung immer neuer Gruppen führen, die über sozialpolitische Maßnahmen egalisiert werden müssen. Stand in den 60er Jahren das Konstrukt des „katholischen Arbeitermädchens vom Lande“ (Dahrendorf 1965: 48) im Fokus der deutschen Bildungsförderung, so ist es heute der männliche Jugendliche mit Migrationshintergrund. In den USA wird die Rolle von Rasse für soziale Ungleichheit diskutiert, in Großbritannien und Frankreich der koloniale Migrationshintergrund.
Ein differenziertes Konzept zur Messung sozialer Ungleichheit bietet P. Bourdieus Kapitaltheorie, die an der ungleichen Verteilung von Kapitalsorten (ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital) und Kapitalvolumen Muster sozialer Ungleichheit absteckt. In N. Luhmanns Begriffspaar Inklusion/Exklusion hat die Diskussion um soziale Ungleichheit Anschluss an die Integrationstheorien gefunden, indem die Möglichkeit zur Teilhabe am sozialen System, speziell an den Leistungen der Funktionssysteme, zum entscheidenden Kriterium sozialer Ungleichheit wird. In der gegenwärtigen politischen und pädagogischen Diskussion wird der Begriff Inklusion jedoch häufig um diese Dimension verkürzt und im Sinne von Integration verstanden.
Im Gegensatz zu den Sozialmodellen von Hochkulturen, die ihre innere Ordnung meist kosmologisch begründeten und deshalb als unveränderlich ansehen, ist der moderne G.s-Begriff auf Perfektibilität angelegt. Ging es in den Salons um die Steigerung von Manieren, Geist und Zivilität, in den Freimaurerlogen um die Verbesserung des individuellen Menschen und der Menschheit, in Lese-G.en um Bildung, so werden die generalisierten Vorstellungen der klassischen G.s-Theorien von Evolutions- und Entwicklungsmodellen geprägt, zunächst als Theorien der Zivilisierung, später der Modernisierung. Als bewusst wertneutraler Begriff, der sich um Entteleologisierung bemüht und für empirische Forschung offen ist, hat sich ab den 1920er Jahren der Begriff sozialer Wandel etabliert. Mit ihm werden alle quantitativen und qualitativen Veränderungen in der Sozialstruktur, in Bewusstseins- und Verhaltensformen erfasst. Theorien des sozialen Wandels identifizieren ein zentrales Antriebsmoment für gesellschaftliche Veränderungen. K. Marx sieht dieses Moment in den Produktivkräften, William Fielding Ogburn in technischen Entwicklungen, denen sozialkulturelle Elemente mit einer Zeitverzögerung folgen (cultural lag). Vilfredo Pareto betont den Tausch von Elitenpositionen (Elite), Ralf Dahrendorf die Überwindung gesellschaftlicher Konflikte.
Auf gesellschaftstheoretischer Ebene hat sich diese Forschung im Dauerproblem verfestigt, was die moderne G. charakterisiert und ob sie durch eine postmoderne G. (reflexive, multiple etc. Moderne) abgelöst werde. Die soziologische Gegenwartsdiagnostik versucht, aus einzelnen Entwicklungstendenzen eine typologische Beschreibung zu entwickeln, die zugleich den Anspruch erhebt, die Spitze der gesellschaftlichen Entwicklung abzubilden. Aus den ökonomischen Globalisierungsprozessen (Globalisierung) folgert Martin Albrow die Welt-G., N. Luhmann aus den globalen Kommunikationsnetzen. Bei Daniel Bell führt der Dienstleistungssektor in die postindustrielle G., bei Ulrich Beck die wachsende Wahrnehmung von Gefährdungspotentialen zur Risiko-G. und bei Peter Gross der Zwang zur individuellen Entscheidung zur Multioptions-G. Gegenwartsdiagnosen verbinden sich teils mit sozialstrukturellen Modellen, etwa in der Identifikation von Milieus der Erlebnis-G., teils knüpfen sie an die moralistische Tradition der G.s-Theorie an, indem sie in konkrete Vorschläge zur politisch-sozialen Gestaltung münden, wenn aus der Verantwortungs-G. kommunitaristische Folgerungen (Kommunitarismus) gezogen werden. Die Vielfalt der soziologischen Gegenwartsdiagnostik zeigt den durch Jahrhunderte Forschung nicht verminderten Bedarf, die Unterbestimmtheit des G.s-Begriffes aufzulösen, eben eine Diagnose-G.
2.2 Mikrosoziologische Gesellschaftstheorien
Im Gegensatz zu den Theorien, die G. als vorgegebene Ganzheit betrachten, stehen Ansätze, die G. als Summe des Zusammenspiels von begrifflich abstrahierten Einzelphänomenen sehen. Gabriel Tarde identifiziert in der Vielzahl der beobachtbaren sozialen Beziehungen ein Grundmuster, das Gesetz der Nachahmung. G. ist eine Gruppe von Menschen, die durch Nachahmung (imitation) und Gegen-Nachahmung (contre-imitation) Ähnlichkeiten aufweise, indem sich Verhaltensformen an vorgängigen orientieren oder von ihnen abgrenzen. G. wird hier in einem radikalen Gegenentwurf zu den Vorstellungen von É. Durkheim als ein Phänomen verstanden, das nicht durch eine verdeckte Tiefenstruktur, sondern durch die Formen an seiner Oberfläche begreifbar wird. Fortgeführt wird ein solcher Ansatz in der soziobiologischen Analyse von Massen- und Schwarmverhalten, aber auch die Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour grenzt sich mit direktem Bezug auf G. Tarde von makrosoziologischen G.s-Theorien ab und integriert Dinge in die Kette der sozialen Beziehungen.
G. Simmel führt die Frage nach den transzendentalen Voraussetzungen von G. auf die in jedem Individuum bereits angelegte Sozialität. Sie setzt den Einzelnen in eine immer schon bestehende Beziehung zum sozialen Ganzen, die sich in unterschiedliche Formen der Vergesellschaftung realisiere. Das Gebiet der Soziologie als Wissenschaft von der G. besteht bei G. Simmel in der Suche nach reinen Formen der Wechselwirkung, wie sie sich in der Übereinstimmung, im Streit, im Geheimnis oder in der Kreuzung sozialer Kreise zeigen. Nach George Herbert Mead kann G. nicht bestehen, ohne dass in ihren Mitgliedern durch Sozialisation Geist (mind) und Identität (self) als Ergebnis sozialer Beziehungen bereits angelegt sind. Die menschliche Natur ist schon immer eine gesellschaftliche, auch die komplexesten G.en lassen sich als Ausdifferenzierung der sozio-physiologischen Interaktionen zwischen einzelnen Menschen verstehen.
Ferdinand Tönnies knüpft an den deutschen Sprachgebrauch an, der noch im 19. Jh. kaum zwischen G. und Gemeinschaft unterschied, weshalb auch die Entwicklung einer generellen Wissenschaft von der G. erst spät in den Fokus rückte. Während Gemeinschaft die traditionellen Siedlungsformen der Familie, der verwandtschaftlichen Bindung und lokalen Nachbarschaft bezeichnet, die durch weitgehend gemeinsame Güterproduktion und -konsumtion gekennzeichnet sind, fasst G. alle Sozialbindungen zusammen, die durch Tausch von Gütern entstehen und den Einzelnen nicht als Person, sondern nur in einer spezifischen Rolle (Soziale Rolle) integrieren. Erst in der G. entsteht ein Allgemeines, das die isolierten Einzelnen durch gemeinsamen Bezug auf eine abstrakte Einheit wieder verbindet. Insofern verfremdet G. den Menschen. Gemeinschaft ist hier nicht ein Teil von G., sondern ihr idealtypisches Gegenstück, und in politischen Deutungen positive Utopie, an die unterschiedliche Formen des sozialen Radikalismus ihre Ideale von Klasse oder Rasse binden. An F. Tönnies’ Unterscheidung knüpft Max Weber in seiner „Soziologie ohne Gesellschaft“ (Tyrell 1994) an. Konstitutives Element ist hier der Begriff der sozialen Handlung (Handeln, Handlung). Handlungen, die durch traditionale und affektuelle Bestimmungsgründe geprägt sind, führen zur Vergemeinschaftung, Handlungen mit zweck- und wertrationalen Bestimmungsgründen zur Vergesellschaftung. Im Begriff der sozialen Gruppe ist eine neutrale Alternative zu historisch-politisch vorgeprägten Begriffen wie G. und Gemeinschaft gegeben. Norbert Elias führt als weitere Alternative den Begriff der sozialen Figuration ein, der Beziehungsmuster zwischen Individuen identifizierbar macht.
3. Die Zukunft der Gesellschaft
Wenn die Sozialform und das Bestimmungsproblem G. als soziales Gegenstück zum modernen Territorialstaat entstanden ist, stellt sich die Frage, ob und inwiefern sie als Assoziierung der Gleichen, Freien und Solidarischen geschichtlich Bestand haben kann, sobald der moderne Staat nicht mehr im Zentrum der politischen Organisation steht. Wo der Staat scheitert, verschmelzen in parastaatlichen Ordnungen soziale Zugehörigkeit und Machtbeziehungen auf lokaler und trans-lokaler Ebene erneut. Autoritäre politische Ordnungen finden ökonomisch und technologisch Anschluss an die Moderne, regulieren aber die soziale Sphäre im direkten Zugriff wie vormoderne Herrschaft. Vielleicht war die Trennung unterschiedlicher Sphären, die den modernen G.s-Begriff begründete, nur ein westliches Modell, und andere verlangen nach anderen Begriffen. Diese Lage spiegelt sich in terminologischen Unschärfen: Wenn in der Welt-G. der Mensch nicht mehr personaler Bezugspunkt ist, sondern Adresse systemspezifischer Kommunikation, wird G. in einen Horizont wie „Welt“ oder „Natur“ verschoben, in dem es nur noch Theorien, aber keine Forschung mehr gibt. Wenn die Anzahl der konkurrierenden Gegenwartsdiagnosen unübersichtlich wird, verliert der Begriff seinen Erkenntniswert. Wenn der Akteur im Netzwerk der Dinge nivelliert oder das Humanum als Sonderfall der Primatenforschung gilt, ist der paradigmatische Kern abgelöst, der den Begriff über Jahrhunderte hinweg getragen hat: dass die G. aus Menschen gebildet wird.
Literatur
M. Prisching (Hg.): Modelle der Gegenwartsgesellschaft, 2003 • J. Ritsert: Gesellschaft. Ein unergründlicher Grundbegriff der Soziologie, 2000 • N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1999 • C. Albrecht: Zivilisation und Gesellschaft. Bürgerliche Kultur in Frankreich, 1995 • N. Luhmann: Gesellschaft, in: W. Fuchs-Heinritz u. a. (Hg.): Lexikon zur Soziologie, 41994, 235 • H. Tyrell: Max Webers Soziologie – eine Soziologie ohne „Gesellschaft“, in: G. Wagner/H. Zipprian (Hg.): Max Webers Wissenschaftslehre, 1994, 390–414 • É. Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung. Studien über die Organisation höherer Gesellschaften, 1988 • É. Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode, 1984 • F. H. Tenbruck: Émile Durkheim oder die Geburt der Gesellschaft aus dem Geist der Soziologie, in: ZfS 10/4 (1981), 333–350 • R. Dahrendorf: Bildung ist Bürgerrecht, 1965 • F. de La Rochefoucauld: Réflexions ou Sentences et Maximes morales suivi de Réflexions diverses et des Maximes de Madame de Sablé, 1976 • M. Riedel: Gesellschaft, bürgerliche, in: GGB, 1975, 719–800 • M. Riedel: Gesellschaft, Gemeinschaft, in: ebd., 801–862 • R. Dahrendorf: Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik, 1965 • H. Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, 1924 • G. Rümelin: Über den Begriff der Gesellschaft und einer Gesellschaftslehre, in: ders.: Reden und Aufsätze, 1889, 248–277 • J. C. Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch, 21796.
Empfohlene Zitierweise
C. Albrecht: Gesellschaft, I. Soziologisch, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Gesellschaft (abgerufen: 21.11.2024)
II. Philosophisch
Abschnitt druckenIn Bezug auf die G.s-Reflexion ist das Verhältnis von Philosophie und Soziologie von einer charakteristischen Ungleichzeitigkeit geprägt. Wissenschaftspragmatisch ist die Forschungsdisziplin der Soziologie in der letzten Jahrhundertwende fest verankert. Hier haben v. a. die in der zweiten Hälfte des 19. Jh. einsetzenden Beschleunigungsprozesse der ökonomisch-sozialen Ausdifferenzierung zu einer analytisch eigenständigen Bearbeitung des G.s-Themas geführt. Dagegen setzte die philosophische Reflexion auf die G. erheblich früher ein; bereits Thomas Hobbes hatte im 17. Jh. die Künstlichkeit gesellschaftlicher Zusammenschlüsse betont. Aus der Natur führte kein direkter Weg mehr in die soziale Wirklichkeit – vielmehr musste sie eigens konstruiert werden. Diese unterschiedlichen Reflexionshorizonte gilt es im Blick zu behalten, wenn man von einer Soziologie bzw. einer Philosophie der G. spricht: Während die soziologische Betrachtungsweise dem generischen Kontext von Gemeinschaft und G. weitgehend verpflichtet bleibt, nähert sich die Philosophie dem G.s-Komplex – idealtypisch gesprochen – aus der Perspektive des begrifflichen Gegensatzes von Natur und Freiheit an. Das wiederum besitzt unmittelbare Auswirkungen auf die Wissenschaftsmethodologie der beiden Disziplinen: Die Soziologie verhält sich zu ihrem G.s-Begriff wesentlich empirisch und anti-metaphysisch, die Philosophie indes normativ und generalisierend.
1. Zur Philosophie der Gesellschaft
Der G.s-Begriff geht etymologisch auf die Vorstellung eines gemeinsam geteilten Raumes zurück: „G. bedeutet wörtlich den Inbegriff räumlich vereint lebender oder vorübergehend auf einen Raum vereinter Personen“ (Geiger 1931: 202). Diese Raumvorstellung war bis zum Spätmittelalter vorherrschend – und sie identifizierte G. größenunabhängig mit der Familie, dem ‚Haus‘, der ständischen Ordnung (Stand), später sogar wieder mit der ‚gesitteten Menschheit‘ (Anthony Shaftesbury, Adam Smith, Charles de Montesquieu, Antoine de Condorcet). Diese ursprüngliche Identität von Gemeinschaft und G. musste allerdings in dem Moment zerbrechen, wo sich die philosophische Anthropologie wandelte und an die Stelle des politischen animal sociale (Aristoteles) den atomisierten homo faber (Max Frisch) setzte. Damit lag der menschliche Zusammenschluss nicht mehr in der metaphysischen Natur des Menschen beschlossen; vielmehr musste er organisiert werden. Mit der heuristischen Annahme der Kontingenz alles Sozialen löste sich die Reflexion der G. also zunehmend aus ihrem Gemeinschaftskontext und avancierte zu einer eigenständigen Realität, die die politische Identitätsfrage nicht mehr als gemeinsame Anstrengung zur Verwirklichung des Guten (Gute, das) verstand, sondern zunächst als eine auf das Eigeninteresse abgestimmte vertragliche Zweckvereinbarung versprengter Individuen. An die Stelle der politischen Natur des Menschen trat so der Begriff der Freiheit, der bis heute die Sicht der Philosophie auf die G. prägt. Anders als die Soziologie, welche sich mit der G.s-Thematik aus genealogischer und funktionaler Perspektive beschäftigt, geht es in der Philosophie deshalb vorrangig um Fragen der normativen Rechtfertigung. Fällt, aus welchen Gründen auch immer, eine Metaphysik der Natur weg, müssen die Legitimitätsszenarien andere sein; und v. a. ergeht an die Philosophie dann die Aufgabe, jene Widersprüche und Paradoxien zu analysieren, die dort entstehen, wo sich G. in ihrem Freiheitsbegriff verfehlen.
2. Theorien der Gesellschaft
In den klassischen Vertragstheorien des 17. und 18. Jh. nimmt die Reflexion auf die G. eine eigenständige Form an. Wenn Natur und Gott als Instanzen einer in der Metaphysik oder der Religion verankerten und von der G. allgemein anerkannten Teleologie des Sozialen und Guten in Frage gestellt werden oder sogar ausfallen, bleibt nur noch ein rechtsfreier Raum, ein sogenannter status naturalis von Freien und Gleichen übrig, die sich untereinander in einem Zustand völliger Deregulierung, d. h. in einem Krieg aller gegen alle befinden. Räume werden nicht mehr miteinander geteilt, sondern nur noch besetzt und gegen andere mit allen Mitteln verteidigt. Um aber den tödlichen Überraschungsraum des Naturzustandes, in dem jeder jeden vernichten kann, verlassen zu können, konzipiert T. Hobbes eine (fiktive) Vertragssituation, in dem die Individuen wechselseitig auf die Ausübung von Gewalt verzichten und sich darauf einigen, dieses Recht auf eine dritte unbeteiligte Person, den zu autorisierenden Souverän, zu übertragen (Begünstigtenvertrag). Versteht man G. als ein über Autorität und Recht regulierter sozialer Zusammenschluss, dann liefert T. Hobbes ein frühes Argument dazu: G. entsteht dort, wo jeder im wechselseitigen Einverständnis auf sein Recht auf alles verzichtet und sich an die von ihm gewählte Autorität vertraglich bindet. Die uneingeschränkte Machtfülle des Souveräns garantiert dabei im Gegenzug Schutz für Leben und Eigentum. Doch in der eigentümlichen Legierung aus Autorisierungs- und Unterwerfungskonstrukt überdauert der G.s-Zusammenschluss den Vertragsschluss nicht: Durch die Einsetzung einer höchsten Gewalt mit den konstituierenden Mitteln der Rechtsübertragung ist nämlich bei T. Hobbes „das Volk nicht“ mehr „länger eine Person, sondern eine aufgelöste Menge; denn nur vermöge der höchsten Gewalt war es eine Person, und diese Gewalt hat es dann von sich auf diesen einen Menschen übertragen“ (Hobbes 1994: 154).
Aus diesem Befund zieht John Locke seine weitergehenden Schlüsse für die normativen Ordnungsvoraussetzungen einer bürgerlichen G.: Anders als T. Hobbes findet er diese bereits im Ur-Zustand, der dem Individuum bereits umfassende natürliche Rechte auf Freiheit, Gleichheit und Eigentum zuspricht. Der Naturzustand ist bei J. Locke ein normativer Rechtszustand, der die Regeln menschlichen Zusammenlebens verbindlich festlegt. Politische Autorität kann daher nicht auf reine Unterwerfung setzen, sondern sie muss gegründet werden, um die natürliche Verfassungsordnung zu schützen. Die Institutionen bilden nach, was von Natur aus gilt. Doch auch bei J. Locke ist der Kriegszustand im Naturzustand stets präsent. Die umfänglichen Rechte auf Leben, Freiheit und Besitz können im Naturzustand nicht garantiert werden, weil es hier grundsätzlich an effektiver Rechtssicherung mangelt. Der Übergang in die G. und in ein demokratisch-prozedurales System politischer Herrschaft ist somit ein fundamentales Klugheitsgebot der strategisch vorgehenden Vernunft: „Politische Gewalt ist jene Gewalt, die jeder Mensch im Naturzustand hatte und die er in die Hände der Gesellschaft gegeben und innerhalb der Gesellschaft an die Regierenden, die die Gesellschaft über sich eingesetzt hat […]. Und diese Gewalt hat ihren Ursprung allein in Vertrag und Übereinkunft und in der gegenseitigen Zustimmung derjenigen, die die Gemeinschaft bilden.“ (Locke 1977: § 171).
Für das politisch-soziale G.s-Denken des 19. Jh. hingegen ist Georg Wilhelm Friedrich Hegels Rechtsphilosophie bestimmend gewesen. Er entwickelte eine Theorie der bürgerlichen G., die als Gestalt der Differenz im System der substanziellen Sittlichkeit zwischen den Ebenen der Familie und den staatlichen Institutionen angesiedelt ist. In dieser Perspektive des objektiven Geistes verkörpert die bürgerliche G. den apolitischen „Kampfplatz des individuellen Privatinteresses Aller gegen Alle“ (Hegel 1986: § 289). Der Naturzustand muss also – im Gegensatz zu den vertragstheoretischen Annahmen – nicht eigens überwunden werden, sondern die bürgerliche G. stellt vielmehr dessen Konkretisierung dar: „Die bürgerliche G. ist der zuvor nur gedachte Naturzustand“ (Hegel 1986: § 289). Deshalb kann sie in den Augen G. W. F. Hegels auch nicht verlassen, sondern nur durch die sittliche Idee des Staates „aufgehoben“ werden, der das Recht auf Besonderheit und individueller Bedürfnisbefriedigung mit der Metaphysik des Vernunftganzen vermittelt. Der seit Aristoteles vorfindliche Widerspruch zwischen den unterschiedlichen Anforderungen von Familie und Bürgersinn löst G. W. F. Hegel somit dialektisch auf, indem er auf der Ebene der bürgerlichen G. die Privatinteressen des „Bourgeois“ verortet, während er als Staatsbürger, als „Citoyen“, das allgemeine Vernunftwohl in seinen Handlungen zum Ausdruck bringt. Der Vertrag als rechtfertigungstheoretisches Einigungsinstrument hat bei G. W. F. Hegel dagegen endgültig ausgespielt; für ihn muss die privatwirtschaftliche Eigentumsnatur des Vertrages vom vernünftigen Allgemeinen abgegrenzt werden.
In den ökonomischen Theorien der G., vorzugsweise dem Marxismus, wurden wiederum die Widersprüche in den materiellen Lebensverhältnissen der bürgerlichen G. zum Gegenstand der Kritik. G. W. F. Hegels Bewusstseinsgestalten des objektiven Geistes kehrten in den Analysen von Karl Marx und Friedrich Engels als ökonomisch entfremdete Überbauphänomene wieder. Mit dieser Ökonomisierung der Sozialphilosophie G. W. F. Hegels bleibt der bürgerlichen G. die sittliche Aufhebung in den Staat verwehrt; vielmehr wird sie selbst zu einem Ort der Entfremdung, in dem die kapitalistische Organisation der Produktionsverhältnisse die materielle Ausbeutung des Proletariats bedingt: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ (MEW 4: 462) Die Widersprüche eines auf Tausch und privatwirtschaftlichen Warenverkehrs ausgerichteten Produktionsparadigmas lassen sich nach K. Marx und F. Engels somit nur durch die proletarische Revolutionierung (Revolution) bourgoiser Eigentumsverhältnisse beseitigen. An die Stelle der bürgerlichen G. tritt so die Vorstellung einer nicht-bürgerlichen, klassenlosen G.
Im 20. Jh. konzipierte Karl Raimund Popper ein in der Tradition des politischen Liberalismus stehendes „offenes“ G.s-Modell. Im Gegensatz zu ideologisch geschlossenen G.s-Formationen (deren philosophische Ursprünge K. R. Popper in den totalitären Machtdoktrinen (Totalitarismus) von Platon, G. W. F. Hegel und K. Marx vermutet) zeichnet sich dieses durch die systemische Freisetzung „der kritischen Fähigkeit des Menschen in Freiheit“ (Popper 1957: 1) aus. Die staatliche Gewalt wird hier begrenzt durch die politisch implementierten Systemmöglichkeiten des gewaltfreien Regierungswechsels.
Schließlich gibt es in den letzten Jahren auch ein religionsphilosophisch relevantes G.s-Konzept, das von René Noël Théophile Girard entwickelt worden ist und auf wesentliche Einsichten der von ihm entwickelten mimetischen Konfliktanthropologie zurückgreift. Für ihn gilt, dass der ursprüngliche G.s-Zusammenschluss mit einem Akt der Gewalt, dem sogenannten Gründungsmord, originär verknüpft ist. Dieser wird durch einen Sündenbockmechanismus reguliert, der den naturzuständlichen Krieg eines jeden gegen jeden in einen Kampf aller gegen einen verwandelt. Ausgrenzung wird somit zu einem bestimmenden Motor im Hervorbringen der gesellschaftlichen Ordnung. Die durch mimetische Rivalitätskonflikte erzeugten Spannungen werden abgebaut, indem ein Opfer gefunden wird, das für Anarchie, Chaos und Zerstörung verantwortlich gemacht werden kann. G., Gewalt und Exklusion hängen demnach für R. Girard unweigerlich zusammen.
3. Zur Kritik der Gesellschaft
Die normative Frage nach Rechtfertigung und Legitimität von G. überhaupt setzte den Sozialgedanken bereits frühzeitig der philosophischen Kritik aus. V. a. die Ungleichheit der modernen Zivilisation und die seriell produzierten Entfremdungseffekte der Massenindustrie weckten Zweifel an dem vertragstheoretischen Sozialisierungsnarrativ. Es war v. a. Jean-Jacques Rousseau, der diese Art des Bedenkens als eine der Ersten philosophisch systematisierte, indem er den ursprünglichen Sinn des kontraktualistischen Befriedungsargumentes radikal umwertete: Nicht mehr der G.s-Verlust der Natur, sondern der Naturverlust der G. stand ihm dabei kritisch vor Augen: „Man bewundere die menschliche Gesellschaft, soviel man will, es wird deshalb nicht weniger wahr sein, dass sie die Menschen notwendigerweise dazu bringt, sich in dem Maße zu hassen, in dem ihre Interessen sich kreuzen, außerdem sich wechselseitig scheinbare Dienste zu erweisen und in Wirklichkeit sich alle vorstellbaren Übel zuzufügen.“ (Rousseau 1998: 115 f.). Der Mensch war also von Natur aus gut und der Vergesellschaftungsprozess führte dazu, dass er sich von sich selbst entfremdete; insofern stellt erst die G. aufgrund der ungleichen Verteilung ihrer Eigentumsverhältnisse für J.-J. Rousseau die eigentliche Quelle sozialer Deprivation dar. Und der „Contract Social“ (1762) kann nur die Aufgabe besitzen, den kriegerischen Zustand der G. zu beenden. Diese Thesen J.-J. Rousseaus haben die politische Philosophie der letzten zwei Jh. stark beeinflusst; über G. W. F. Hegel und K. Marx vermittelt prägen sie bis heute noch z. B. die einflussreiche Rhetorik des Kommunitarismus: So lehnt etwa Alasdair MacIntyre die Idee der G. weiter strikt ab. Für ihn steht fest, dass sich Gerechtigkeit nicht in liberal-individualistischen Zweckverbünden, sondern nur in traditions- und wertebewussten Gemeinschaften auf substanzielle Weise verwirklichen lässt.
Eine gegenwärtig einflussreiche Form der G.s-Kritik geht auf Jürgen Habermas zurück. Er befürchtet, dass die desintegrativen Folgelasten der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung normativ nicht abgefangen werden können und die zweckrational organisierten Systemimperative daher dauerhaft in der Lage sein werden, den Lebenswelten des Alltags ihre Verdinglichungsmacht (Verdinglichung) aufzuzwingen: „Die Sprache des Marktes dringt heute in alle Poren ein und preßt alle zwischenmenschlichen Beziehungen in das Schema der selbstbezogenen Orientierung an je eigenen Präferenzen. Das soziale Band, das aus gegenseitiger Anerkennung geknüpft wird, geht aber in den Begriffen des Vertrages, der rationalen Wahl und der Nutzenmaximierung nicht auf.“ (Habermas 2001: 23).
Literatur
M. Kühnlein/M. Lutz-Bachmann (Hg.): Vermisste Tugend?. Zur Philosophie Alasdair MacIntyres, 2015 • M. Kühnlein (Hg.): Das Politische und das Vorpolitische. Über die Wertgrundlagen der Demokratie, 2014 • J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, 2010 • F. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, 2005 • J. Habermas: Glauben und Wissen, 2001 • J.-J. Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, 1998, • R. Girard: Mimetische Theorie und Theologie, in: W. Palaver u. a. (Hg.): Vom Fluch und Segen der Sündenböcke, 1995, 15–29 • A. MacIntyre: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, 1995 • T. Hobbes: Vom Bürger, in: Elemente der Philosophie II/III, 1994 • G. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundriss, in: Werke Bd. 7, 1986 • T. Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, 1984 • J. Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung, 1977 • K. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 1, 1957 • T. Geiger: Gesellschaft, in: A. Vierkandt (Hg.): Handwörterbuch der Soziologie, 1931.
Empfohlene Zitierweise
M. Kühnlein: Gesellschaft, II. Philosophisch, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Gesellschaft (abgerufen: 21.11.2024)