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Ostdeutsche sind empfänglicher für extremistische ([[Extremismus]]) und populistische Parteien ([[Populismus]]), die nicht nur bei Landtagswahlen, sondern auch bei der Bundestagswahl deutlich höhere Ergebnisse erzielen als im Westen ([[Wahlen]]). 2013 erreichten rechtsextreme Parteien im Osten einen Zweitstimmenanteil von knapp 3&nbsp;% gegenüber etwa 1&nbsp;% im Westen. Auch die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) überstieg dort damals schon die 5&nbsp;%-Grenze. Gestützt auf entsprechendes Protestpotenzial in der Gesellschaft, erwies sie sich bei mehreren Landtagswahlen als konkurrenzfähig zu den etablierten Parteien – mit Ausstrahlung nach Westen. Weiterhin ist das rechtsextreme Potenzial im Osten deutlich größer. Auch gibt es etwa doppelt so viele rechtsextreme Gewalttaten wie in den alten Ländern. Die Ausländerfeindlichkeit ist – trotz deutlich niedrigerem Ausländeranteil – erheblich verbreiteter. Zwar gibt es auch in den alten Ländern Proteste gegen die staatliche Flüchtlingspolitik, aber in den neuen sind die stärker mit rassistischen ([[Rassismus]]) und menschenverachtenden Parolen verbunden.
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Ostdeutsche sind empfänglicher für extremistische ([[Extremismus]]) und populistische Parteien ([[Populismus]]), die nicht nur bei Landtagswahlen, sondern auch bei der Bundestagswahl deutlich höhere Ergebnisse erzielen als im Westen ([[Wahlen]]). 2013 erreichten rechtsextreme Parteien im Osten einen Zweitstimmenanteil von knapp 3&nbsp;% gegenüber etwa 1&nbsp;% im Westen. Auch die rechtspopulistische [[Alternative für Deutschland (AfD)]] überstieg dort damals schon die 5&nbsp;%-Grenze. Gestützt auf entsprechendes Protestpotenzial in der Gesellschaft, erwies sie sich bei mehreren Landtagswahlen als konkurrenzfähig zu den etablierten Parteien – mit Ausstrahlung nach Westen. Weiterhin ist das rechtsextreme Potenzial im Osten deutlich größer. Auch gibt es etwa doppelt so viele rechtsextreme Gewalttaten wie in den alten Ländern. Die Ausländerfeindlichkeit ist – trotz deutlich niedrigerem Ausländeranteil – erheblich verbreiteter. Zwar gibt es auch in den alten Ländern Proteste gegen die staatliche Flüchtlingspolitik, aber in den neuen sind die stärker mit rassistischen ([[Rassismus]]) und menschenverachtenden Parolen verbunden.
 
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Aktuelle Version vom 24. Mai 2023, 11:15 Uhr

  1. I. Historischer Verlauf
  2. II. Folgen und Perspektiven

I. Historischer Verlauf

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Die deutsche Revolution von 1989/90 zeichnete sich durch zwei Besonderheiten aus. Erstens zerfielen die politische und die staatliche Ordnung der DDR in völlig unerwarteter Schnelligkeit. Zweitens radikalisierte sich die friedliche Revolution in der DDR nicht wie viele andere historische Revolutionen, sondern ging in die geregelten Bahnen des Beitritts zur BRD über, und der gesamte Transformationsprozess verlief friedlich.

1. Von der Flüchtlingskrise zur Staatskrise: Die friedliche Revolution in der DDR

Den Zerfall des politischen Systems und des gesamten Staates der DDR binnen eines Jahres hätte noch im Sommer 1989 niemand vorhergesagt. Als Erich Honecker 1987 in der Bundesrepublik empfangen wurde, schien die DDR eine neue Stufe ihrer internationalen Anerkennung erreicht zu haben. Zugleich mehrten sich die Krisenphänomene (Krise).

Die Reformpolitik Michail Sergejewitsch Gorbatschows in der Sowjetunion und seine Ideen von „Selbstbestimmung“, schließlich die Aufhebung der Breschnew-Doktrin (das Eingreifen der sozialistischen Staatengemeinschaft im Falle der Abwendung eines Staates vom Sozialismus) entzogen den kommunistischen Regimen des Warschauer Paktes die sowjetische Bestandsgarantie.

Als die DDR auf sich allein gestellt war, gewannen ihre internen Probleme eine neue Dimension. In den 80er Jahren führte eine zunehmend dysfunktionale und devisenbedürftige Planwirtschaft (Zentralverwaltungswirtschaft) in wachsende Versorgungskrisen und Verschuldung (Staatsverschuldung). Der Leiter der Zentralen Plankommission, Gerhard Schürer, stellte Ende Oktober 1989 fest, „allein ein Stoppen der Verschuldung würde im Jahr 1990 eine Senkung des Lebensstandards um 25–30 % erfordern und die DDR unregierbar machen.“ Stabile Versorgung der Bevölkerung war aber für die SED-Herrschaft, die niemals aus freien Wahlen Legitimation gewonnen hatte, von grundlegender Bedeutung. Stattdessen war sie durch die Existenz der Bundesrepublik mit deren Anspruch auf Wiedervereinigung und die allgegenwärtige mediale Präsenz des kapitalistischen Gegenbildes und seines Wohlstands bedroht. Im Gegensatz zu den übrigen Staaten des Warschauer Paktes hing in der DDR an der sozialistischen Ordnung die Frage der gesamten staatlichen Existenz.

Daher war die oppositionelle Bewegung, die 1988/89 von Polen und Ungarn ausging, für die DDR potentiell eine existenzielle Bedrohung. Die SED-Führung reagierte zunächst mit verstärkter Repression. Als Oppositionelle nach der Kommunalwahl vom 7.5.1989 öffentlich auf Wahlfälschungen hinwiesen, zeigte sich, dass sie sich nicht länger entmutigen ließen und sich die bislang marginalisierte und kontrollierte Oppositionsbewegung in der DDR neu und breiter formierte. Im September und Oktober 1989 folgte die formelle Gründung oppositioneller Gruppen, in denen in besonderem Maße Theologen und Pfarrer sowie Angehörige der künstlerischen und Intelligenzberufe vertreten waren (Bürgerrechtsbewegungen).

Die politische Führung, in der E. Honecker von Juli bis September 1989 krankheitsbedingt ausfiel, war nicht in der Lage, Dimension und Tragweite der Entwicklung zu erfassen. Sie erwies sich gegenüber einer friedlichen Opposition als hilflos, die nicht den hergebrachten Vorstellungen des „Klassenfeindes“ entsprach. Das Ministerium für Staatssicherheit trug zwar detaillierte Informationen zusammen. Statt aber die zu bekämpfende Bewegung zu zersetzen, wirkten seine inoffiziellen Mitarbeiter, um nicht aufzufallen, an den Entwicklungen mit, die sie gerade verhindern sollten. Somit trug die Staatssicherheit schließlich selbst zum Einsturz des Systems bei.

Der revolutionäre Prozess in der DDR 1989 verlief in drei Stationen: Der Flüchtlingskrise im Sommer folgte im Herbst eine Regimekrise, die mit dem Fall der Berliner Mauer am 9.11. in eine Staatskrise überging. Fluchtversuche aus der DDR über bundesdeutsche Botschaften in sozialistischen Ländern hatte es immer wieder gegeben; sie waren zwischen beiden deutschen Regierungen pragmatisch geregelt worden (Innerdeutsche Beziehungen). 1989 aber gewann dieses Phänomen eine neue Dimension, nachdem Ungarn am 2.5.1989 begonnen hatte, Grenzsperren nach Österreich abzubauen. Ostdeutsche, die traditionell in Ungarn Urlaub machten, hofften auf eine Möglichkeit zur Ausreise in die Bundesrepublik. Nach Absprache mit der Bundesregierung öffnete die ungarische Regierung am 11.9.1989 die Grenze nach Österreich. Bis Ende September siedelten 30 000 DDR-Bürger in die Bundesrepublik über. Als die DDR daraufhin keine Reisegenehmigungen nach Ungarn mehr bewilligte, füllten sich die bundesdeutschen Botschaften in Prag und Warschau mit ausreisewilligen Ostdeutschen, deren Wunsch die DDR am 30.9. stattgab, um die bevorstehenden 40-Jahr-Feiern der DDR nicht zu überschatten. Bedingung dafür war die Ausreise in Sonderzügen über das Territorium der DDR. Als an der Grenze Zurückgewiesene versuchten, auf diese Züge aufzuspringen, und es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen v. a. am Dresdner Hauptbahnhof am 4./5.10. kam, griff die Flüchtlingskrise auf das Territorium der DDR über.

Bereits im September 1989 hatten in Leipzig, zunächst im Zusammenhang mit der Flüchtlingsbewegung, erste öffentliche Protestkundgebungen stattgefunden, denen die staatlichen Kräfte mit Härte begegnet waren. Nachdem auch Demonstrationen anlässlich der 40-Jahr-Feiern der DDR gewaltsam unterdrückt worden waren, bedeutete die Demonstration in Leipzig am Abend des 9.10.1989, als 70 000 Menschen ungehindert über den Innenstadtring ziehen konnten, weil sich die Sicherheitskräfte angesichts der Masse friedlich demonstrierender Menschen zurückgezogen hatten, den Durchbruch der Bürgerbewegung. Für wenige entscheidende Wochen fanden die organisierte Oppositionsbewegung und eine schnell wachsende Massenbewegung auf den Straßen zu einer Koalition zugunsten von Volkssouveränität statt Parteidiktatur (Diktatur) zusammen. Am 17.10. wurde E. Honecker als Generalsekretär durch das Politbüro der SED gestürzt, doch fand die SED auch unter seinem Nachfolger Egon Krenz kein Mittel, um die Initiative gegenüber der einmal in Gang gekommenen Entwicklung zurückzugewinnen.

Stattdessen führte der Versuch, das Ausreiseproblem durch eine neue Verordnung in den Griff zu bekommen, befördert durch eine missverständliche Pressekonferenz und eine den Ereignissen vorauseilende westliche Medienberichterstattung, am 9.11.1989 zur in dieser Form unbeabsichtigten Öffnung der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenzen, mit der die SED endgültig die Kontrolle verlor. Die Partei zerfiel auf allen Ebenen; am 1.12. wurde die führende Rolle der Partei aus der Verfassung gestrichen, die Führungsgremien lösten sich auf, und E. Krenz trat nach nur sieben Wochen Amtszeit als Generalsekretär zurück; am 8./9.12. benannte sich die SED in SED-PDS um, deren Führung Gregor Gysi übernahm. In der DDR entstand ein Machtvakuum, während mit den offenen innerdeutschen Grenzen die deutsche Frage im Raum und die staatliche Existenz der DDR zur Disposition standen.

2. Die nationale Wende

Über die nationale Frage spaltete sich die Bürgerbewegung. Während große Teile der Oppositionsbewegung eine reformierte eigenständige DDR als Alternative zur marktwirtschaftlich verfassten Bundesrepublik erhalten wollten, wurde auf den Straßen der DDR bereits wenige Tage nach der Öffnung der Grenzen die Forderung nach einer deutsch-deutschen Vereinigung artikuliert („Deutschland einig Vaterland“). Diese Stimmen waren allerdings am Zentralen Runden Tisch der DDR nicht repräsentiert, der Anfang Dezember 1989 als Forum des Dialogs zwischen den alten Kräften und den Oppositionsgruppen eingerichtet wurde, um freie Wahlen vorzubereiten, das Ministerium für Staatssicherheit aufzulösen und den Entwurf einer neuen demokratischen Verfassung auszuarbeiten.

Stattdessen orientierte sich die Massenbewegung an der westdeutschen Bundesregierung unter der Führung von Bundeskanzler Helmut Kohl, der Ende November 1989 mit dem „Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Spaltung Deutschlands und Europas“ die politische Initiative für die Vereinigung ergriffen hatte. Obwohl die „Zehn Punkte“ sprachlich und inhaltlich nach allen Seiten abgesichert waren und sich an bekannten Rechtsstandpunkten orientierten, bedeuteten sie einen Markstein auf dem Weg zur deutschen Vereinigung, indem das Thema auf die Agenda der operativen Politik gesetzt wurde. Als H. Kohl am 19.12.1989 nach Dresden reiste, manifestierte sich im öffentlichen Zuspruch eine gleichsam informelle Koalition mit der Massenbewegung in der DDR, deren mehrheitlichen Willen zur Einheit H. Kohl in Politik umsetzte, und innerhalb derer die Bonner Regierung binnen weniger Wochen vom Agenten zur bestimmenden Kraft wurde.

Unterdessen verloren die politischen Kräfte in der DDR angesichts zunehmender Krisenphänomene immer weiter an Handlungsfähigkeit. Der am 13.11.1989 gebildeten Regierung Hans Modrows, auf der die letzten reformkommunistischen Hoffnungen ruhten, entglitt zunehmend die Kontrolle. Anfang 1990 verließen täglich rund 2 000 Ostdeutsche die DDR, die Wirtschaft zeigte Auflösungstendenzen, und am 15.1. endete eine Demonstration vor der Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit in Ost-Berlin im Chaos. Der dreifachen Herausforderung, einen freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat aufzubauen, die Lebensbedingungen in der DDR substanziell zu verbessern und die Massenabwanderung nach Westen zu stoppen, waren weder die Regierung Modrow, die sich im Februar 1990 zu einer Koalition aus 13 verschiedenen Parteien und Gruppen verbreiterte, noch die Kräfte des Runden Tisches gewachsen. Dort tat sich neben dem ersten Konflikt zwischen den alten und den oppositionellen Kräften eine zweite Konfliktlinie für und gegen eine zügige Vereinigung mit der Bundesrepublik auf.

Die Bonner Regierung ging vor diesem Hintergrund Anfang Februar 1990 zu einer „Politik der großen Schritte“ über. Am 6.2. schlug H. Kohl eine deutsch-deutsche „Währungsunion auf der Grundlage unmittelbar einzuleitender, tiefgreifender marktwirtschaftlicher Reformen in der DDR“ vor. Die Bundesregierung hatte sich mit diesem Schritt auf einen direkten, stufenlosen Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft (Wirtschaftsordnungen) nach westdeutschem Muster festgelegt und griff damit direkt auf die DDR zu, von der das Angebot den geld- und währungspolitischen Souveränitätsverlust (Souveränität) forderte. Das Bonner Einheitskonzept zielte auf eine Wiedervereinigung durch die vollständige Integration der DDR in das bundesdeutsche Modell, um dessen Leistungsfähigkeit für den Aufbau in einem vereinten Deutschland nutzbar zu machen.

Vor diesem Hintergrund lehnte H. Kohl auch Forderungen der Regierung Modrow nach einem Solidarbeitrag von 10 bis 15 Mrd. DM für die DDR ab und erklärte stattdessen, nur „mit einer aus freien Wahlen hervorgegangenen Regierung der DDR“ zu verhandeln. Diese Wahlen fanden am 18.3.1990 statt und bescherten der von der bundesdeutschen CDU unterstützten „Allianz für Deutschland“ aus der ostdeutschen CDU sowie den beiden Neugründungen Demokratischer Aufbruch und Deutsche Soziale Union einen unerwartet hohen Stimmenanteil von 48 %. Allein 40,8 % für die ehemalige Blockpartei der CDU der DDR stellten ein informelles Plebiszit für H. Kohl dar und manifestierten zugleich nach außen die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Ostdeutschen zugunsten einer zügigen Wiedervereinigung.

3. Die internationale Dimension

Auf internationaler Ebene zog H. Kohls „Zehn Punkte-Programm“ erhebliche Kritik als unabgesprochenes deutsches Vorpreschen auf sich. M. S. Gorbatschow empfand es als „Ultimatum“, François Mitterrand fürchtete eine Stagnation des Europäischen Integrationsprozesses, und Margaret Thatcher hielt ein vereintes Deutschland für nicht vereinbar mit dem europäischen Gleichgewicht; allein die US-amerikanische Regierung stellte sich unter der Bedingung einer fortdauernden Mitgliedschaft eines vereinten Deutschland in der NATO hinter die Bonner Politik. Als am 11.12. die Botschafter der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs im Alliierten Kontrollratsgebäude in Berlin zusammenkamen, deuteten sich Möglichkeiten einer internationalen Koalition gegen eine schnelle deutsche Vereinigung an, die sich jedoch nicht materialisierten, weil die Widerstände nicht koordiniert wurden. Stattdessen fand sich die Führung der Sowjetunion Ende Januar 1990 vor dem Hintergrund der Implosion der DDR mit einer deutschen Wiedervereinigung grundsätzlich ab. Am 13.2. wurde der „Zwei-plus-Vier-Prozess“ aus beiden deutschen Staaten und den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges USA, Sowjetunion, Frankreich und Großbritannien etabliert, um ein geordnetes Verfahren zur Herstellung der deutschen Einheit auf internationaler Ebene zu schaffen. Das Zwei-plus-Vier-Forum tagte auf Ministerebene viermal, die zentralen Fragen wurden allerdings auf bilateraler Ebene bzw. zwischen Washington, Bonn und Moskau geregelt.

3.1 Deutsche Wiedervereinigung und Europäische Währungsunion

F. Mitterrands Vorbehalte gegenüber der bundesdeutschen Vereinigungspolitik resultierten aus Befürchtungen, die Bundesregierung könne sich von der seit Mitte der 80er Jahre intensivierten europäischen Integrationspolitik abwenden, v. a. von der Europäischen Währungsunion (EWWU), die im Juni 1989 zwar im Grundsatz beschlossen worden war, deren operative Umsetzung aber vom Beschluss zur Einsetzung einer europäischen Regierungskonferenz abhing. Während F. Mitterrand auf einer Beschlussfassung auf dem Straßburger EG-Gipfel am 8./9.12.1989 bestand, wollte H. Kohl diesen Beschluss ein Jahr später fassen. Hinter dieser Terminierungsfrage stand ein konzeptioneller Grundsatzdissens: Französischerseits wurde die „Schöpfungstheorie“ favorisiert, die zuerst die Institution einer gemeinsamen Währung schaffen wollte, der dann die volkswirtschaftliche Konvergenz folgen werde; demgegenüber bevorzugte die deutsche Stabilitätspolitik die „Krönungstheorie“, die zuerst die volkswirtschaftliche Konvergenz der Teilnehmerstaaten sicherstellen und dann die gemeinsame Währung schaffen wollte, worin F. Mitterrand wiederum eine deutsche Verzögerungstaktik, gar Anzeichen einer deutschen Abwendung von der Währungsunion sah. Unter massivem französischem Druck willigte H. Kohl schließlich ein, auf dem Straßburger Gipfel die Einsetzung der Regierungskonferenz zu beschließen, der im Gegenzug das Recht der Deutschen auf eine Wiedervereinigung bekundete. Die Europäische Währungsunion an sich war mithin nicht die deutsche Konzession für die Wiedervereinigung, sondern die Zustimmung zur Einberufung der Regierungskonferenz und somit zu einem stärker schöpfungstheoretischen Verfahren, das die stabilitätspolitischen Sicherungen der Europäischen Währungsunion zurückstellte. Eine zweite deutsche Konzession lag darin, H. Kohls Pläne einer weitergehenden politischen Union hinter die Währungsunion zurückzustellen.

3.2 Die deutsch-polnische Grenze

Trotz der Straßburger Einigung hielten deutsch-französische Spannungen an, v. a. um die endgültige Anerkennung der von der Potsdamer Konferenz im Juli/August 1945 (Potsdamer Protokoll) festgelegten, aber nicht friedensvertraglich beschlossenen Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnischer Grenze. Völkerrechtlich (Völkerrecht) war die Abtrennung der ehemaligen deutschen Ostgebiete somit keineswegs definitiv besiegelt, historisch-politisch und in internationaler Perspektive hingegen unverhandelbar. H. Kohl wollte die in der Sache unumgängliche Anerkennung aus verfassungsrechtlichen Gründen, v. a. aber aus innenpolitischer Rücksicht auf die Vertriebenen in den Unionsparteien erst als freiwillige Entscheidung durch ein vereintes Deutschland vornehmen lassen, während die polnische Regierung auf einer völkerrechtlich verbindlichen Regelung noch vor der Vereinigung bestand. Während Kohl nicht bereit war, über allgemeine politische Zusicherungen hinauszugehen, wuchs der internationale Druck, nicht zuletzt seitens der französischen Regierung. Schließlich gaben der Deutsche Bundestag und die Volkskammer der DDR am 21./22.6.1990 in identischen Beschlüssen dem „Willen Ausdruck“, dass „der Verlauf der Grenze zwischen dem vereinten Deutschland und der Republik Polen durch einen völkerrechtlichen Vertrag endgültig […] bekräftigt“ und der bestehenden Grenze entsprechen werde. Indem aus den Reihen der Unionsparteien nur 15 Gegenstimmen abgegeben wurden, hatte H. Kohl sein Ziel erreicht, die Vertriebenen mit in die Einheit zu nehmen, während insb. auf polnischer Seite erhebliche Irritationen über das deutsche Zögern bei der Anerkennung der Grenze über die deutsche Wiedervereinigung hinaus weiterwirkten. Am 14.11.1990 wurde der deutsch-polnische Grenzvertrag unterzeichnet, der die Abtrennung der deutschen Ostgebiete und die „Westverschiebung Polens“ nach dem Zweiten Weltkrieg völkerrechtlich definitiv besiegelte.

3.3 Die Bündnisfrage

In der Sache kontrovers war hingegen die Frage der militärischen Bündniszugehörigkeit (Bündnispolitik) eines vereinten Deutschlands. Während sich die US-Regierung am 29.11.1989 auf die Mitgliedschaft in der NATO als Bedingung für die Unterstützung der Wiedervereinigung festgelegt hatte, lehnte die sowjetische Führung, als sie Ende Januar eine deutsche Wiedervereinigung grundsätzlich akzeptierte, eben dies kategorisch ab.

Der amerikanische Außenminister James Baker ventilierte vor diesem Hintergrund Ideen neuer „kooperativer Sicherheitsstrukturen in Europa“, und der bundesdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher entwickelte Pläne einer auf der KSZE (OSZE/KSZE) gegründeten europäischen Ordnung, in der NATO und Warschauer Pakt „schließlich aufgehen können“. Am 10.2.1990 trugen sie in Moskau Vorstellungen einer gesamtdeutschen NATO-Mitgliedschaft vor, ohne dass die NATO nach Osten ausgedehnt werde. H.-D. Genscher setzte hinzu, was die „Nichtausdehnung der NATO anbetreffe, so gelte dieses ganz generell“, womit er, wie er dem britischen Außenminister Douglas Hurd gegenüber geäußert hatte, ein Beitrittsgesuch Polens oder Ungarns meinte. Aus diesen Gesprächen im Februar 1990 ist später der Vorwurf abgeleitet worden, die NATO habe mit ihrer Osterweiterung Zusicherungen aus dem Prozess der deutschen Wiedervereinigung gebrochen. Allerdings ist festzuhalten, dass über diese Offerten weder eine mündliche noch eine vertragliche Einigung erzielt wurde, die sowjetische Seite vielmehr gar nicht darauf einging und auch im weiteren Vereinigungsprozess nicht darauf zurückkam. Vielmehr handelte es sich um westliche Positionen in einem fluiden Prozess, die sich bereits im Februar 1990 änderten, indem sich US-Präsident George Bush auf das Ziel uneingeschränkter Mitgliedschaft in einer stärker politisch orientierten NATO festlegte. Überraschend stimmte M. S. Gorbatschow beim amerikanisch-sowjetischen Gipfel am 31.5.1990 in Washington zu, dem vereinten Deutschland die Bündniswahl zu überlassen.

3.4 Deutsch-sowjetische Vereinbarungen

Der bundesdeutschen Politik kam zugute, dass sich die Versorgungslage in der Sowjetunion 1990 erheblich verschlechterte. Nachdem die sowjetische Führung bereits im Januar wegen Lebensmittellieferungen angefragt hatte, bat Außenminister Eduard Schewardnadse am 4.5.1990, offenbar „am Rande des Staatsbankrotts“ (Kwizinskij 1993: 24), um einen Finanzkredit der Bundesrepublik. H. Kohl ließ das Angebot eines kurzfristigen Kredits in Höhe von fünf Mrd. DM erarbeiten, das er mit der Erwartung verband, es werde „eine konstruktive Lösung der anstehenden Fragen ermöglichen“ (Kohl 1990:1136). Nachdem auf dem sowjetisch-deutschen Gipfel am 15./16.7. die wesentlichen bilateralen und internationalen Regelungen des Zwei-plus-Vier-Vertrags (freie Bündniswahl, sowjetischer Truppenabzug und deutsche Hilfen, Obergrenze der Bundeswehr) festgelegt wurden, aber nicht über materielle Leistungen gesprochen wurde, stellte M. S. Gorbatschow Anfang September 1990 substantielle Nachforderungen. Insgesamt beliefen sich die deutschen Garantien für Zahlungsbilanzkredite, Hilfen für den Aufenthalt, den Abzug und die Reintegration der sowjetischen Weststreitkräfte, Finanzierungskosten einschließlich der Zinskosten für den Transferrubelsaldo, der Finanzierungsaufwand für Beteiligungen der DDR an sowjetischen Investitionsprojekten, humanitäre und technische Hilfe nach Angaben des Bundesministeriums der Finanzen auf ca. 55 Mrd. DM, einschließlich der Exportkreditgarantien gemäß dem deutsch-sowjetischen Partnerschaftsvertrag vom 9.11.1990 auf 83,55 Mrd. DM.

3.5 Die Neuordnung Europas

Am 12.9.1990 wurde in Moskau der „Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“ (Zwei-plus-Vier-Vertrag) unterzeichnet. Formell kein Friedensvertrag mit Deutschland, übernahm er die Funktion dieses 1945 in Potsdam angekündigten und nie realisierten Dokuments in Europa, bezogen allerdings nur auf Deutschland und die vier alliierten Siegermächte. Eine multilaterale Konferenz aller Kriegsparteien war aufgrund der Handhabbarkeit und aufgrund unabsehbarer materieller Forderungen früherer Kriegsgegner vermieden worden, sodass verschiedene Ansprüche wie etwa Entschädigungen für Zwangsarbeiter oder griechische Reparationsansprüche späterer Behandlung außerhalb des Zwei-plus-Vier-Vertrags vorbehalten blieben.

Der Zwei-plus-Vier-Vertrag schrieb die Grenzen Deutschlands als die Außengrenzen von Bundesrepublik und DDR, den deutschen Verzicht auf ABC-Waffen) und die Obergrenze der deutschen Streitkräfte bei 370 000 Mann fest. Der verbindliche Abzug der sowjetischen Streitkräfte wurde auf Ende 1994 terminiert; bis dahin durften auf dem Gebiet der DDR nur nicht in Bündnisstrukturen integrierte deutsche Verbände stationiert werden, danach auch deutsche NATO-Truppen, nicht aber ausländische Truppen und Kernwaffen. Deutschland wurde das Recht der freien Bündniswahl und somit faktisch die NATO-Zugehörigkeit und die militärische Verankerung im Westen zugesichert. Endgültig erloschen mit der am 15.3.1991 abgeschlossenen Ratifikation die Vier-Mächte-Rechte über Deutschland; da die Vereinigung schon zuvor erfolgte, setzten die Siegermächte ihre dementsprechenden Rechte zum 3.10.1990 aus; das vereinte Deutschland war somit von Beginn an vollständig souverän (Souveränität).

Diese Regelungen bedeuteten eine deutsche Vereinigung zu westlichen Maximalkonditionen. Das „dritte europäische Nachkriegssystem“ (H.-P. Schwarz 2012: 857) ging nicht aus einer multilateralen Neukonstruktion auf der Basis der KSZE hervor, sondern gründete auf zwei westlichen Institutionen aus der Zeit des Ost-West-Konflikts, die mittelfristig nach Osten ausgedehnt wurden: der NATO, die sich strategisch von einer bipolaren Verteidigungsplanung abwandte und zu einer globalen Sicherheitsallianz im erweiterten Sinne wandelte, und der EG bzw. EU, die versuchte, die bereits begonnene Vertiefung im Westen mit der Erweiterung nach Osten zu verbinden. Das Ergebnis war die Stabilisierung Ostmittel- und Südosteuropas, soweit sie NATO und EU beitraten, und zugleich eine Entfremdung von Russland, die zu Beginn des 21. Jh. politisch virulent wurde.

4. Die innerdeutsche Ebene

Nach den Volkskammerwahlen vom 18.3. bildete die Allianz für Deutschland eine Koalitionsregierung mit dem Bund Freier Demokraten und der neu gegründeten SPD unter Führung des CDU-Vorsitzenden Lothar de Maizière. Ihr Wählerauftrag bestand in einer raschen Vereinigung mit der BRD, die sie als Sachwalter der Ostdeutschen gestalten wollte. Stark staatsinterventionistisch geprägte Vorstellungen stießen dabei auf die Vorstellung der Bundesregierung, die Ordnung der Bundesrepublik möglichst uneingeschränkt auf die DDR zu übertragen. Dementsprechend setzte die Bundesregierung nicht nur aus pragmatischen Erwägungen, sondern aus grundsätzlicher Überzeugung auf eine Wiedervereinigung über den Beitritts-Art. 23 GG statt auf dem Wege über eine neue gesamtdeutsche Verfassung nach Art. 146 GG.

Die bundesdeutsche Ordnung wurde mit Hilfe zweier Staatsverträge auf das Gebiet der DDR übertragen. Zugleich übernahm die Bundesrepublik die Gesamthaftung für die DDR.

4.1 Die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion

Der am 18.5.1990 unterzeichnete erste Staatsvertrag ging auf das Angebot der Bundesregierung vom 7.2. zurück, eine Währungsunion mit Wirtschaftsreformen herzustellen. Er schuf die institutionellen und organisatorischen Grundlagen für die Einführung der sozialen Marktwirtschaft in der DDR. Dabei war die ursprünglich vorgesehene Währungs- und Wirtschaftsunion um eine Sozialunion erweitert worden, die den tiefgreifenden Transformationsprozess sozialpolitisch abfedern sollte. Bevor Bundestag und Volkskammer am 21.6.1990 der Ratifizierung zustimmten, hatte das Ost-Berliner Parlament ein Verfassungsgrundsätzegesetz verabschiedet, mit dem die bestehende Verfassung der DDR in ihrem materiellen Bestand praktisch aufgehoben und zugleich die Übertragung der wirtschafts- und währungspolitischen Hoheitsrechte auf die Deutsche Bundesbank und den Bundesgesetzgeber ermöglicht wurde. Mit dem Inkrafttreten des ersten Staatsvertrags zum 1.7.1990 wurden Grenz- und Zollkontrollen innerhalb Deutschlands abgeschafft und die Grundlagen für die einheitliche Verwirklichung der Wirtschaftsordnung, des Arbeitsrechts und der sozialen Sicherung gelegt. Im Kern war dies bereits ein Verfassungsvertrag, dem ein zweiter Staatsvertrag als Verfassungsvertrag im engeren Sinne folgte.

Die Einführung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zum 1.7.1990 bedeutete den schlagartigen Übergang zu DM- und Marktwirtschaft statt eines Stufenmodells. Dabei hatte sich die Bundesregierung gegen den Willen der Bundesbank, aber auf Druck der ostdeutschen Bevölkerung und Politik auf einen Umstellungskurs für Stromgrößen wie Löhne und Gehälter von 1:1 und von 2 Mark der DDR zu 1 DM für Bestandsgrößen wie Bargeld, Sparguthaben und Verbindlichkeiten oberhalb bestimmter Freigrenzen festgelegt. Mit einem durchschnittlichen Gesamtumstellungskurs von 1,8:1 wurde die Mark der DDR um das Zwei- bis Dreifache ihres marktüblichen Tauschwerts aufgewertet.

Die Privatisierung der ostdeutschen Staatswirtschaft wurde in die Hände der am 17.6.1990 gesetzlich eingerichteten Treuhandanstalt gelegt, die zum 1.7.1990 zur Eigentümerin von 7 894 volkseigenen Betrieben mit vier Mio. Beschäftigten und einer Grundfläche wurde, die mehr als die Hälfte der DDR umfasste. Sie folgte der Devise „schnell privatisieren – entschlossen sanieren – behutsam stilllegen“, stand aber bald vor dem Problem, dass Verkäufe von Unternehmen nur bedingt möglich waren. Als die Treuhandanstalt am 31.12.1994 ihre Bücher schloss, hatte sie von den 12 162 Unternehmen, die vorwiegend aus den ehemaligen Kombinaten entstanden waren, 3 718 (30,6 %) stillgelegt, 6 546 (53,8 %) privatisiert, 1 588 (13,1 %) an Alteigentümer zurückgegeben und 310 (2,6 %) in kommunale Trägerschaft überführt. Dabei bilanzierte sie statt der erwarteten Privatisierungserlöse von 600 Mrd. DM ein Defizit von 230 Mrd. DM.

Hintergrund dieser Entwicklung war die Deindustrialisierung im Gefolge der Wirtschafts- und Währungsunion. Die Gründe lagen in den dysfunktionalen Strukturen der DDR-Planwirtschaft (Zentralverwaltungswirtschaft), die unter den Bedingungen der Marktwirtschaft in sich zusammenbrachen (Wirtschaftsordnungen), in ihrem versäumten und nun schlagartig nachzuholenden Strukturwandel von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft (Dienstleistungen), im verschlissenen Kapitalstock und der mangelnden Produktivität der Betriebe (Produktion) einschließlich personeller Überkapazitäten, den Folgen des Umstellungskurses für die Währungsunion, der die Wettbewerbsfähigkeit (Wettbewerb) der Unternehmen weiter verschlechterte, sowie im Fehlen von weltmarktfähigen Produkten samt zugehörigem Marktwissen und von indigenen Innovationspotentialen (Innovation) auf Märkten, die von westlichen Unternehmen problemlos mit bedient werden konnten.

4.2 Sonderprobleme

Die Wiedervereinigung und die Übertragung der westdeutschen Ordnung auf die DDR brachte eine Reihe von rechtlich schwer lösbaren Sonderproblemen mit sich. Dazu zählte der Umgang mit den staatssozialistischen Eingriffen in private Eigentumsrechte (Eigentum), für die angesichts der Überlagerung durch neue Nutzungs- und Eigentumsrechte keine allseits befriedigende Lösung möglich war. Für Enteignungen (Enteignung) aus der Zeit nach Gründung der DDR wurde der Grundsatz der „Rückgabe vor Entschädigung“ beschlossen, mit Ausnahme im Falle von gewerblichem oder Gemeingebrauch, der Verwendung in Wohnungs- oder Siedlungsbau oder des „redlichen“ Erwerbs durch Dritte. Kontroverser war der Umgang mit den entschädigungslosen Enteignungen allen Grundbesitzes über 100 Hektar durch die Bodenreform in der SBZ vor 1949. Auf Drängen der DDR-Regierung wurden diese Konfiskationen nicht rückgängig gemacht, stattdessen den Alteigentümern unter bestimmten Voraussetzungen bedingte finanzielle Ansprüche sowie ein Vorkaufsrecht für ihre ehemaligen Güter eingeräumt.

Ein weiteres Sonderproblem lag im Umgang mit den Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit. Entgegen von verschiedener Seite geäußerten Plänen, die Akten im Interesse des sozialen Friedens zu vernichten oder ihren Gebrauch zumindest höchst restriktiv zu handhaben, erzwangen die vormaligen DDR-Oppositionellen am 18.9.1990 ihre schließlich im StUG vom 20.12.1991 kodifizierte separate Verwahrung samt umfassender Einsichtsrechte für Betroffene unter der Leitung eines Sonderbeauftragten der Bundesregierung (BStU ).

4.3 Einigungsvertrag und Länderneugründungen

Die Entscheidung für den zweiten Staatsvertrag fiel insb. auf Drängen der ostdeutschen Seite, um als eigenständiger Verhandlungspartner agieren zu können; zugleich ermöglichte er gebündelte, konzise Lösungen statt langwieriger Übergangsregelungen. Auf über 1 000 maschinenschriftlichen Seiten legte der als Einigungsvertrag bezeichnete, am 31.8.1990 unterzeichnete zweite Staatsvertrag die politischen und rechtlichen Grundlagen für den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik gemäß Art. 23 GG fest. Schon in der Nacht vom 22. auf den 23.8. hatte die Volkskammer den Beschluss gefasst, der Bundesrepublik zum 3.10.1990 beizutreten. Nach Art. 1 des Einigungsvertrages wurde die DDR um Mitternacht jenes Tages in einer „juristischen Sekunde“ von ihren neu gebildeten Ländern abgelöst, die dem Geltungsbereich des GG beitraten.

Das von der Volkskammer am 22.6.1990 verabschiedete Ländereinführungsgesetz sah die Bildung von fünf Ländern von allesamt vergleichsweise geringer Größe bzw. Einwohnerzahl vor. Grundsätzlich setzte sich das nördlichste neue Bundesland Mecklenburg-Vorpommern aus den Bezirken Rostock, Schwerin und Neubrandenburg zusammen, das Bundesland Brandenburg aus den Bezirken Potsdam, Frankfurt (Oder) und Cottbus, die Bezirke Magdeburg und Halle gingen in Sachsen-Anhalt auf, aus den Bezirken Erfurt, Gera und Suhl wurde der Freistaat Thüringen und aus Leipzig, Dresden und Karl-Marx-Stadt (seit 1990 wieder Chemnitz) der Freistaat Sachsen gebildet. Mit den Landtagswahlen vom 14.10.1990 erhielten die Länder Parlamente, die zugleich als verfassunggebende Landesversammlungen fungierten. Zwischen 1992 und 1994 verabschiedeten sie Länderverfassungen, die sich eng an die der westdeutschen Länder anlehnten (Föderalismus).

Als die Wiedervereinigung am 3.10.1990 vor dem Berliner Reichstag symbolisch vollzogen wurde, wuchs die Bundesrepublik um 16,4 auf insgesamt 78,7 Mio. Einwohner, ihr Territorium um gut 108 000 auf nunmehr 357 000 Quadratkilometer. Zugleich war die deutsche Frage, die Europa über fast zwei Jahrhunderte beschäftigt hatte, in staatsrechtlicher Hinsicht beantwortet.

II. Folgen und Perspektiven

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1. Zusammenprall der Kulturen

Am 3.10.1990 trafen zwei deutsche Teilgesellschaften aufeinander, die nach 45-jähriger Trennung in vielerlei Hinsicht kaum verschiedener hätten sein können.

Nach der bedingungslosen Kapitulation des NS-Staates (Nationalsozialismus) hatten die Siegermächte ihre jeweilige Gesellschaftsordnung auf den von ihnen besetzten Teil Deutschlands übertragen. Die Implementierung unterschiedlicher politisch-administrativer Institutionen und Wirtschaftsordnungen führte vor dem Hintergrund demokratischer Verhältnisse (Demokratie) auf der einen und diktatorischer (Diktatur) auf der anderen Seite zu unterschiedlichen Sozialordnungen und Wertemustern in beiden Bevölkerungen, die sich im Laufe der Jahrzehnte deutlich auseinander entwickelten. Jenseits erhalten gebliebener mentaler Traditionsbestände (Mentalität), die gemeinhin als „typisch deutsch“ gelten, kristallisierten sich voneinander verschiedene Einstellungen heraus.

Beide deutsche Staaten blieben während der Teilung – positiv wie negativ – immer aufeinander bezogen, in allerdings unterschiedlicher Weise (Innerdeutsche Beziehungen). Die Ostdeutschen wollten mehrheitlich so leben wie ihre westdeutschen Landsleute, für die umgekehrt ein Abstieg auf ostdeutsches Niveau nie infrage gekommen wäre. Vor diesem Hintergrund war eine Vereinigung auf Augenhöhe, die eine Übernahme „sozialistischer Errungenschaften“ impliziert hätte und auf eine neue Wirtschafts- und Sozialordnung hinaus gelaufen wäre, nicht realistisch. Schon unmittelbar nach der Wiedervereinigung Deutschlands äußerte andererseits eine Mehrheit der Ostdeutschen, die im Laufe des Transformationsprozesses (Systemtransformation) noch zunahm, sie hätte lieber einen neuen Staat als den der BRD gehabt. Offenbar erwies sich im alltäglichen Leben vieles an den demokratischen Institutionen anders als erwartet. Der für sie neue Staat überschüttete die Menschen zwar mit Formalitäten, die dem bürokratischen Gang der Dinge Rechnung tragen sollten, hielt sich aber in anderen Bereichen zugunsten der privaten Wirtschaft zurück.

Bei vielen Ostdeutschen hat sich ausgeprägte Staatsgläubigkeit gehalten. Mehrheitlich wünschen sie sich eine Gesellschaft, in der v. a. der Staat das Sagen hat und die Wirtschaft weitgehend lenkt und kontrolliert. Die Ernüchterung über die Realität im vereinten Deutschland führte nicht nur bei „ewig Gestrigen“ zu einer Renaissance sozialistischen Gedankenguts (Sozialismus), wonach die kapitalistische Bundesrepublik von sozialer Kälte und Klassengegensätzen beherrscht werde. Auch Normalbürger sahen (und sehen) sich als vom Westen bzw. vom Kapitalismus unterdrückt und ausgebeutet. Von diesem Einstellungswandel profitierte v. a. die zunächst in PDS umbenannte ehemalige Staatspartei, die bei Wahlen ihren Stimmenanteil in Ostdeutschland ausbauen konnte. Bei der Bundestagswahl 2013 erhielt die heutige „LINKE“ (Die Linke), der eine kleine westdeutsche Partei beigetreten war, insgesamt 8,6 % der Stimmen, im Osten aber knapp 23 %, und damit etwa 5 Prozentpunkte mehr als die SPD. Sie wurde in der 18. Wahlperiode stärkste Oppositionskraft (Opposition) im Bundestag.

Viele Ostdeutsche neigen dazu, aktuelle Probleme der Wiedervereinigung bzw. der Transformationspolitik zuzuschreiben und damit auf „den Westen“ zu schieben. Die nicht nur auf dem Feld der Ökonomie katastrophale Schlussbilanz der DDR ist den meisten Betrachtern aus dem Sinn geraten. Ein nüchterner Blick auf die Hinterlassenschaften der SED offenbart jedoch, was viele vor dem Fall der Mauer ahnten, aber aufgrund fehlender Öffentlichkeit und rigider Geheimhaltungspolitik nicht thematisieren konnten: Der SED-Staat hat aus politisch-ideologischen Motiven weit über seine ökonomischen Verhältnisse gelebt, die Umwelt flächendeckend zerstört, Innenstädte verfallen lassen und die Menschen in ein zentralistisch gelenktes Korsett von Vorgaben und Kollektiven eingespannt. Dieses Erbe ging in das wiedervereinigte Deutschland ein und wirkt nach.

Bereits wenige Monate nach dem Fall der Mauer wurden die kulturellen und mentalen Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschen deutlich sichtbar. Jetzt prallte aufeinander, was sich in über vierzig Jahren in fundamental verschiedenen Systemen herausgebildet und die Menschen geprägt hatte. Schneller als erwartet setzten sich wechselseitige Stereotype fest. Während die Ostdeutschen, neugierig auf das westliche Leben, in Scharen den Westen besuchten, bekundeten viele Westdeutsche ihr Desinteresse an den neuen Landsleuten durch Ignoranz. Sie waren nicht neugierig auf den Teil des Landes, den ihre „Brüder und Schwestern“ seit über vierzig Jahren bewohnten.

Da sich die Ostdeutschen gleichsam über Nacht neuen Bedingungen anpassen mussten, fiel bei ihnen der Bruch zwischen Alt und Neu radikaler aus als bei den alten Bundesbürgern, die im Großen und Ganzen so tun konnten, als ginge für sie alles weiter wie bisher. Jetzt wurden die erlernten ostdeutschen Fähigkeiten – möglichst wenig Eigeninitiative entwickeln, möglichst wenig anecken, möglichst passiv alles hinzunehmen und im Stillen das tun, was möglich ist – überflüssig und wirkten im notwendigen Anpassungsprozess blockierend.

2. Wohlstandsexplosion

Die Annahme der Bundesregierung unter Kanzler Helmut Kohl, durch ordnungspolitische Weichenstellungen und massive Transfers binnen weniger Jahre einen sich selbst tragenden Wirtschaftsaufschwung entfalten zu können, erwies sich als Fehlschluss. Zum Ende der DDR lag das BIP je Einwohner im Osten bei rund 33 % des westdeutschen Niveaus, die Produktivität bei 27 %. Ein Vierteljahrhundert später liegen die Daten etwa bei 70 bzw. 80 %: ein deutlicher Anstieg, der aber die zu hoch gesteckten Erwartungen nicht erfüllt. Schon seit geraumer Zeit stockt zudem der Angleichungsprozess. Die Wachstumsraten der Wirtschaft verlaufen parallel. Ostdeutschland holt seit Ende der 1990er Jahre kaum noch auf.

Der von der Bundesregierung eingeschlagene soziale und konsumorientierte Vereinigungspfad, der zwangsläufig gewaltige finanzielle Transfers von West nach Ost voraussetzte, vollzog unmittelbar nach der Vereinigung materielle und soziale Angleichungsprozesse in atemberaubender Geschwindigkeit, denen jedoch das wirtschaftliche Fundament fehlte. Unter Berücksichtigung fortbestehender regionaler Kaufkraftunterschiede erreichen die ostdeutschen Haushaltseinkommen 2015 etwa 85 % bis 90 % des Westniveaus. Noch bestehende und nur langfristig abschmelzende Unterschiede existieren insb. in der Verteilung des Vermögens und der hieraus resultierenden Einkommen. Aber selbst auf diesem Feld lässt sich eine erstaunliche relative Verbesserung für ostdeutsche Haushalte konstatieren: Ihre durchschnittlichen Geldvermögen stiegen in 25 Jahren von etwa einem Fünftel auf über 50 % des westdeutschen Niveaus. Werden die kapitalisierten Besitzansprüche an die gesetzlichen Rentenversicherungen einbezogen, erreichen Ostdeutsche – je nach Alter und Geschlecht – sogar etwa 60 % bis 80 % des westdeutschen Niveaus.

Angesichts der katastrophalen Schlussbilanz der DDR und einiger falscher Weichenstellungen (z. B. durch zu schnelle Lohnerhöhungen, steigende Arbeitskosten durch die Finanzierung über die Sozialbeiträge, Umtauschkurs von DDR-Mark in DM) dauert die ökonomische Konsolidierung länger als erwartet, und die Transformationskosten fallen höher aus als erhofft. Schon 1990 überwies die Bundesrepublik mindestens 60 Mrd. DM in die DDR und die neuen Länder, um Löhne und Renten (Rente) bezahlen zu können. In den Jahren danach stiegen die Bruttotransferzahlungen deutlich an, erreichten zur Jahrtausendwende die Marke von jährlich 100 Mrd. Euro und liegen derzeit bei etwa 80 Mrd. Euro. Zwischen Anfang 1990 und Ende 2015 flossen geschätzt etwa 1,6 bis knapp 2 Billionen Euro in die neuen Länder.

3. Der politische und mentale Graben

Zwar deutlich verschmälert, hat sich ein breiter politischer und mentaler Graben gehalten. Differenzen bestehen im Wählerverhalten, im politischen und ehrenamtlichen Engagement (Freiwilligenarbeit) sowie in den Einstellungen zu Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Diese Felder sind in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten nur mühsam etwas zusammengewachsen.

Ostdeutsche haben generell weniger Vertrauen in politische Institutionen als Westdeutsche, auch wenn die Differenz mit den Jahren geschmolzen ist. Es gibt keine Institution, zu der Ostdeutsche höheres Vertrauen als Westdeutsche haben. Gefragt nach den größten Erfolgen und Leistungen der Bundesrepublik, nennt nur jeder vierte Ostdeutsche (gegenüber der Hälfte der Westdeutschen) ein stabiles politisches System. Den Rechtsstaat erwähnen nur 23 % von ihnen (West: 46 %). Das GG schätzen nur ein Drittel, aber zwei Drittel der Westdeutschen.

In Wahlmotiven und Erwartungen an die bevorzugten Parteien liegen Ostdeutsche dichter zusammen als die Bewohner der alten Länder, wobei Wertorientierungen z. T. nach wie vor deutlich von den Erfahrungen im realen Sozialismus geprägt sind. In vielerlei Hinsicht haben Ostdeutsche mit ihren Landsleuten, selbst wenn diese für eine andere Partei votieren, immer noch mehr gemeinsam als mit vielen westdeutschen Wählern der gleichen Partei. Außerdem ähneln sich die jeweiligen Parteien in ihren speziell auf Ostdeutschland zugeschnittenen Vorstellungen stärker als im Westen, wo Wahlkämpfe zudem deutlich polarisierter geführt werden.

Ostdeutsche sind empfänglicher für extremistische (Extremismus) und populistische Parteien (Populismus), die nicht nur bei Landtagswahlen, sondern auch bei der Bundestagswahl deutlich höhere Ergebnisse erzielen als im Westen (Wahlen). 2013 erreichten rechtsextreme Parteien im Osten einen Zweitstimmenanteil von knapp 3 % gegenüber etwa 1 % im Westen. Auch die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) überstieg dort damals schon die 5 %-Grenze. Gestützt auf entsprechendes Protestpotenzial in der Gesellschaft, erwies sie sich bei mehreren Landtagswahlen als konkurrenzfähig zu den etablierten Parteien – mit Ausstrahlung nach Westen. Weiterhin ist das rechtsextreme Potenzial im Osten deutlich größer. Auch gibt es etwa doppelt so viele rechtsextreme Gewalttaten wie in den alten Ländern. Die Ausländerfeindlichkeit ist – trotz deutlich niedrigerem Ausländeranteil – erheblich verbreiteter. Zwar gibt es auch in den alten Ländern Proteste gegen die staatliche Flüchtlingspolitik, aber in den neuen sind die stärker mit rassistischen (Rassismus) und menschenverachtenden Parolen verbunden.

Verrohung und Gleichgültigkeit sind Nachwirkungen der Zustände im SED-Staat, aber auch Folgen des radikalen sozialen Wandels nach der Vereinigung. Viele Menschen wurden aus überschaubaren sozialen Milieus (Sozialstruktur) und planbaren Lebensverläufen herausgerissen. Alte Sicherheiten, auch wenn sie zuvor als einengend empfunden wurden, verschwanden und hinterließen eine Leerstelle. Die neue Freiheit setzte vorerst vermeintlich keine Grenzen. Auf sich allein gestellt, fehlte vielen Jugendlichen das Gefühl, gebraucht und anerkannt zu werden. In der alleingelassenen Jugend, die keine Vorbilder und Autoritäten mehr hatte, konnten Rechtsextreme Fuß fassen. Eine schon vorhandene gewaltbereite rechtsextreme Szene breitete sich rasch aus und hat sich in mehreren Generationsschüben gehalten.

4. Wechselseitige Vorurteile

In der subjektiven Wahrnehmung existiert immer noch eine „Mauer in den Köpfen“, die sich nach der Jahrtausendwende sogar verfestigt hat. Eine sehr breite Mehrheit in beiden Landesteilen sieht noch immer mentale Unterschiede, selbst in der jungen Generation nur wenig abgeschwächt.

Auch existieren nach wie vor wechselseitige Vorurteile (Voruteil). Westdeutsche halten Ostdeutsche für unzufrieden, misstrauisch, ängstlich und zurückhaltend. Umgekehrt charakterisieren Ostdeutsche die Westdeutschen als arrogant, nur aufs Geld bezogen, selbstbewusst und oberflächlich. Diese Stereotypen sind selbst bei den Jüngeren anzutreffen. Dabei gibt es eine Ost-West-Schieflage, d. h. Westdeutsche billigen Ostdeutschen deutlich mehr positive Eigenschaften zu als umgekehrt. Auch fallen die Negativbewertungen durch Ostdeutsche intensiver aus. Noch stärker differiert das Selbstbild: Während sich Westdeutsche mehr negative als positive Eigenschaften zuschreiben, sehen sich Ostdeutsche v. a. positiv.

Zwar hat sich der Anteil derjenigen, die mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zwischen Ost- und Westdeutschen erkennen, im letzten Jahrzehnt verringert. Er liegt aber immer noch über dem Anteil derjenigen, die mehr Gemeinsamkeiten sehen (Stand 2015). Zugenommen hat dagegen die Identifikation der neuen Bundesbürger mit Deutschland. Seit dem Jahr 2010 fühlt sich im Osten ebenso wie im Westen eine knappe bzw. breite Mehrheit in erster Linie als Deutsche und nicht als Ost- oder Westdeutsche. Bei den Jüngeren sind es sogar knapp drei Viertel und damit ebenso viele wie in Westdeutschland.

So verschieden sich die Deutschen in Ost und West in der wechselseitigen Wahrnehmung vorkommen mögen und es tatsächlich zumindest bei den älteren Generationen auch sind, so ähnlich werden sie von außen gesehen. Die gemeinsamen, als typisch deutsch erachteten Züge treten in der Außenbetrachtung stärker hervor als die Differenzierungen und Gräben.

5. Die Wiedervereinigung als Erfolgsgeschichte

Die öffentliche Wahrnehmung hebt zumeist fortbestehende Unterschiede und Probleme des Wiedervereinigungsprozesses hervor und übersieht oft die positiven Seiten. So gerät aus dem Blick, dass die Umwelt in den ostdeutschen Ländern flächendeckend saniert und die Infrastruktur umfassend modernisiert wurde. Viele nahezu zerstörte Innenstädte erstrahlen in neuem Glanz. Aber auch der Einzelne profitiert von der schnellen Wohlstandsangleichung (Wohlstand) und der Verbesserung des Gesundheitswesens (Gesundheitspolitik). Die zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung deutlich niedrigere ostdeutsche Lebenserwartung liegt bei Frauen inzwischen auf annähernd gleichem Niveau und beträgt bei Männern nur noch etwa ein Jahr weniger. Seit der Jahrtausendwende sind sich die Deutschen in West und Ost zudem einig, dass die Wiedervereinigung ein Grund zur Freude und nicht zur Sorge ist.

6. System und Lebenswelt

Viele Ostdeutsche – beileibe nicht nur die, die seinerzeit an verantwortlicher Stelle tätig waren und sich durch den Untergang ihres Staates um ihre Lebensleistung betrogen fühlen – empfinden eine Kritik an der sozialistischen Diktatur als Angriff auf ihre Person. Sie differenzieren nicht zwischen System und eigener Lebenswelt und fordern mehr Verständnis und Anerkennung auch für den politisch-ideologischen Rahmen (Ideologie), der ihnen bis 1989 gleichsam oktroyiert war. Doch dieser Rahmen darf nicht im Nachhinein legitimiert werden.

Der individuellen Lebensleistung aber gebührt Anerkennung, unabhängig davon, in welcher Ordnung ein Mensch gelebt hat. Gerade an der Differenzierung zwischen diesen beiden Faktoren mangelt es bis zum heutigen Tag. Westdeutsche rechnen sich quasi persönlich die Überlegenheit ihres Systems zu und werten gleichzeitig Ostdeutsche gemeinsam mit deren altem System ab. Erst wenn diese Pauschalisierungen ausgeräumt sind, kann ein Zusammenleben ohne individuelle oder sogar kollektive Kränkungen gelingen. Dabei darf jedoch die notwendige Delegitimierung der sozialistischen Diktatur (Legitimität) nicht zugunsten einer Anerkennung individueller Lebensleistungen, die das System miteinschließt, aufgegeben werden.

Trotz aller Probleme: Berücksichtigt man die historisch wohl singulären schwierigen Ausgangsbedingungen – die katastrophale ökonomische, infrastrukturelle und ökologische Schlussbilanz der DDR, ihr zum damaligen Zeitpunkt unerwarteter Zusammenbruch, nicht vorhandene historische Vorbilder, Fehlen einer etablierten Gegenelite (Elite) im SED-Staat, unterschiedliche, ja gegensätzliche Sozialisationen (Sozialisation) und Lebenserfahrungen in Ost und West –, so hellt sich das Bild deutlich auf. Dann erscheint die Wiedervereinigung trotz aller Widrigkeiten und Probleme unter dem Strich als Erfolgsgeschichte.