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Version vom 14. November 2022, 05:53 Uhr
I. Wirtschaftswissenschaften
Abschnitt druckenA. sind im Arbeits- und Sozialrecht sowie in der amtlichen Statistik Personen, die wegen eines privatrechtlichen Arbeitsvertrages mit einem Arbeitgeber verpflichtet sind, für Vergütung, Urlaub und die Fürsorge des Arbeitgebers in dessen Dienst weisungsgebundene abhängige Arbeit zu leisten. Der A.-Begriff hat vielfältige Anknüpfungspunkte: außer zu Arbeitsrecht und den Entwicklungen am Arbeitsmarkt sowie zur Analyse der Sozialstruktur etwa auch zur Sozialpolitik und deren rechtlicher Ausgestaltung in Form von A.-Schutz, Arbeitsmarktpolitik und der Ausgestaltung der Betriebs- und Unternehmensverfassung. Die „klassische“ soziale Frage der Schutzlosigkeit der besitz- und vermögenslosen Arbeiter im Falle des Eintritts elementarer Risiken wird dabei zumindest in modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften (Industriegesellschaft) als gelöst angesehen. Dennoch ergibt sich hier aber die Notwendigkeit einer bes.n Ausgestaltung der Arbeitsmarktordnung, weil „die vorherrschende wirtschaftliche Existenzgrundlage Unselbstständiger ihre Arbeitskraft ist“ (Lampert/Bossert 2011: 338). In der bundesdeutschen Praxis entwickelte sich im internationalen Vergleich ein Sozialstaatssystem mit arbeitnehmerbezogenen Sozialversicherungssystemen, kollektiv-vertraglichen Arbeitsrechtsregelungen und einer vergleichsweise starken Stellung der Verbände, v. a. von A.n und Arbeitgebern. Die als Sozialpartnerschaft bezeichnete für die BRD charakteristische Verhandlungs- und Entscheidungspraxis auf verschiedenen Ebenen unter häufiger Einbeziehung von A.seite und Arbeitgebervertretern trug nach weitgehender Auffassung „wesentlich zur Stabilisierung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse wie der Arbeitsbeziehungen in der BRD bei“ (Jablonowski 2016: 1430).
1. Historischer Hintergrund und Rolle des Sozialversicherungssystems
Das Arbeitsverständnis unterlag starken historischen Wandlungen. Seit Beginn der Industriegesellschaft gehört mit der Etablierung der bürgerlichen Leistungsgesellschaft Erwerbsarbeit zu ihr als Wesensmerkmal. Sie erfolgt zur Effizienz- und Produktivitätssteigerung arbeitsteilig im Zusammenspiel mit den anderen Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital. Die nur formal freie Entfaltung der Einzelnen führt jedoch zu erheblichen Missständen. Denn Arbeitgeber, also jeder (jede natürliche oder juristische Person), der andere als A. beschäftigt, wurden durch die damalige Rechtslage eindeutig begünstigt. „Galt zwar formal zwischen dem Fabrikarbeiter und seinem Arbeitgeber das Prinzip der Vertragsfreiheit, so führte das tatsächliche Machtungleichgewicht zwischen Arbeitgeber und A. jedoch zu niedrigen Löhnen, langen Arbeitszeiten, Frauen- und Kinderarbeit bei Arbeitslosigkeit der Männer, mangelndem Unfallschutz und fehlender sozialer Vorsorge bei Krankheit und Tod des Familienernährers“ (Preis 2016: 82). Nach Vorläufern arbeitsrechtlicher Gesetze zum Schutz jugendlicher Arbeiter in Fabriken von 1839 in Preußen verlief die deutsche Sozialgeschichte seit der ersten Reichsgründung 1871 in mehreren Etappen. Es kam zu einer Grundlegung von Sozialsystemen parallel zur zunächst forcierten Industrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution) des anfangs noch agrarisch geprägten Nachzüglers im Vergleich insb. zum Vorreiter England. Ersteres war v. a. auch eine Reaktion auf den zunehmenden Zusammenschluss der A. zu Gewerkschaften zur Selbsthilfe gegen Missstände. Ein Ausbau des Sozialsystems erfolgte später v. a. während der Weimarer Republik, in der sich das Arbeitsrecht als eigenständige Rechtsdisziplin etablierte, sowie nach Gründung der BRD, die sich stark an die Rechtslage des Arbeitsrechts vor deren weitgehende Außerkraftsetzung im NS anlehnte. „Es ist gekennzeichnet durch die verfassungsrechtlichen Garantien der Koalitionsfreiheit, der Berufsfreiheit, der Vertragsfreiheit und des Eigentums“ (Preis 2016: 82).
Letztlich prägt die infolge extrem schlechter Arbeitsbedingungen auf Druck der Arbeiterbewegung von Reichskanzler Otto von Bismarck ab 1881 mit der „Kaiserlichen Botschaft“ eingeleitete Sozialgesetzgebung nach wie vor das jetzige Sozialversicherungssystem und umfasst die Krankenversicherung (1883), Unfallversicherung (1884), Rentenversicherung (1889), Arbeitslosenversicherung (1927) und Pflegeversicherung (1995). Es handelt sich weitgehend um Pflichtversicherungen für alle A., von denen nur für einzelne Personengruppen Ausnahmen gelten. Im engeren juristischen Sinne sind insb. die Beamten, die Richter und die Soldaten (Soldat) keine A., weil sie in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis stehen. Sie sind jedoch wie die A. abhängige Erwerbspersonen. Kennzeichnend ist, dass Versicherte einen Teil der Versicherungsbeiträge selbst aufbringen, während den anderen Teil die Arbeitgeber abführen. Letztere zahlen für die Unfallversicherung die Beiträge ganz. Hieraus ergibt sich ein Rechtsanspruch auf die Versicherungsleistungen. Bei der Krankenversicherung gilt eine Versicherungspflichtgrenze. Wenn das Einkommen diese Grenze nicht übersteigt (2016: monatlich 4 687,50 Euro), so muss man sich bei einer gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichern – ansonsten ist eine Privatversicherung möglich. Nicht sozialversicherungspflichtig für die Beschäftigten sind außerdem Minijobs, also geringfügige Beschäftigungen mit einem Verdienst von bis zu 450 Euro (Stand 2016) – fällige Beiträge zahlt der Arbeitgeber. Zudem gilt das Solidaritätsprinzip, wonach die Beitragshöhe der versicherten Person von deren Einkommen abhängt. Zugl. richten sich die Versicherungsleistungen nach dem Bedarf der Versicherten. Der Aufbau des Systems, das auch erhebliche Staatszuschüsse zur Finanzierung politisch bestimmter versicherungsfremder Leistungen erhält, erfolgt nach dem Selbstverwaltungsgrundsatz (Selbstverwaltung). Die Organe werden gewählt. Sie bestehen zur Hälfte aus A.n und Arbeitgebern – eine Konkretisierung der Sozialpartnerschaft.
Seit dem 3. Oktober 1990 gilt das westdeutsche Arbeitsrecht auch in den Ländern der ehemaligen DDR. Heute wird das Arbeitsrecht ebenfalls erheblich durch das Recht der Europäischen Union (Europarecht) beeinflusst.
2. Rechtliche Aspekte
Für die Anwendung des Arbeitsrechts bzw. des A.-Schutzrechts und des kollektiven Arbeitsrechts ist der Begriff des A.s von zentraler Bedeutung. Es existiert eine Fülle von Definitionen. Deren gemeinsamer Nenner besteht darin, „dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer solche Personen sind, die fremdbestimmte Arbeit, also Arbeit für einen anderen, verrichten im Gegensatz zu einem Selbstständigen, der eine selbstbestimmte Tätigkeit leistet und dessen Arbeitsverpflichtung sowie Art und Umfang der Arbeit sich aus Weisungen im Einzelfall oder generellen vertraglichen Vorgaben ergeben“ (Engelen-Kefer 2001: 75).
Der moderne private Arbeitsvertrag gehört zu den wichtigsten Verträgen in einer Volkswirtschaft. Zentraler Aspekt dieses Vertrags ist die Erbringung von Diensten gegen Entgelt, wobei der Erfolg nicht geschuldet wird. Der Arbeitgeber gewährt auf einer Marktseite die Vergütung, der A. leistet auf der anderen Vertragsseite die versprochenen Dienste. Kennzeichnende Merkmale seit dem 19. Jh. sind die Einführung des Prinzips der Vertragsfreiheit und ein gesetzlicher Schutz des A.s vor möglichen Willkürmaßnahmen des Arbeitgebers. Beides hat es in vorindustrieller Zeit so nicht gegeben. Gleichzeitig ist heute die Vertragsfreiheit beim Arbeitsvertrag insofern „stark eingeschränkt“ (Nuding/Haller 2016: 160), weil eine Vielzahl von gesetzlichen Regelungen beim Vertragsabschluss und bei der Festlegung der Inhalte zu berücksichtigen sind, etwa das ArbZG, das KSchG , die HandwO , das Tarifvertragsgesetz etc.
Das Individualarbeitsrecht regelt die rechtliche Beziehung zwischen dem Arbeitgeber und dem einzelnen A. Zahlreiche Gesetze dienen primär dem Schutz der A. im bestehenden A.-Verhältnis. Denn der Verlust des Arbeitsplatzes kann häufig den aktuellen Lebensstandard erheblich gefährden, weil der (Vollzeit-)Arbeitsplatz i. d. R. die wichtigste Einnahmequelle ist. Sie kann durch sozialrechtliche Transferleistungen (Sozialrecht) beim Arbeitsplatzverlust zumindest mittelfristig in aller Regel nicht ausgeglichen werden, um den vorherigen Lebensstandard aufrecht zu erhalten. Dieser Schutzfunktion dient darüber hinaus ebenfalls das kollektive Arbeitsrecht, welches die Rechtsbeziehungen von Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften und Belegschaftsvertretungen sowohl zu ihren Mitgliedern als auch untereinander umfasst. „Tarifvertrags-, Arbeitskampf-, Betriebsverfassungs- und Mitbestimmungsrecht schaffen den rechtlichen Rahmen für das kollektive Aushandeln der Arbeitsbedingungen und regeln die betriebliche Ordnung. Das kollektive Arbeitsrecht bezweckt außer diesem Schutz die Wahrnehmung der Arbeitnehmerinteressen bei der Einkommens- und Vermögensverteilung und bei der Auswahl und Kontrolle der Unternehmensleitungen in Großunternehmen“ (Preis 2016: 83). Zudem regelt das Arbeitsrecht ebenfalls die Beziehungen zwischen Staat und Arbeitgeber, etwa beim Arbeitszeit- und dem Jugendarbeitsschutzrecht, sowie zwischen staatlichen Gerichten (Gerichtsbarkeit) und beteiligten Parteien des Arbeitsverhältnisses. Darüber hinaus sind die Verknüpfungen mit dem Sozialrecht nicht zu vernachlässigen, da etwa die Gewährung von Arbeitslosengeld davon abhängt, ob jemand selbst kündigt oder gekündigt wird.
Das Arbeitsrecht beschäftigt sich folglich zuallererst mit dem Recht des abhängig Beschäftigten. Es ist „für mehr als der erwerbstätigen Bevölkerung die für ihr berufliches, teilweise sogar für ihr privates Leben zentrale Rechtsmaterie“ (Preis 2016: 82). Denn es betraf etwa 38,7 Mio. abhängig Beschäftigte im Jahr 2015, von denen rund 30 Mio. sozialversicherungspflichtige A. waren. Die ganz herausgehobene Bedeutung der A.-Rolle zeigt sich letztlich darin, dass er wesentliche Lebensaspekte erheblich beeinflusst: „Viele Arbeitnehmer haben mit ihrem Arbeitseinkommen zusätzlich ihre Familienangehörigen zu unterstützen. Sie müssen überdies einen erheblichen Teil ihres Tagesablaufs im Betrieb oder Büro zubringen. Die im Berufsleben erreichte Stellung, der Lohn, die Dauer der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit und des Urlaubs wirken auch weit in den Freizeitbereich der Arbeitnehmer und – wegen des Zusammenhangs zwischen Lohn und Altersrente – sogar in den Ruhestand hinein“ (Preis 2016: 81). Es ist offensichtlich, dass das Arbeitsverhältnis als Vertragsverhältnis zwischen Arbeitgeber und A. heute weit über einen bloßen Austausch von Lohn gegen Arbeit hinausgeht, indem den Vertragspartnern eine erhöhte Treue- und Fürsorgepflicht obliegt. So umfasst das individuelle Arbeitsschutzrecht etwa auch Regelungen zur Arbeitssicherheit, die auch die Öffentlichkeit vor Gefahren schützen soll.
3. Der Arbeitnehmer in den Sozialwissenschaften
Die Ökonomik setzt häufig A. mit Personen in einem abhängigen weisungsgebundenen Beschäftigungsverhältnis gleich. Ausgangspunkt hierfür ist die amtliche Statistik, nach der die Erwerbstätigen zusammen mit den arbeitslosen Erwerbslosen die Zahl der Erwerbspersonen ausmacht. Dabei setzen sich die Erwerbstätigen erstens aus den in einem Beschäftigungsverhältnis stehenden, abhängige Arbeit verrichtenden Personen, zweitens den mithelfenden Familienangehörigen und drittens den Selbstständigen oder Freiberuflern (Freie Berufe) zusammen. Im Zeitablauf nahm der Anteil der A. im engeren und im weiteren Sinne ähnlich wie in anderen industrialisierten Hocheinkommensstaaten erheblich zu.
Ähnlich geht auch die soziologische neue Sozialstrukturanalyse vor, die wie die Ökonomie handlungstheoretisch argumentiert. Typischerweise unterscheidet man auch hier zwischen der Analyse von Selbstständigen und abhängig Beschäftigten. Dabei steht die Betrachtung der abhängig Beschäftigten im Vordergrund, „denn in Deutschland sind rund 90 Prozent der Erwerbstätigen abhängig beschäftigt“ (Erlinghagen/Hank 2013: 175). In beiden Disziplinen wird ähnlich modelliert, indem das Gut Arbeit als Tauschgut zwischen Arbeitsnachfragern und Arbeitsanbietern betrachtet wird. „Arbeitsanbieter sind hier die einzelnen Arbeitnehmer, denn sie bieten auf dem Markt ihre Arbeitskraft an. Arbeitsnachfrager sind die Betriebe (Arbeitgeber), die zur Aufrechterhaltung ihrer Produktion Arbeitskräfte benötigen und daher Arbeit nachfragen“ (Erlinghagen/Hank 2013: 175).
Ein bes. Anwendungsfeld sowohl in der VWL als auch in Soziologie und Politikwissenschaft ist die Arbeitsmarktpolitik. Sie ist – anders als die makroökonomisch ausgerichtete Beschäftigungspolitik – mikroökonomisch ausgerichtet. Dieses Politikfeld setzt einerseits beim einzelnen Unternehmen an, um deren Fähigkeit zur Beschäftigung bestimmter Gruppen von Arbeitskräften zu erhöhen, oder bei einzelnen A.n mit dem Ziel, die Lage bestimmter Gruppen von A.n zu verbessern. Arbeitsmarktpolitik ist hier insofern relevant, weil sie direkt an den Arbeitskräften ansetzt, um einerseits Profildiskrepanzen zwischen Angebot und Nachfrage zu überwinden, oder um negative wirtschaftliche Folgen von Arbeitslosigkeit durch Lohnersatzleistungen sozialpolitisch abzumildern. Zwei Aspekte sind zu unterscheiden: „Bei der passiven Arbeitsmarktpolitik besteht generell das Problem der ‚Abstandswahrung‘ : Die Leistungen an Arbeitslose sollen ihnen einerseits die soziale Teilhabe ermöglichen, aber andererseits nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Bereitschaft, wieder eine Arbeit aufzunehmen, beeinträchtigen. […]. Die aktive Arbeitsmarktpolitik zielt v. a. darauf ab, die individuelle Dauer der Arbeitslosigkeit zu verkürzen, indem sie die Beschäftigungsfähigkeit der Arbeitslosen erhöht und damit ihre Vermittlungsaussichten verbessert“ (Neubäumer 2016: 78 f.).
In den Wirtschaftswissenschaften spielt der Produktionsfaktor Arbeit als Input des volkswirtschaftlichen Outputs und der betrieblichen Leistungserstellung eine unabdingbare Rolle. In der Betriebswirtschaftslehre sind A. zentraler Bestandteil der Anspruchs- bzw. Interessensgruppen (Stakeholder), von denen das Unternehmen Leistungen erwartet und benötigt und die selbst auch Anforderungen an es richten. Beim Personalmanagement als zentraler betriebswirtschaftlicher Aufgabe stellt sich die Frage, in welcher Form man Arbeitskräfte optimal einsetzt, etwa über unbefristet oder befristet eingestellte A. in Voll- oder Teilzeit oder bspw. über Werkverträge. Denkbar ist auch, dass gewisse bisher selbst erstellte betriebliche Aufgaben nicht mehr selbst erstellt werden, sondern von anderen Unternehmen fremdbezogen werden. Für diese Entscheidungen spielen neben internen Bedingungen (etwa Unternehmensstrategie, Internationalisierungsgrad) v. a. die Lage auf dem Arbeitsmarkt sowie das Arbeitsrecht als externe Bedingungen eine herausgehobene Rolle, die nicht vernachlässigt werden dürfen, um als Unternehmen längerfristig erfolgreich zu sein.
4. Ausblick
Ebenso wie aus juristischer Sicht zeigt sich in der Perspektive akteursorientierter sozialwissenschaftlicher Disziplinen die zentrale Rolle von Arbeit, da sie i. d. R. in den heutigen modernen „Erwerbsarbeitsgesellschaften“ Bedingung für die Teilhabe an modernen Gesellschaften (Gesellschaft) ist und die soziale Sicherung (Soziale Sicherheit) sowie die Funktionsfähigkeit des Staates nicht zuletzt über die Besteuerung von Arbeit sichert. Derzeit liegt „der Anteil der Haushalte, in denen mindestens eine Person im erwerbsfähigen Alter und mindestens eine Person sozialversicherungspflichtig oder als Beamter tätig ist, bei etwa zwei Dritteln“ (Wagner 2016: 428). Anders als häufig prognostiziert, hat der Anteil der „Normalarbeitsverhältnisse“ – definiert als eine unbefristete, sozialversicherungspflichtige Vollzeit- oder Teilzeitbeschäftigung – an allen Erwerbsfähigen ebenfalls nicht abgenommen.
Sog.e atypische Beschäftigungsverhältnisse, die hiervon abweichen, sind aber dennoch nicht selten spezifischen Risiken ausgesetzt, etwa einem fehlenden Schutz in verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung. Wie mit atypischen „Arbeitsverhältnissen“ umzugehen ist, ist jedoch in der aktuellen wirtschaftspolitischen Debatte kontrovers. So meint etwa das DIW: „Um dem Trend zu diesen Beschäftigungsverhältnissen entgegenzuwirken, sind verschiedene Maßnahmen denkbar. Dazu gehören ein Ausbau der Kinderbetreuung, die Abschaffung von Sonderregelungen für Mini-Jobs sowie eine Versicherungspflicht für Alter und Unfall für bislang nicht abgesicherte Selbstständige“ (Arnold/Mattes/Wagner 2016: 419). Die Gegenposition betont hingegen die Sprungbrettfunktion von atypischen Beschäftigungsverhältnissen in eine reguläre Beschäftigung und sieht wenig Bedarf für eine völlige Neuregulierung von atypischen Beschäftigungsverhältnissen und Werkverträgen.
Richtig ist aber: „Globalisierung, die demographische Entwicklung und der ständige Wandel von Arbeitsprozessen, etwa durch die Digitalisierung, stellen die Gesellschaft, die Wirtschaft und auch die Arbeitgeber vor große Herausforderungen.“ (Göhner 2016: 69) Die offene Frage ist, ob dies dann auch zwangsläufig für die A. gilt. In Teilen der Debatte wird davon ausgegangen, dass das Normalarbeitsverhältnis tendenziell an Bedeutung verlieren wird und sich „ein neuer Typus des ‚Arbeitnehmerselbstständigen‘ herausbildet“ (Rinne/Zimmermann 2016: 7). Es wird vermutet, dass infolge der Zunahme virtueller Marktplätze („Plattformkapitalismus“) Aufträge nicht nur für Gelegenheitsfahrer, sondern auch für Werbetexter, Programmierer oder Designer künftig in großem Stil jeweils einzeln ausgeschrieben und abgewickelt werden könnten: „Unternehmen werden so grundsätzlich infrage gestellt“ (Rinne/Zimmermann 2016: 7). Die Gegenposition besagt, dass ähnlich wie bisher „das normale Angestelltenverhältnis auch die Normalität bleiben wird, und zwar ganz überwiegend“ (Wagner 2016: 428), etwa weil sich diese Organisationsform sowohl für Unternehmen als auch für A. vielfach auch in Zukunft als wechselseitig vorteilhaft erweisen dürfte. Bedeutsam ist die A.-Eigenschaft auch künftig insb. dafür, ob das Arbeitsrecht anzuwenden ist. Angesichts der Herausforderungen durch den aktuellen Strukturwandel wird es wohl auch künftig schwierig sein, den A.-Begriff exakt abzugrenzen „angesichts einer Grauzone zwischen selbstständiger und unselbstständiger Arbeit“ (Jähnichen 2016: 70). Letztlich kann dieses Problem aber politisch begrenzt werden, indem die gesetzlichen Rahmenbedingungen geändert werden: „Der Anstieg der nicht normalen oder atypischen Beschäftigung ist keineswegs einer Art naturgesetzlichen Wandels hin zu einer Risikogesellschaft zu verdanken, sondern lässt sich mit Entwicklungen erklären, die auf politische Entscheidungen in Deutschland zurückgehen“ (Arnold/Mattes/Wagner 2016: 426).
Literatur
M. Arnold/A. Mattes/G. G. Wagner: Normale Arbeitsverhältnisse sind weiterhin die Regel, in: DIW Wochenbericht 19 (2016), 419–427 • R. Göhner: Arbeitgeber, in: J. Hübner u. a. (Hg.): Evangelisches Soziallexikon, 92016, 67–69 • H. W. Jablonowski: Sozialpartnerschaft, in: J. Hübner u. a. (Hg.): Evangelisches Soziallexikon, 92016, 1430–1433 • T. Jähnichen: Arbeitnehmer: Arbeitnehmer, in: J. Hübner u. a. (Hg.): Evangelisches Soziallexikon, 92016, 69–71 • M. Linnartz: Streik, in: J. Hübner u. a. (Hg.): Evangelisches Soziallexikon, 92016, 1508–1511 • R. Neubäumer: Arbeitsmarktpolitik, in: J. Hübner u. a. (Hg.): Evangelisches Soziallexikon, 92016, 75–80 • H. Nuding/J. Haller: Wirtschaftskunde, 52016 • F. Nullmeier: Sozialstaat, in: J. Hübner u. a. (Hg.): Evangelisches Soziallexikon, 92016, 1441–1444 • U. Preis: Arbeitsrecht, in: J. Hübner u. a. (Hg.): Evangelisches Soziallexikon, 92016, 80–99 • U. Rinne/K. F. Zimmermann: Die digitale Arbeitswelt von heute und morgen, in: APuZ 18–19 (2016), 3–9 • G. G. Wagner: „Sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ist alles andere als ein Auslaufmodell“, in: DIW Wochenbericht 19 (2016), 428 • D. Holtbrügge: Personalmanagement, 62015 • IW: Atypische Beschäftigung, Argumente zu Unternehmensfragen, 2015 • U. Preis/A. Sagan: Europäische Sozialpolitik nach Lissabon, in: U. van Alemann u. a. (Hg.): Ein soziales Europa ist möglich, 2015, 43–62 • J. W. Althammer/H. Lampert: Lehrbuch der Sozialpolitik, 92014 • M. Erlinghagen/K. Hank: Neue Sozialstrukturanalyse, 2013 • H. Schmalen/H. Pechtl: Grundlagen und Probleme der Betriebswirtschaft, 152013 • H. Lampert/A. Bossert: Die Wirtschafts- und Sozialordnung, 172011 • W. Sesselmeier/L. Funk/B. Waas: Arbeitsmarkttheorien, 32010 • U. Engelen-Kefer: Arbeitnehmer, in: M. Honecker u. a. (Hg.): Evangelisches Soziallexikon, 82001, 72–75.
Empfohlene Zitierweise
L. Funk: Arbeitnehmer, I. Wirtschaftswissenschaften, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Arbeitnehmer (abgerufen: 22.11.2024)
II. Sozialethik
Abschnitt drucken1. Konnotationen des Begriffs
A. sind natürliche Personen, die in einem privatrechtlichen Vertrag einem Arbeitgeber zusichern, gegen eine Vergütung für eine begrenzte Arbeitszeit ihre persönliche Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen und sich seinem Direktionsrecht zu unterstellen. Aus dem vormals sachlich richtigen Begriff des Arbeitsgelegenheitsnehmers wurde in der deutschen Sprache der elliptische Begriff des A.s. Dieser ist insofern irreführend, als dass derjenige, der im abhängigen Arbeitsverhältnis steht, nicht die Arbeit anderer zu seiner Besserstellung in Anspruch nimmt, sondern gerade umkehrt Arbeitsleistung zur Verfügung stellt, also im strengen Sinne Arbeit„geber“ ist und insofern auch in der gängigen ökonomischen Begrifflichkeit als Arbeitsanbieter bezeichnet wird. Bereits der Begriff A., demzufolge der Arbeitende nicht etwas gibt, sondern etwas entgegennimmt, indiziert also ein asymmetrisches Machtverhältnis. Der Asymmetrie entspr. aber auch eine bes. Fürsorgepflicht des Arbeitgebers, die in detaillierten arbeits- und sozialrechtlichen Pflichten ausbuchstabiert wird. Die umfassenden Schutzrechte des A.s (z. B. Kündigungsschutz, Integration in die Sozialversicherungen; Sozialversicherung) führen dazu, dass der Status des A.s im Normalarbeitsverhältnis von den Erwerbstätigen i. d. R. als attraktiv wahrgenommen wird.
2. Pflichtenallokation durch den Arbeitnehmerstatus
In einer Sozialethik der Arbeit kommt den Rechten bei der Arbeit – also den ethischen Mindestansprüchen der Erwerbstätigen bzgl. Arbeitsbedingungen, Lohn und sozialer Sicherheit – eine zentrale Bedeutung zu. Ein wichtiger Vorteil des A.-Status liegt darin, dass er auf die u. a. in der Menschenrechtsethik zentrale Frage der Pflichtenallokation, also auf die Frage danach, wer für die Verwirklichung eines moralisch begründeten Leistungsrechtes wozu ethisch verpflichtet ist (und rechtlich zu verpflichten ist), eine eindeutige Antwort gibt: Erstverantwortlich für die Rechte bei der Arbeit sind die Arbeitgeber. Ergänzend werden die Tarifvertragsparteien und der Staat in die Pflicht genommen. Selbständige dagegen sind, auch wenn sie in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten, zuerst einmal für ihre Arbeitsbedingungen selbst verantwortlich. Um die mit den rechtlichen Pflichten des Arbeitgebers verbundenen Kosten zu reduzieren, treten viele Arbeitgeber aus dem Arbeitgeberverband der Branche aus oder vergeben Werkverträge an (Schein-)Selbständige. Allerdings gibt es auch eine Gruppe von i. d. R. gering qualifizierten Erwerbstätigen, die den A.-Status meiden und sich den Pflichten gegenüber den Sozialversicherungen (Sozialversicherung) (und dem Fiskus) entziehen, um das Netto-Brutto-Verhältnis ihres Arbeitseinkommens zu verbessern.
3. Institutionelle Einbettung
Bis in die 1980er Jahre partizipierten viele A. und ihre Familien über das Normalarbeitsverhältnis (sozialversichert, Vollzeit, unbefristet, beim Arbeitgeber selbst tätig) und über eine ihm entspr.e gesellschaftliche Praxis (dauerhafte, ununterbrochene Tätigkeit für einen Arbeitgeber, Ernährermodell mit traditioneller Arbeitsteilung in einer Ehe, die erst mit dem Tod eines Partners endete) am wachsenden Wohlstand und hatten so zugl. eine vergleichsweise gute Absicherung. Zu den Gerechtigkeitsdefiziten gehörten der weitgehende Ausschluss der Frauen von der Erwerbsarbeit und die Probleme, die entstanden, wenn die überkommenen Normalitätsannahmen dieser gesellschaftlichen Praxis nicht erfüllt wurden (u. a. bei Arbeitslosigkeit oder Ehescheidung). Mit der Massenarbeitslosigkeit, diskontinuierlichen Erwerbsbiografien, einer Pluralisierung der Lebensformen und den Veränderungen in der Arbeitsteilung der Geschlechter sowie mit der politisch geförderten Ausbreitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse wurde diese Form der sozialen Absicherung zunehmend brüchig. Trotzdem ist das System sozialer Sicherung bis heute im Wesentlichen erhalten geblieben, allerdings ergänzt durch Grundsicherungselemente und die Förderung privater Vorsorge.
Für den Ausgleich der strukturell schlechten Verhandlungsposition der A., die für den Lebensunterhalt auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen sind, bedarf es gewerkschaftlicher Interessenvertretung. Im deutschen Tarifvertragssystem handeln die Gewerkschaften zumeist mit einem Arbeitgeberverband Mindeststandards für die Einkommen (in Entgeltgruppen) und die Arbeitsbedingungen der A. aus. Zu den Vorteilen der Flächentarifverträge gehört, dass viele Interessenkonflikte so geregelt werden können, dass sie den Alltag in den Betrieben (Betrieb) und Unternehmen kaum mehr stören. Zudem wird eine unfaire Konkurrenz der Unternehmen über Lohndumping (Dumping) verhindert und einer Spreizung der Einkommen entgegen gewirkt. Zu den anhaltenden Erosionstendenzen des Tarifvertragssystems gehören der abnehmende gewerkschaftliche Organisationsgrad der A., die Ausbreitung von Spartengewerkschaften und die Tarifflucht von Unternehmen. Seit den 1990er Jahren kommt es verstärkt zu einer Flexibilisierung des Tarifvertragssystems, mit der allerdings auch die positiven Wirkungen des Flächentarifvertrags verringert werden.
Dass der A. sich für die Arbeitszeit dem Direktionsrecht des Arbeitgebers unterstellt, steht in einer eigentümlichen Spannung zu der wechselseitigen Anerkennung der Bürger als Gleiche und Freie, die für demokratische Gesellschaften kennzeichnend ist. Diese Spannung versucht man durch die A.-Mitbestimmung zu reduzieren. Im Katholizismus und in der kirchlichen Sozialverkündigung wurde die Forderung nach A.-Mitbestimmung anfänglich an das Miteigentum an sachlichen Produktionsmitteln geknüpft; allein als „kleiner Anteilseigner“ war der A. zur Mitbestimmung berechtigt. Bereits in den 1920er Jahren akzentuierte Goetz Briefs jedoch die Gleichwertigkeit des neben dem Faktor Kapital stehenden Produktionsfaktors Arbeit – ein Aspekt, der die spätere Argumentation (u. a. bei Oswald von Nell-Breuning) in den Debatten um wirtschaftliche Mitbestimmung und Unternehmensverfassung prägte. Die Forderung nach paritätischer Mitbestimmung erhielt durch die Enzyklika „Mater et magistra“ (1961) und die Pastoralkonstitution GS weiteren Schwung. Das Montan-Mitbestimmungsgesetz von 1951 und das BetrVG (Betriebsverfassungsrecht) von 1952, die dem Kernbestand der korporatistisch verfassten Wirtschafts- und Sozialordnung (Korporatismus) der BRD zuzuordnen sind, galten Vertretern der katholischen Sozialethik in Deutschland lange Zeit als „Schleichweg“, um sich an das Ziel gleichberechtigter Mitbestimmung von Kapitaleignern und A. „heranzurobben“ (Nell-Breuning 1983: 18).
4. Arbeitnehmergruppen
Der Begriff A. entstand als Oberbegriff für Arbeiter und Angestellte, die urspr. gemäß dem jeweiligen Anteil von geistigen Aufgaben und technischem Einsatz unterschieden wurden. Mittlerweile spielt die Differenzierung in diese beiden Gruppen nur noch eine untergeordnete Rolle. Zwischen männlichen und weiblichen A.n besteht bei den Stundenlöhnen nach wie vor ein signifikanter Unterschied. Dieser Gender Pay Gap liegt im Jahr 2016 in Deutschland bei etwa 20 % des durchschnittlichen Bruttostundenverdienstes der Männer. Vollzeitbeschäftigte Männer mit ausländischem Pass verdienen etwa 30 % weniger als vollzeitbeschäftigte Männer mit deutschem Pass. Die Verdienstunterschiede erklären sich z. T. aus verschiedenen Berufen (Beruf) und Qualifikationen sowie aus divergierenden Erwerbsbiografien. Aufgrund des Strukturwandels hin zur Dienstleistungsgesellschaft sind fast 3/4 aller A. im tertiären Sektor beschäftigt. Frauen, A. mit ausländischem Pass und A. des Dienstleistungssektors sind deutlich überdurchschnittlich oft atypisch beschäftigt.
5. Subjektivierung der Arbeit
Seit etwa 20 Jahren steigen die Krankschreibungen aus psychischen Gründen. Dies wird u. a. auf einen Strukturwandel der Arbeitsorganisation in größeren Unternehmen zurückgeführt, hinter dem neue betriebswirtschaftliche Konzepte, ein verschärfter internationaler Wettbewerb sowie ein höherer und kurzfristigerer Renditedruck (in Folge einer veränderten Finanzwirtschaft bzw. eines Bedeutungsgewinns der finanzwirtschaftlichen Rationalität) stehen. Im Unterschied zu tayloristisch organisierten Fabriken setzt die betriebliche Arbeitsorganisation heute stärker auf das Mitdenken der A. und auf deren Selbststeuerungsfähigkeiten: weg von rigider Detailsteuerung und A.-Kontrolle hin zu einer outputorientierten Selbstorganisation der A. (Subjektivierung der Arbeit). Das aus Arbeitgebersicht zentrale Problem abhängiger Beschäftigung, das vom A. vertraglich zugesicherte Arbeitspotenzial in konkrete Arbeitsleistung zu transformieren, wird nun weitgehend den Beschäftigten selbst zugewiesen. Mit der Subjektivierung steigt einerseits der Zeit- und Leistungsdruck auf die A. Andererseits kann die Arbeit für die A. aber auch interessanter und in der Organisation der eigenen Arbeitsprozesse selbstbestimmter werden. Ggf. kommt sie damit der (u. a. in der Christlichen Sozialethik) immer wieder geforderten ganzheitlichen Beanspruchung der Erwerbstätigen bei der Arbeit näher.
V. a. bei hochqualifizierten A.n werden die Grenzen zwischen Arbeit und Privatem fließend, weitet sich die Arbeitszeit immer weiter aus. Zudem stehen diese vor der Aufgabe, das eigene Arbeitsvermögen kontinuierlich zu optimieren und sich (auch in Konkurrenz zu Kollegen) zu vermarkten. Für einige Arbeitssoziologen hat dies zur Folge, dass die Lebensführung „verbetrieblicht“, das Leben insgesamt dem Diktat der Karriereplanung unterworfen wird. Gerd-Günter Voß und Hans Pongratz sehen die Entstehung eines neuen Typus A., des Arbeitskraftunternehmers. Dieser trete an die Stelle des „verberuflichten Arbeitnehmers“, für den standardisierte Qualifikationen, verwissenschaftlichte Kontrolle und ein vergleichsweise hoher sozialstaatlicher Schutz typisch waren. Richard Sennett diagnostiziert darüber hinaus eine grundlegende charakterliche Veränderung vieler Erwerbstätiger („Der flexible Mensch“), die er auf den Strukturwandel der Erwerbsarbeit zurückführt. Die ständige Reorganisation der Betriebe (Betrieb), die Zunahme von Jobrotation in den Unternehmen, die Verbreitung projektbezogener Teams, in denen die A. immer nur vorübergehend an bestimmten Aufgaben arbeiten, und der häufigere Arbeitgeberwechsel der Beschäftigten führe angesichts der hohen Bedeutung der Erwerbsarbeit für das Selbstverständnis dazu, dass sich Mentalitätslagen radikal änderten und den Menschen die Konstruktion einer eigenen Identität heute schwerer falle als früher.
6. Prekarisierung
Prekäre Beschäftigung bezeichnet einen Zustand, bei dem die materielle Lebensgrundlage eines A. trotz eines Beschäftigungsverhältnisses aktuell oder in Zukunft nicht gesichert ist. D. i. einerseits bei Stellen im Niedriglohnsektor der Fall, andererseits bei atypischer Erwerbstätigkeit, sofern das aktuelle Einkommen der Person insgesamt (also ggf. einschließlich anderer Einkommen) nicht auskömmlich oder ihre soziale Absicherung unzureichend ist. Neben Formen atypischer Beschäftigung, die arbeitsvertragsrechtlich vom Normalarbeitsverhältnis abweichen (Teilzeit- und befristete Stellen, Leiharbeit und geringfügige Beschäftigung) gibt es Formen der prekären Erwerbstätigkeit, bei denen der arbeitsrechtliche Status einer abhängigen Beschäftigung nicht gegeben ist (Werkverträge bzw. Lieferbeziehungen der Unternehmen mit Ich-AGs, Solo- oder Scheinselbständigen, Crowdworking). In den 1990er und 2000er Jahren ist in Deutschland die Zahl der Beschäftigten im Niedriglohnsektor und der atypisch Beschäftigten stark gestiegen; seitdem hält sie sich in etwa auf diesem Niveau (atypische Beschäftigung z. B. bei etwa 20 % der A.). Die mit prekärer Arbeit verbundene Ungerechtigkeit beschränkt sich nicht auf geringe Einkommen und unzureichende soziale Absicherung. Vielmehr erfüllt prekäre Arbeit auch die in Arbeitsgesellschaften der Erwerbsarbeit zugewiesene Aufgabe nicht, die Menschen als Gleiche unter Gleichen am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen: Das liegt zum einen an den häufig stigmatisierenden Sozialtransfers, mit denen die Beschäftigten (ggf. trotz Vollzeitstelle) ihr Einkommen aufstocken müssen, zum anderen daran, dass atypisch Beschäftigte arbeitsvertragsrechtlich eindeutig Erwerbstätige „zweiter Klasse“ sind. Hinzu kommt, dass die Präsenz der prekär Beschäftigten in den Betrieben (Betrieb) die übrigen A. ggf. verunsichert, ob ihre eigenen Arbeitsplätze in absehbarer Zeit nicht auch durch diese sehr viel kostengünstigere Form der Erwerbsarbeit ersetzt werden könnten.
7. Soziale Absicherung in der Arbeitnehmergesellschaft
Vor 20 Jahren äußerte die „Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Sachsen und Bayern“ die Hoffnung auf einen grundlegenden Strukturwandel der Wirtschaft weg von der arbeitnehmerzentrierten Industriegesellschaft hin zu einer primär von Selbständigen getragenen Innovations- und Wissensgesellschaft. In einer problematischen Gegenüberstellung charakterisierte sie A. als primär sozialstaatsorientierte, unmündige, mehr oder minder passive „Kopisten vorgegebener Blaupausen“ (Kommission für Zukunftsfragen 1997: 44), von denen sie unternehmerisch aktive, eigenständig vorsorgende, mündige und kreative Selbständige absetzte. Tatsächlich vergeben die Unternehmen heute häufiger Aufgaben an formell Selbständige – darunter nicht nur schlecht bezahlte Routinetätigkeiten, sondern auch Tätigkeiten mit hochspezialisierten Qualifikationsanforderungen. Dennoch wurden die Hoffnungen u. a. der Zukunftskommission enttäuscht; der Trend zur A.-Gesellschaft ist ungebrochen. Der Anteil der A. an der Bevölkerung insgesamt liegt aktuell deutlich über 40 %. Er ist v. a. aufgrund steigender weiblicher Erwerbspartizipation auch in den letzten 25 Jahren weiter gestiegen. Da 4/5 der A. sozialversicherungspflichtig und knapp 60 % vollzeitbeschäftigt sind, ist für die soziale Sicherheit nach wie vor die Integration in die an den A.-Status gekoppelten gesetzlichen Sozialversicherungen (Sozialversicherung) zentral und nicht die eigenständige Vorsorge der Gesellschaftsmitglieder. Allerdings ist hier aufgrund der skizzierten Veränderungsprozesse und arbeitsmarktpolitischen Entscheidungen das Niveau der Absicherung deutlich niedriger als früher. Die Probleme kumulieren in der Alterssicherung, wo in den nächsten Jahrzehnten ohne eine grundlegende Reform ein Großteil der verrenteten A. auf Grundsicherung angewiesen sein wird.
8. Arbeitnehmer der Kirchen
In Deutschland zählen die evangelische (EKD) und die katholische Kirche mit ihren Werken und Einrichtungen zu den wichtigsten Arbeitgebern (etwa 1,3 Mio. Mitarbeiter in 2012). Sie sind befugt, ihre Angelegenheiten weitgehend selbständig zu regeln. Bei den Anstellungsverträgen ihrer A. unterliegen sie keiner tarifvertraglichen Regelung. Positive gesetzliche Bestimmungen, die den Mitbestimmungsgesetzen, dem BetrVG und den Personalvertretungsgesetzen zu entnehmen sind und die gewerkschaftliche Betätigung ins Recht setzen, finden auf die „Religionsgemeinschaften und ihre karitativen und erzieherischen Einrichtungen unbeschadet der Rechtsform“ (§ 118 Abs. 2 BetrVG) keine Anwendung. Die Semantik der „Dienstgemeinschaft“, der „besonderen Verfasstheit“ und des „unverfügbaren Auftrags der Kirche“ camouflierte lange Zeit disparate Interessenlagen zwischen sog.en „Dienstgebern“ und „Dienstnehmern“ und ließ gewerkschaftliches Engagement z. B. in karitativen Einrichtungen (Caritas, Diakonie) der Kirche als unstatthaft erscheinen. Durch die Mitarbeitervertretungsordnung gaben sich die Kirchen eigene Mitbestimmungsregelungen. Da die Normen des individuellen Arbeitsrechts (Arbeitsvertragsrecht, Arbeitsschutzrecht) zu den „Schranken des für alle geltenden Gesetzes“ (Art. 137 Abs. 3 GG) gehören, ist diesbezüglich die staatliche Arbeitsgerichtsbarkeit mit der Rechtsprechung betraut. V. a. in karitativen Einrichtungen, die sich unter verschärften Konkurrenzdruck gestellt sehen, nimmt – in Kollision mit den eigenen sozialethischen Theorietraditionen – prekäre Erwerbsarbeit zu, wobei die meisten Einrichtungsleitungen durch Outsourcing die Verantwortung für diese Arbeitsplätze an andere Arbeitgeber zu delegieren suchen. In der neueren Rechtsprechung gibt es die Entwicklung, einen stärkeren Einbezug von Gewerkschaften in das Dienstgeber-Dienstnehmer-Verhältnis vorzuschreiben. Zudem wird bei einigen Loyalitätspflichten ein gewisser Trend zur Annäherung des kirchlichen an das allg.e Arbeitsrecht erkennbar.
Literatur
W. Schroeder: Nell-Breuning weitergedacht, in: B. Emunds/H. G. Hockerts (Hg.): Den Kapitalismus bändigen, 2015, 179–194 • R. Castel/K. Dörre (Hg.): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung, 2009 • H. J. Pongratz/G. G. Voß: Arbeitskraftunternehmer, 2003 • F. Kleemann/I. Matuschek/G. G. Voß: Subjektivierung von Arbeit, in: M. Moldaschl/G. G. Voß (Hg.): Subjektivierung von Arbeit, 2002, 53–100 • H. Ludwig/K. Gabriel (Hg.): Gesellschaftliche Integration durch Arbeit, 2000 • R. Sennett: Der flexible Mensch, 1998 • Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen: Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland, T. 3, 1997 • U. Mückenberger: Die Krise des Normalarbeitsverhältnisses, in: ZSR 31 (1985), 457–475 • O. von Nell-Breuning: Unternehmensverfassung, in: Mitteilungen. Akademie der Arbeit in der Universität Frankfurt am Main, NF 34 (1983), 17–20 • G. Briefs: Das gewerbliche Proletariat, in: ders.: Ausgewählte Schriften, Bd. 1, 1980, 211–351 • O. von Nell-Breuning: Mitbestimmung – wer mit wem?, 1969.
Empfohlene Zitierweise
B. Emunds, J. Hagedorn: Arbeitnehmer, II. Sozialethik, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Arbeitnehmer (abgerufen: 22.11.2024)