Staat und Gesellschaft
I. Rechtswissenschaftlich
Abschnitt drucken1. Begriff
Das Begriffspaar „Staat (S.) und Gesellschaft (G.)“ bezeichnet eine spezifische Ordnungsstruktur moderner Staatlichkeit. S. meint das territorial radizierte politische Gemeinwesen, in dem die hoheitliche Herrschaftsgewalt konzentriert und verfassungsrechtlich begrenzt ist. G. steht demgegenüber für den Inbegriff des freien, pluralistischen Spektrums zwischenmenschlichen Zusammenwirkens politischer, ökonomischer oder kultureller Provenienz. Insofern umschreibt das Begriffspaar S. und G. den Spannungsbogen von staatlicher Herrschaft und gesellschaftlicher Freiheit, die sich jenseits staatlicher Herrschaftsgewalt bildet und von dieser ebenso ermöglicht wie geschützt wird.
Dem Dualismus von S. und G. kommt keine universale oder kategoriale Bedeutung zu. Seine Entstehung ist historisch-kontingentes Derivat der europäischen Entwicklung der Neuzeit, die ihre begriffliche Verdichtung nur im deutschen Sprachraum fand. Dort prägte und präformierte das Begriffspaar S. und G. das verfassungsrechtliche Denken sowie die Verfassungstexte in Deutschland seit dem frühen 19. Jh. Die Unterscheidung von Hoheitsgewalt und Freiheit, von Herrschaft und individueller Selbstbestimmung, von Demokratie und Privatheit bestimmt bis heute als regulatives Prinzip wie als verfassungsrechtliches Theorem die Wirklichkeit des freiheitlich verfassten Gemeinwesens.
2. Geschichte
a) Die Unterscheidung von S. und G. thematisiert die sich seit der Reformation allmählich ausbildende neue Grundstruktur politisch-sozialer Ordnung, die aus dem Prozess der „Entzweiung“ resultierte. Aus der alten, in sich homogenen, herrschaftlich-politisch durchformten und ständisch geschichteten societas civilis bildete sich einerseits der S. heraus, der nach und nach alle hoheitlichen Befugnisse bei sich konzentrierte und monopolisierte. Andererseits entwickelte sich die aller eigenen Herrschaftsfunktionen entkleidete unpolitische G., die – aus ständischen Bindungen (Stand) befreit – zur eigenen, interessegeleiteten Tätigkeit im Rahmen der allg.en Rechtsordnung freigesetzt wurde. Diese staatsfreie und unpolitische Freiheit zur individuellen Selbstentfaltung gründete sich auf den Prinzipien der Rechtsgleichheit, Erwerbsfreiheit, der Privatautonomie sowie der Garantie des Eigentums und entfaltete sich allmählich in allen gesellschaftlichen – ökonomischen, sozialen, politischen, religiösen, kulturellen – Sphären. Eine erste theoretische Durchdringung dieser Entwicklung und deren begriffliche Verdichtung zum Theorem von S. und G. verdankt sich Georg Wilhelm Friedrich Hegel.
b) Während des 19. Jh. blieb in Deutschland der Dualismus von S. und G. die maßgebliche Begrifflichkeit zur Analyse und verfassungspolitischen Beurteilung der politisch-sozialen Wirklichkeit. S. und G. wurden als eigene, einander gegenüberstehende, voneinander weithin unabhängige Sachbereiche aufgefasst, die von bestimmten Schichten der Bevölkerung wahrgenommen wurden: Den S. bildeten Krone, Beamtenschaft (Beamte), Militär und teilweise Adel, zur staatsfreien G. gehörten das Handel und Gewerbe treibende Bürgertum (Bürger, Bürgertum), die Bauern, die aufkommende Arbeiterschaft sowie die Vertreter von Kultur, Wissenschaft und Kunst. In dieser Gestalt schien das Trennungstheorem von S. und G. so selbstverständlich, dass es als positive Gegebenheit und kategoriale Unterscheidung einfach vorausgesetzt und kaum noch begründet wurde. Im 20. Jh. ließ indes die Demokratisierung des politischen Systems und die Entwicklung zum interventionistischen Sozialstaat die Annahme prinzipieller Trennung und Autonomie von S. und G. fragwürdig werden.
c) Mit dem Übergang zur Demokratie wurde der S. zur politischen Selbstorganisation der G. Die Annahme eines gleichwohl weiterbestehenden Dualismus von S. und G. wurde damit fragwürdig. Die Indienstnahme des S.es durch die G., d. h. die Vergesellschaftung des S.es, schien die vorausgesetzte symmetrische Polarität beider Sphären aufzuheben: Der S. wurde zu einer Funktion der G. Ein Indiz dafür bildete die immer weiter ausgreifende staatliche Vorsorge für die Realisierung rechtlicher Freiheit, sozialer Sicherheit, wirtschaftlichen Wachstums (Wirtschaftswachstum) und der Steigerung des Lebensstandards. Was der Sache nach Aufgabe der in Freiheit gesetzten G. hätte sein müssen, mutierte zu einer Staatsaufgabe. Indem die G. derart für die Folgen ihrer autonom getroffenen Entscheidungen (z. B. Tarifabschlüsse) kaum mehr einstehen musste und die Verantwortung auf den S. verlagern konnte, geriet die vorausgesetzte Symmetrie von S. und G. in Zweifel.
Tatsächlich ist die in Freiheit gesetzte und sich entfaltende G. unter den Bedingungen der Moderne nur noch in Grenzen selbstregulierungsfähig. Die soziale Ordnungs- und Regulierungsaufgabe des S.es in der Demokratie führt notwendig zu einem verstärkten Zusammenwirken von S. und G., zu gesellschaftlicher Einflussnahme auf staatliche Entscheidungen auch jenseits von Wahlen sowie zu wachsender staatlicher Indienstnahme gesellschaftlicher Ressourcen. Doch auch in diesem Kontext bleibt die Polarität von S. und G. als normativ wie real wirksames Ordnungsprinzip erhalten. Auch der demokratische S. ist nicht davon freigestellt, sein politisches Handeln auf das allg.e Interesse auszurichten, Partikularinteressen (Interessen) zu integrieren und gemeinwohlgerecht zu transzendieren. Staatliches Handeln muss repräsentatives Handeln für alle Bürger sein und bleiben; es muss als politische Organisation die Einheit der Bürger darstellen und wirklich werden lassen. Das erfordert neben durch Wahlen vermittelte Legitimation auch inhaltliche (demokratische) Repräsentation, deren Bezugspunkt der S. als eine Partikularinteressen übergreifende, zu verbindlicher Entscheidung befugte Organisation ist. Diesem kommt die Aufgabe zu, die freiheitliche Rahmenordnung zu gewährleisten, Freiheitsgefährdungen aus dem gesellschaftlichen Bereich entgegenzuwirken, um die Integrationskraft der G. (das „Wir“) und damit auch die Einheit des S.es zu erhalten. Käme repräsentatives Handeln der staatlichen Organe in diesem Sinn nicht (mehr) zustande, denaturierte der S. zur beliebig instrumentalisierbaren Hohlform der politischen Umsetzung gesellschaftlicher Macht: vom Gegenspieler der G. mutierte er zum Agenten der sich total setzenden G.
d) Die Vergesellschaftung des S.es findet ihr Pendant im Phänomen der Verstaatlichung der G. als Folge der tendenziell unbegrenzten Ausdehnung der Regulierungs- und Interventionsmacht des S.es gegenüber der G. Der Initiativ- und Entfaltungsraum individueller und gesellschaftlicher Freiheit wird mit einem immer dichter geknüpften Netzwerk materieller Verrechtlichung und vorsorgenden Kontroll- und Eingriffsbefugnissen überzogen. In der Folge bleiben die Bürger nur mehr formell frei, werden aber in der Sache Funktionsträger und Pflichtsubjekte eines umfassend agierenden staatlichen Handlungs- und Vorsorgesystems in immer mehr gesellschaftlichen Bereichen „von der Wiege bis zur Bahre“.
Eine derartige Verstaatlichung der G. könnte in der Logik der Entwicklung gleichfalls der symmetrisch angelegten Polarität von S. und G. die reale Grundlage entziehen. Doch haben sich die Befürchtungen einer Überwältigung der G. durch den interventionistischen S. bis heute nicht bewahrheitet. V. a. stößt der sozialstaatliche Interventions- und Verwaltungs-S. aufgrund der wachsenden Komplexität der Lebensverhältnisse als Steuerungsinstrument (Steuerung) an die Grenzen seiner Wirksamkeit und muss sich zunehmend auf die rechtliche Steuerung von Selbstregulierungsprozessen beschränken (z. B. Regulierungsverwaltungsrecht). Die Unvermeidlichkeit des arbeitsteiligen Zusammenwirkens von S. und G. wirkt daher auch unter den modernen Gegebenheiten eher stabilisierend für diese begriffliche Unterscheidung.
3. Funktion
a) Die Unterscheidung von S. und G. bringt die einzelnen Bürger und die politische Gemeinschaft in ein polares Beziehungsverhältnis. In diesem Verhältnis wird die Subjektstellung und Freiheit der einzelnen als dem S. grundsätzlich vorausliegend gedacht, zugl. aber die Eigenständigkeit und Notwendigkeit einer einheitlichen hoheitlichen Gewalt anerkannt, die über das Monopol legitimer Gewaltanwendung (Gewaltmonopol) verfügt. Diese polare Struktur des Gemeinwesens findet im freiheitlichen Verfassungs-S. ihre normative Gestalt und behält damit ihre theoretische Valenz und praktische Wirkmächtigkeit. Mit seiner demokratischen sowie grundrechtlichen Legitimationsquelle verwirklicht der freiheitliche Verfassungs-S. die normative Idee der Unterscheidung von S. und G. auch unter den Bedingungen der Moderne. Rechtstechnisch realisiert sie sich in Gestalt des rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips, wonach die Freiheit des Bürgers als dem S. vorausliegend gedacht wird, während der S. für alle Eingriffe in die Freiheit des Bürgers einer Rechtfertigung bedarf.
b) Die Unterscheidung von S. und G. wird auch in der Demokratie nicht funktionslos, sondern entfaltet gerade in ihr ihre freiheitssichernde Funktion. Die Idee der Freiheit differenziert sich aus in die politische Freiheit der Mitwirkung und Mitbeteiligung aller Bürger an den Entscheidungen der S.s-Gewalt einerseits und die grundrechtliche (bürgerliche) Freiheit der einzelnen vor Zugriffen der S.s-Gewalt andererseits. Dieses Zusammenwirken der demokratischen und grundrechtlichen Freiheitsidee sichert auch unter den Bedingungen der komplexen und ausdifferenzierten G. der Gegenwart reale Freiheit. Unter Berufung auf den demokratischen Charakter des S.es die Freiheitsidee allein auf die demokratische Mitwirkungsfreiheit (Partizipation) der Bürger zu reduzieren, führte zu einer totalitären Demokratie (Totalitarismus), in der alle über alles beschließen können (Jean-Jacques Rousseau).
c) Der Verfassungs-S. ist seinem Wesen nach begrenzter, sektoraler S. Er sucht nicht die G. in ihrer Ganzheit zu erfassen, sondern nur in bestimmten Beziehungen. Um der Freiheit seiner Bürger willen bildet er nur eine sektorale, eine politische Einheit. Der Verfassungs-S. respektiert die eigengesetzlichen Lebensbereiche der G., erkennt ihnen Autonomie zu und behält sich nur begrenzte Einwirkungsbefugnisse vor. Dem Individuum öffnet der S. in den Grundrechten die Freiheit, die sich in den verschiedenen Räumen des Privaten und der Familie, des Berufs und der Freizeit, des kirchlichen, kulturellen, politischen Lebens realisieren. Die Differenziertheit und relative Eigenständigkeit der Lebensbereiche ermöglicht zivilisatorische Gewaltenteilung. Nicht im S. allein stellt sich heute die Einheit der Lebenswelt dar, sondern in den Menschen, die sich ihrer Individualität gemäß in den verschiedenen Lebensbereichen entfalten. Der Pluralismus der gesellschaftlichen Vielfalt erweist sich als Einheits- und Ordnungsprinzip wider Willen.
d) Im Raster von S. und G. ist die G. der Ort für Religion, Kultur und Wirtschaft, die allerdings ausschließlich vom S. konstituiert werden: negativ dadurch, dass sie nicht zu seinen Institutionen gehören, positiv dadurch, dass sie die persönliche und sachliche Reichweite staatlicher Herrschaftsbeziehungen normieren. Der freiheitliche Verfassungs-S. findet seine rechtliche Identität daher weder in einer Religion noch in einer S.s-Kultur oder gar in einer S.s-Wirtschaft. Die nach Jacob Burckhardt nichtstaatlichen „Potenzen“ Religion, Kultur und Wirtschaft bilden nicht das staatlich Allgemeine, sondern das Besondere der G.
e) Allerdings schützt und gewährleistet der S. die Religionsfreiheit und die Freiheit der Kindererziehung (Elternrecht), die Wissenschaftsfreiheit und Kunstfreiheit, die Berufsfreiheit und die Freiheit des Eigentums sowie Tarifautonomie grundrechtlich. Damit kann sich das geistige und wirtschaftliche Leben nach eigener Sachgesetzlichkeit in Freiheit entfalten. Aus den Grundrechten fließt eigenständige verfassungsrechtliche Legitimation, die sich wesenhaft unterscheidet von der demokratischen Legitimation, die der S.s-Gewalt aus dem Willen des Volkes zukommt. Während die Demokratie die staatliche Ordnung aus der Bürgerschaft hervorgehen lässt, sichern die Freiheitsgrundrechte Bereiche des Unabstimmbaren sowohl gegen die staatliche Mehrheitsdemokratie als auch gegen eine staatlich verfügte „Demokratisierung“ gesellschaftlicher Bereiche, kraft deren individuelle Selbstbestimmung durch Mitbestimmung im Kollektiv abgelöst würde.
f) Der S. ist freilich Destinatär von Religion, Kultur, Wirtschaft, deren Lebenskräfte aus der freien G. kommen: Intuition, Kreativität und Wagnis, Religion und Moralität, Sprache und Kultur, Wirtschaftsmentalität und ethische Standards prägen in ihren spezifischen, eigentümlichen Kombinationen die nationale Besonderheit und Identität des konkreten S.es (Nation). Daher versteht sich der S. bewusst auch als Kultur- und Sozial-S. Er setzt die kulturellen und wirtschaftlichen Potenzen voraus und respektiert ihre Freiheit als vorgegeben, wenn er im Rahmen seiner begrenzten Befugnisse diese anregt, pflegt, fördert, organisiert, schulische Erziehung (Schule) leistet, rechtliche Rahmenbedingungen schafft, und wenn er um des Gemeinwohls willen in das Marktgeschehen (Markt) interveniert und dessen Resultate nach seinen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit korrigiert. So lebt der S. zu weiten Teilen aus Voraussetzungen, über die er um der Freiheit willen nicht verfügen kann (Ernst-Wolfgang Böckenförde). Zwischen S. und G. besteht daher kein Gegensatz, wie er sich in altliberaler Sichtweise des 19. Jh. darstellte, sondern vielmehr ein polares Zuordnungsverhältnis.
4. Entwicklungen
Im 21. Jh. stellen zwei Entwicklungen die Erklärungskraft der Unterscheidung von S. und G. vor neue Herausforderungen: Eine zunehmend globalisierte Wirtschaft sowie eine entspr.e multilaterale politische Ordnung könnten ebenso wie die grenzenlose Digitalisierung aller Lebensbereiche der vorausgesetzten und im S. zu effektiver Wirklichkeit gewordenen symmetrischen Polarität von S. und G. die reale Grundlage entziehen.
a) Schon immer haben gesellschaftliche Freiheit und Organisationen personale und territoriale S.s-Grenzen (Staatsgebiet) überwunden. Information und Kommunikation, Wissenschaft und Kunst, rechtliche und wirtschaftliche Beziehungen, gewerkschaftliche Solidarität enden nicht an den S.s-Grenzen. Doch im Zeitalter der Globalisierung sind die nichtstaatlichen Potenzen quantitativ wie qualitativ in einem Maße permeabel und weltoffen geworden, dass die im Theorem von S. und G. vorausgesetzte sektorale Machtüberlegenheit des an sein Territorium gebunden bleibenden S.es fragwürdig wird. Die Symmetrie im Verhältnis von S. und G. ist ferner dadurch gefährdet, dass sich viele politische Probleme und Herausforderungen heute nicht mehr im staatlichen Kontext allein lösen lassen. International vernetzt organisierte Wirtschaftsunternehmen (Unternehmen) ebenso wie NGOs entziehen sich zunehmend staatlicher Regulierung und können S.en gegeneinander ausspielen (Steuerwettbewerb). In der Folge droht der S. vom Gegenspieler der globalen G. zum machtlosen Zuschauer zu mutieren. Die politische Antwort auf das Dilemma zunehmender „Entstaatlichung“ der G. war die Hinwendung zum politischen Multilateralismus zu Beginn des 21. Jh., der zwar einerseits kollektive staatliche Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit wieder ermöglichte, freilich auf Kosten der Eigenständigkeit und Souveränität des nationalen S.es. In den G.en der freiheitlichen Verfassungs-S.en hat sich gerade insoweit erheblicher Widerstand angestaut, dessen Ziel in einer Wiederherstellung der Kongruenz von S. und G. gedeutet werden kann („Brexit“). Doch wollte ein S. seine souveräne Bestimmungsmacht insoweit frei von multilateraler Einbindung durchsetzen, müsste er gleichzeitig auf die ökonomischen Vorteile weltweit vernetzter Wirtschaftsräume verzichten. Ob die Völker (die G.) dazu auf Dauer wegen absehbarer Wohlstandsverluste bereit sein werden, ist derzeit offen. Die G. steht mithin im Spannungsfeld der unangenehmen Alternative von politischer Selbstbestimmung oder partieller Unterwerfung unter Formen internationaler Zusammenarbeit und deren Sachzwänge.
b) Die seit den 1980er Jahren breitenwirksam sich entwickelnde Digitalisierung aller Lebensbereiche schien zunächst eine Emanzipation des Individuums von staatlicher Ingerenz mit sich zu bringen. Die Symmetrie von S. und G. schien sich zu Lasten des S.es zu verschieben. Der einzelne Bürger war weltweit und grenzenlos vernetzt, wurde autonom und souverän gegenüber dem S., der insoweit seine Herrschaftsmacht über seine Bürger zu verlieren droht. Doch scheint sich diese Schwächung staatlicher Souveränität als Folge der Digitalisierung als eine nur vorübergehende zu erweisen. In immer größerem Maße vermag der S. technisch Grenzen der weltweit vernetzten, freien und unkontrollierten Kommunikation zu setzen und durch entspr.e Regulierungen zu kontrollieren und zu verhindern. Was als Befreiung des Individuums erschien, verwandelt sich unversehens in eine massive Machtkonzentration und -steigerung des S.es, dem der einzelne Bürger in elementarer Machtlosigkeit gegenübersteht. Die Digitalisierung führte dann weniger zu einer Emanzipation der G. in eine politische Grenzen transzendierende Sphäre, als vielmehr zu einer beispiellosen Steigerung des staatlichen Machtpotentials über die G. Insoweit könnten diese faktischen Machtverhältnisse im Bereich des Digitalen das Verhältnis von S. und G. zu Lasten der G. unterlaufen und die verfassungsrechtlichen Freiheitsgarantien weithin leerlaufen lassen.
Literatur
H. H. Rupp: Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: HStR, Bd. 2, 32004, 879–928 • E.-W. Böckenförde: Staat und Gesellschaft, in: StL, Bd. 5, 71995, 228–235 • N. Luhmann: Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: ders. (Hg.): Soziologische Aufklärung, Bd. 4, 21994, 67–73 • P. Pernthaler: Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 1986 • P. Koslowski: Gesellschaft und Staat, 1982 • E.-W. Böckenförde (Hg.): Staat und Gesellschaft, 1976a • Ders.: Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976b • H. Krüger: Allgemeine Staatslehre, 1964 • J. Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, 1949 • G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821.
Empfohlene Zitierweise
O. Depenheuer: Staat und Gesellschaft, I. Rechtswissenschaftlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Staat_und_Gesellschaft (abgerufen: 22.11.2024)
II. Politikwissenschaftlich
Abschnitt druckenMit der begrifflichen Verbindung von Staat (S.) und Gesellschaft (G.) wird zum einen die Unterscheidbarkeit beider Formen spezifisch organisierter menschlicher Vereinigungen thematisiert, zum anderen das Problem ihres Verhältnisses zueinander aufgeworfen. Der Dualismus besagt allg., dass die G. eine öffentliche außerpolitische Realität sei, die sich weder über ihr politisches Selbstverständnis identifiziert noch politische Herrschaft einschließt, sich aber (teilweise) über eigene Gesetzmäßigkeiten koordiniert. Der moderne S. als Gegenpart zur G. wird als genuin politische Einheit aufgefasst; er übt Herrschaftsgewalt mit je nach Theoriemodell unterschiedlicher Zweckbestimmung für die G. aus. Ob und inwiefern die Unterscheidung theoretisch sinnvoll und berechtigt ist, ist umstritten.
1. Ideenhistorisch
Der alte Begriff der societas civilis ( politikē koinōnia/„bürgerliche G.“ im nicht-modernen Sinn), drückt noch die Nichtunterscheidung von S. und G. aus. „Der griechisch-römischen Städtewelt bleibt die moderne Trennung von Staat und Gesellschaft unbekannt“ (Riedel 2011: 17). Dieser politisch-soziale Einheitsbegriff hat das klassische politische Denken seit Aristoteles wie das Naturrechtsdenken (Naturrecht) bis ins 18. Jh. hinein geprägt. Ideenhistorisch hat v. a. Georg Wilhelm Friedrich Hegel die Unterscheidung von S. und (bürgerlicher) G. in einem geschichtlich spezifischen Sinn in seine Rechtsphilosophie eingeführt und damit einer Differenzierung der modernen politisch-sozialen Wirklichkeit philosophisch Ausdruck verliehen, welche die neuzeitliche Konzentration der Herrschaftsgewalt in der Entstehung des S.es zur Voraussetzung hatte und auf der Emanzipation des Bürgertums (Bürger, Bürgertum) beruhte. Mit der Gegenüberstellung der bürgerlichen G., verstanden als „System der Bedürfnisse“ (Hegel 1979: 346), und dem S. als Wirklichkeit der sittlichen Idee sollte die freie (außerpolitische) Betätigung der Bürger in der G. zugl. in ihrer Vielfalt und ihrem Eigenrecht anerkannt wie auch zum Ausdruck gebracht werden, dass diese Freiheit(en) ihren Ausgleich, ihre politische Organisation und sittliche Vertiefung im S. finden. Die G. sollte damit weder schlechthin der Macht eines autoritären S.es unterworfen, noch sich allein und den von ihr selbst erzeugten Widersprüchen (etwa einer Spaltung in arm und reich) überlassen werden.
2. Problematisierungen
In Frage gestellt wird die mit dem Begriffspaar getroffene Unterscheidung insb. seit der zweiten Hälfte des 20. Jh. v. a. aus fünf Gründen:
a) Demokratietheoretisch: Mochte der Dualismus im 19. Jh. angesichts monarchischer Regierungsformen noch eine gewisse Berechtigung gehabt haben, so verliert er diese in demokratischen. Denn als demokratisch regierter bildet der S. kein losgelöstes, autoritär-obrigkeitliches Gegenüber zur G. (etwa verkörpert in Monarchie, Adel, Militär und Beamtenapparat [ Beamte ]), sondern eine politische Ordnungsform aus der Selbstorganisation und -bestimmung der G. heraus. In der überkommenen Gegenüberstellung von S. und G. scheinen sich lediglich die Überreste einer obrigkeitlichen deutschen S.s-Auffassung sowie der historischen Malaise eines unpolitischen Bürgertums erhalten zu haben.
b) Staatstheoretisch: Für eine materialistische S.s-Theorie blieb der bürgerliche S. ein Reflex der kapitalistischen G. (Kapitalismus), dem keine Eigenständigkeit attestiert werden sollte, oder er wurde in seiner wohlfahrtsstaatlichen Ausprägung (Wohlfahrtsstaat) als stabilisierender Reparaturbetrieb und „Lückenbüßer im kapitalistischen Gesellschaftssystem“ gedeutet (Anter/Bleek 2013: 52). Nach liberaler Auffassung (Liberalismus) mochte die Unterscheidung von S. und G. im 19. Jh. aufgrund vergleichsweise beschränkter staatlicher Tätigkeit noch sinnvoll gewesen sein. Im Zuge der erheblichen Ausweitung der S.s-Tätigkeit im 20. Jh., insb. mit der Entwicklung zum modernen demokratischen Sozialstaat, habe sich das indes geändert. Ausmaß staatlicher Interventionen und umfassende Einflussnahme auf gesellschaftliche und ökonomische Prozesse ließen die „staatsfreien“ gesellschaftlichen Räume schrumpfen.
c) Zugl. gilt umgekehrt, dass auch die Einflussnahme gesellschaftlicher und ökonomischer Akteure und Interessengruppen auf die sachlich entgrenzte staatliche Willensbildung erheblich zugenommen hat. Die Ausweitung der S.s-Tätigkeit wie auch deren gesellschaftlich-ökonomische Programmierung lassen die Trennung von S. und G. anachronistisch erscheinen. Theoretisch reflektiert wird die Vereinnahmung des S.es durch die G. in G.s-Theorien des S.es (Niklas Luhmann, Helmut Willke), in denen der S. zur bloßen Formel der Selbstbeschreibung des politischen Systems reduziert wird (Systemtheorie). Seit den 1980er Jahren scheint die Unterscheidung beider in Folge von Schwächesymptomen des S.es weiter an Triftigkeit eingebüßt zu haben.
d) Denn die Ausweitung seiner Tätigkeit im 20. Jh., verbunden mit gestiegenen Erwartungen an ihn, dgl. die zunehmende Komplexität gesellschaftlicher Handlungszusammenhänge und Steuerungsanforderungen führten zum „überforderten Staat“ (Ellwein/Hesse 1994). Als Gegenbewegung wurde vermehrt auf die Selbstregulierung der G. durch den Markt vertraut (Neoliberalismus); an die Stelle staatlichen Regierens durch hierarchische Steuerung (government) sind Mischformen von governance als kollektive Steuerungs- und Koordinierungsformen in Politik, Wirtschaft und G. zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben getreten.
e) Hinzu kamen Einschränkungen der Handlungsfähigkeit des S.es und folglich ein Bedeutungsverlust von Staatlichkeit im Prozess der Denationalisierung und Globalisierung. Beides ließ sich bis zur These vom Ende des S.es zuspitzen, womit auch der Dualismus von S. und G. obsolet würde. Schwächere Varianten der S.s-Skepsis sprechen von Zerfaserung der Staatlichkeit oder einem Wandel zum kooperativen S. bzw. „Gewährleistungsstaat“ (Schuppert 2005). Jedenfalls soll sich die Vorstellung eines souveränen (Souveränität), hoheitlich agierenden S.es als einer hierarchisch (Hierarchie) über der G. waltenden Willens-, Entscheidungs- und Wirkeinheit bzw. Ordnungsmacht als nicht mehr zeitgemäß erweisen.
Gleichwohl lässt sich aus mindestens sechs Gründen von einer „Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft“ (Vogel 2007) sprechen, so dass der Dualismus seine theoretische Bewandtnis behält. Ferner hat sich eine veränderte Konstellation der Gegenüberstellung von S. und G. etabliert, so dass die des Anachronismus verdächtige Unterscheidung aus dem 19. Jh. weiterhin relevant bleibt.
3. „Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft“
a) Die netzwerkartigen Governance-Mechanismen horizontaler kollektiver Steuerung und Koordinierung in Politik, Wirtschaft und G. erfolgen noch „im Schatten der Hierarchie des Staates“ (Benz/Dose 2010: 22). Die S.en bleiben „die bei Weitem wichtigsten politischen Akteure innerhalb ihrer eigenen Territorien“ (Skinner 2012: 86). Auch der kooperative oder Gewährleistungs-S. trägt eine politische Letztverantwortung, übernimmt Regulierungen und schafft eine Ordnung, welche die G. im Wettbewerb freier Selbstorganisation nicht hervorbringt.
b) Dem korrespondiert, dass auch wenn weitere gemeinwohlverantwortliche gesellschaftliche Akteure in der politischen Arena agieren (soziale Bewegungen; NGOs) weniger von diesen als von den staatlichen Akteuren normative Verpflichtung auf das Gemeinwohl bei der Erfüllung gemeinsamer Zwecke oder der Verfolgung öffentlicher Interessen erwartet werden kann.
c) Auch sind es die staatlich-politischen Akteure, die in demokratischen Regierungsformen über ausdrückliche demokratische Legitimation verfügen. Sie gewährleisten mithin, dass Governance den Maßstäben demokratischer Repräsentation gerecht wird, da diese nicht durch eine etwaige Effizienz kooperativen, öffentlich-privaten Zusammenwirkens aufgewogen oder ersetzt werden können. Zudem sprechen die drei normativen Leitideen moderner demokratisch regierter staatlicher Ordnungen (Gleichheit, Freiheit, Sicherheit) für eine Beibehaltung einer dualistischen Auffassung von S. und G.
d) Wie schon in G. W. F. Hegels urspr.er Unterscheidung anerkannt, führt der Gebrauch individueller Freiheit bei allein gesellschaftlichen Formen der Selbstregulierung insb. über den Markt, aber auch aufgrund der Inanspruchnahme unterschiedlichen Sozialkapitals zur Zunahme sozialer Ungleichheit bzw. zu sozialer Spaltung etwa zwischen Arm und Reich, Alt und Jung. Die G. bedarf daher einer politischen Form, welche die partikularen Interessen übersteigt sowie die unterschiedlichen Machtressourcen ihrer Mitglieder reguliert und ausbalanciert.
e) Die Unterscheidung von S. und G. kann ferner als Bedingung individueller Freiheit verstanden werden, indem sie organisatorisch bewirkt, dass gesellschaftliche Macht sich nicht unmittelbar in politische Macht umsetzt. Würde darüber hinaus unter dem Leitmotiv der Demokratisierung die Unterscheidung zwischen S. und G. aufgehoben, dann mag im Zeichen einer „politischen Gesellschaft“ (Greven 1999), in der potentiell alles kontingent erscheint (Kontingenz) und mithin zum Gegenstand politischer Entscheidung gemacht werden kann, der Bürger an demokratischer Mitwirkungsfreiheit (Partizipation) nur gewinnen, was er in jedem Falle an persönlicher Freiheit dem sachlich entgrenzten demokratischen Entscheidungsprozess gegenüber verliert.
f) Schließlich ist der S. die unverzichtbare Instanz, von dem angesichts einer zunehmenden Bedrohungslage komplexer moderner Risikogesellschaften noch Sicherheitsgewährleistungen für alle zu erwarten sind. Insoweit erweist sich das vermeintliche Verschwinden des S.es letztlich als „Folge einer Wahrnehmungsstörung“ (Anter/Bleek 2013: 10), ist die These von der „S.s-Bedürftigkeit der G.“ zutreffend, und die Unterscheidung von S. und G. theoretisch belangvoll.
4. Staat – Zivilgesellschaft
Während in westlichen Demokratien die Gegenüberstellung von S. und G. zu verblassen schien, formierte sich zunächst in den Bürgerrechtsbewegungen mittel- und osteuropäischer Länder seit den 1970er Jahren – unter dem Begriff der civil society (Zivilgesellschaft) – eine Gegenmacht zum autoritären sozialistischen S. Verstanden wurde darunter „ein Netz selbständiger, vom Staat unabhängiger Vereinigungen, die die Bürger in gemeinsam interessierenden Dingen miteinander verbanden und die durch ihre bloße Existenz oder Aktivität Auswirkungen auf die Politik haben konnten“ (Taylor 2002: 64). Als Inbegriff spontaner bürgerlicher Selbstorganisation, öffentlicher Kommunikation und gemeinsinnorientierten bürgerschaftlichen Engagements mit der Fähigkeit zur Beeinflussung politischer Willensbildung stellt die Zivil-G. auch in demokratischen Regierungsformen einen wirksamen sozialen Faktor politischer Kontrolle dar und übt Einfluss sowohl auf staatliches Handeln aus als auch auf die stärker formalisierten Verflechtungsstrukturen des Korporatismus oder der öffentlich-privaten Kooperationen i. S. moderner Governance. Im Unterschied zum früheren Dualismus von S. und G. hebt der zivilgesellschaftliche Widerpart zum S. allerdings nicht primär auf Formen freier ökonomischer Selbstbetätigung der Bürger ab, sondern auf einen genuinen politischen Gestaltungsanspruch. Der Dualismus von S. und bürgerlicher (Markt-)G. wird um die politische Zivil-G. erweitert.
Literatur
A. Anter/W. Bleek: Staatskonzepte. Die Theorien der bundesdeutschen Politikwissenschaft, 2013 • Q. Skinner: Die drei Körper des Staates, 2012 • M. Riedel: Bürgerliche Gesellschaft. Eine Kategorie der klassischen Politik und des modernen Naturrechts, 2011 • A. Benz/N. Dose: Governance – Modebegriff oder nützliches sozialwissenschaftliches Konzept?, in: dies. (Hg.): Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen, 22010, 13–36 • B. Vogel: Die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft, 2007 • G. F. Schuppert (Hg.): Der Gewährleistungsstaat. Ein Leitbild auf dem Prüfstand, 2005 • C. Taylor: Die Beschwörung der Civil Society, in: ders. (Hg.): Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie?, 2002, 64–92 • A. Klein: Der Diskurs der Zivilgesellschaft, 2001 • M. T. Greven: Die politische Gesellschaft, 1999 • T. Ellwein/J. J. Hesse: Der überforderte Staat, 1994 • H. Ottmann: Bürgerliche Gesellschaft und Staat bei Hegel. Überlegungen zur Logik ihrer Vermittlung, in: HegelJ (1986), 339–347 • G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders. (Hg.): Werke, Bd. 7, 1979 • E.-W. Böckenförde: Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, 1973.
Empfohlene Zitierweise
D. Lüddecke: Staat und Gesellschaft, II. Politikwissenschaftlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Staat_und_Gesellschaft (abgerufen: 22.11.2024)
III. Sozialethisch
Abschnitt druckenDie neuzeitliche, auf Lorenz von Stein zurückgehende und von Georg Wilhelm Friedrich Hegel erstmals theoretisch ausgearbeitete Unterscheidung von Staat (S.) und Gesellschaft (G.), stellt den S. als neutrale übergeordnete Instanz, als dem Gemeinwohl verpflichteten Schiedsrichter, den sich widerstreitenden Partikularinteressen (Interesse) der Bürger in der G. gegenüber. Die Unterscheidung hat in demokratischen G.en, in denen sich das Staatsvolk als die Instanz versteht, die sich eine Verfassung und entspr. dieser Regeln eine Regierung selbst gibt (Volkssouveränität), an Schärfe verloren. Unter totalitären oder autoritären Regimen (Totalitarismus) kann, ja soll es jedoch durchaus einen Gegensatz zwischen beiden geben. Wo der S. zudem – auch um des Gemeinwohls und insb. um der Bereitstellung öffentlicher Güter willen – in wirtschaftliche Prozesse massiv eingreift, für sozialen Ausgleich sorgen soll, auf Grund seiner Verantwortung für Bildung auch auf die Entwicklung von Werten Einfluss nimmt und umgekehrt gesellschaftliche Gruppen und Organisationen auf vielfältige Weise staatliches Handeln zu beeinflussen versuchen, lässt sich jedenfalls ein strenger Dualismus von S. und G. nicht mehr aufrecht erhalten. Trotzdem ist die Unterscheidung nicht obsolet, geht es doch darum, einerseits die Notwendigkeit des staatlichen Gewaltmonopols und der für alle verpflichtenden Regulierung gesellschaftlicher Prozesse anzuerkennen, andererseits aber auch die Freiheit und Subjektivität der Bürger und ihrer Organisationen zu sichern. Die damit zusammenhängenden Fragen werden heute eher unter dem Begriff „Zivil-G.“ und mit Blick auf deren Verhältnis zur Regierung und den politischen Prozessen verhandelt.
1. Kirchliche Sozialverkündigung und Sozialethik
Wegen ihrer v. a. auf Thomas von Aquin zurückgehenden traditionellen Bindung an eine kulturell und religiös homogene und von einer göttlich legitimierten Gewalt regierten „politischen Gemeinschaft“ und verstärkt durch institutionelle Eigeninteressen insb. des Kirchen-S.es (bis 1870), hat die katholische Kirche lange Zeit Menschenrechte, Demokratie, Volkssouveränität und auch Eigenständigkeit der G. gegenüber dem S. abgelehnt. Noch Papst Leo XIII., der die Demokratie jedenfalls nicht mehr als grundsätzlich illegitim betrachtete (so in „Libertas praestantissimum“ von 1888), tat sich schwer mit der neuzeitlichen, vertragstheoretisch angelegten S.s-Auffassung (Vertragstheorien), dass sich die Völker ihre Verfassung und ihre Regierung selbst geben. Dabei war er zu einer in sich widersprüchlichen Position gezwungen, weil zugl. die von ihm begrüßten und unterstützten Organisationen des sozialen Katholizismus in verschiedenen Ländern, bes. auch in Deutschland, auf diese Eigenständigkeit der G. gegenüber dem S. großen Wert legten, da sie ihnen überhaupt erst die nötigen Handlungsspielräume gab, aus denen den sog.en intermediären oder Zwischengruppen bes. Bedeutung erwuchs (Katholische Soziallehre). Erst der aus dem totalitär regierten kommunistischen Polen stammende Papst Johannes Paul II. sprach eine eindeutige Option für den demokratischen S. aus, welche bereits im Zweiten Vatikanischen Konzil (GS 1965) grundgelegt war. Sein dafür zunächst in der Enzyklika (Sozialenzykliken) „Laborem exercens“ (1981) verwendeter und in „Centesimus annus“ (1991) nach den tiefgreifenden Umbrüchen in den sozialistischen S.en des Ostblocks vertiefter Schlüsselbegriff, mit dem er sowohl einen totalitären oder autoritären Kommunismus als auch einen staatliche Regulierung ablehnenden libertären Kapitalismus kritisierte, lautet „Subjektivität der Gesellschaft“ („Centesimus annus“: 13): Die „richtige Sicht der Gesellschaft“ besteht danach darin, dass sich „die gesellschaftliche Natur des Menschen nicht im Staat [erschöpft], sondern sie verwirklicht sich in verschiedenen Zwischengruppen, angefangen von der Familie bis hin zu den wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Gruppen, die in derselben menschlichen Natur ihren Ursprung haben und daher – immer innerhalb des Gemeinwohls – ihre eigene Autonomie besitzen“ („Centesimus annus“: 13). Im eigenartigen Gegensatz zu anderen kirchlichen Dokumenten dieser Zeit (bes. „Veritatis splendor“ 1993) spricht der Papst hier sogar von „der Person als autonome[m] Subjekt moralischer Entscheidung, das gerade dadurch die gesellschaftliche Ordnung aufbaut“ („Centesimus annus“: 13), eine Auffassung, die bei der Austragung innerkirchlicher Konflikte nicht zum Tragen kam. Nach einem Rückfall in überholte naturrechtliche S.s- und Politikkonzepte (Naturrecht) bei Papst Benedikt XVI. setzt Papst Franziskus seit 2013 diese Wende zu einer zivilgesellschaftlichen Politikkonzeption (und größeren Freiheit der innerkirchlichen Debatten) konsequent fort (Zivilgesellschaft), was u. a. dadurch seinen Ausdruck findet, dass sich die katholische Kirche zunehmend weniger als Gegenüber der Spitzen der S.en versteht, sondern als Partnerin sozialer Bewegungen, die sich für Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, die Bewahrung der Schöpfung und das Weltgemeinwohl (Gemeinwohl) einsetzen.
Aus heutiger sozialethischer Sicht ist zu fordern, dass der S. die individuellen Freiheitsrechte und die politischen Beteiligungsrechte (Partizipation) seiner Bürger respektiert und schützt. S.en müssen heute nach allg.er sozialethischer Auffassung demokratische Rechtsstaaten sein, in denen sich die gesellschaftlichen Kräfte möglichst frei entfalten können. Darüber hinaus muss der S. dafür sorgen, dass alle Bürger ihre Rechte auch wirklich wahrnehmen können, indem er ihnen als Sozialstaat, sofern sie dazu nicht selbst in der Lage sind, ein soziokulturelles Existenzminimum bereitstellt, für die Absicherung der allg.en sozialen Risiken und für Chancengerechtigkeit (Chancengerechtigkeit, Chancengleichheit) und Leistungsgerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt sorgt und alle durch geeignete Bildung dazu befähigt, ihre Chancen und Möglichkeiten zu kennen, zu beanspruchen und zu nutzen. Dabei darf er seinen Wirkungsbereich nicht in paternalistischer Weise überdehnen, sondern muss gemäß dem Subsidiaritätsprinzip (Subsidiarität) den Mitgliedern der G. möglichst großen Freiraum geben. Dort, wo bspw. Religionsgemeinschaften oder andere gesellschaftliche Initiativen notwendige Leistungen im Bereich von Bildung, Gesundheit, sozialer Hilfen oder Kultur bereitstellen, darf der S. sie nicht verdrängen, ist aber zu finanzieller Förderung verpflichtet, wenn wichtige Aufgaben für die Allgemeinheit wahrgenommen werden, die sonst der S. selbst leisten müsste. Bes.s Augenmerk ist heute auf eine kluge, sowohl die Freiheit aller als auch die politische Kultur des öffentlichen Austausches fördernde Regulierung der Medien zu legen, was staatliche Monopole genauso ausschließt wie eine ausschließlich von privaten, häufig an partikularen Kapitalinteressen ausgerichteten Unternehmen beherrschte Medienlandschaft. Umgekehrt sind alle Bürger nicht nur verpflichtet, sich den auf demokratische Weise zustande gekommenen Gesetzen und Entscheidungen (bis auf wenige Ausnahmen, in denen ziviler Ungehorsam gerechtfertigt sein kann) zu unterwerfen, sondern sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten und Fähigkeiten auch konstruktiv am politischen Prozess zu beteiligen, um an der Aushandlung möglichst sachgerechter und für alle G.s-Mitglieder fairer Lösungen der Probleme mitzuwirken.
2. Neue Herausforderungen
Der mit der beschleunigten Globalisierung verbundene Machtverlust der National-S.en verschärft die Steuerungsprobleme des S.es (Steuerung), was bei vielen Bürgern zu Enttäuschungen über dessen Leistungen führt und häufig wenig rational agierenden nationalistischen Protestbewegungen Zulauf beschert, der bspw. durch fremdenfeindliche Reaktionen auf Migrationsbewegungen (Migration) noch verstärkt wird. Zugl. verschärfen funktionale Differenzierung, Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen in der spätmodernen „Gesellschaft der Singularitäten“ (Reckwitz 2017) die als Ungerechtigkeiten wahrgenommenen Disparitäten und untergraben die Ressourcen an Gemeinsamkeiten, über die nationale G.en verfügen müssten, um die nötigen diskursiven Prozesse als Grundlage der politischen Kultur und politischer Entscheidungen erfolgreich voranbringen zu können. Die neuen Medien, die zu einer Parzellierung der Öffentlichkeit führen, so dass sich die Einzelnen in ihre jeweiligen Echoräume zurückziehen und wenig konstruktive Auseinandersetzungen mit den Positionen anderer stattfinden, was Fundamentalismen und Populismen bis hin zu gänzlich irrationalen Verschwörungstheorien Tür und Tor öffnet, erschweren zusätzlich den gleichzeitig immer notwendiger werdenden konstruktiven „öffentlichen Gebrauch [der] Vernunft“ (Kant 1923: 37). Das „Projekt der Moderne“ (Habermas 1981: 453) und das von vielen lange Zeit gehegte Vertrauen in die Rationalität offener gesellschaftlicher Verständigungsprozesse geraten dadurch in eine massive Krise.
Trotzdem können die Probleme, vor denen die Menschheit als Ganze steht, wenn überhaupt nur dadurch gelöst werden, dass sich in einer die S.en und überstaatliche Strukturen kontrollierenden und begleitenden Welt-G. neue und erfolgreichere Formen globaler Verständigung über kulturelle und religiöse Grenzen hinweg (Interreligiöser Dialog) und im friedlichen Ausgleich gegensätzlicher ökonomischer Interessen und Machtansprüche herausbilden. Die Tendenz zum Partikularen und Besonderen muss nicht nur seitens der S.en und der internationalen S.en-Gemeinschaft, sondern auch in den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen, die allmählich zu einer Welt-G. zusammenwachsen, ohne Rückfall in nostalgische Homogenitätserwartungen von dem Bemühen abgelöst werden, wieder das Allgemeine und Verbindende in den Blick zu nehmen, auch wenn dieses selbstverständlich strittig und umkämpft bleiben wird und nicht in illiberaler Weise den Individuen und partikularen Gruppen aufoktroyiert werden darf. Erste Ansätze dazu lassen sich z. B. in zivilgesellschaftlichen Initiativen identifizieren, die sich weltweit um die Commons (die Weltgemeingüter) kümmern.
Literatur
A. Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, 22017 • S. Helferich/Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, 2012 • S. Leibfried/D. Wolf: Der demokratische Staat und seine Voraussetzungen im Zeitalter der Globalisierung, in: H.-J. Große Kracht/C. Spiess (Hg.): Christentum und Solidariät. Bestandsaufnahmen zu Sozialethik und Religionssoziologie, 2008, 565–590 • H. H. Rupp: Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: HStR, Bd. 2, 32004, § 31 • K. Christoph: Gesellschaft, in: H. Drechsler u. a. (Hg.): Gesellschaft und Staat. Lexikon der Politik, 102003, 405–408 • H.-J. Große Kracht: Kirche in ziviler Gesellschaft, 1997 • E.-W. Böckenförde: Staat und Gesellschaft, in: StL, Bd. 5, 71995, 228–235 • J. Habermas: Faktizität und Geltung, 41994 • Ders.: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt (1980), in: ders.: Kleine politische Schriften (I-IV), 1981, 444–464 • I. Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: AA, Bd. 8, 1923, 33–42.
Empfohlene Zitierweise
G. Kruip: Staat und Gesellschaft, III. Sozialethisch, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Staat_und_Gesellschaft (abgerufen: 22.11.2024)