Staat
I. Rechtswissenschaftlich
Abschnitt drucken1. Wort, Sache, Begriff
„S.“ ist ein Wort der Neuzeit. Das lateinische Ursprungswort „Status“ („Zustand“, im Mittelalter auch „Stand“) bezeichnet zunächst den Parteianhang eines (Renaissance-)Herrschers, sodann jeden Besitz von Macht über Menschen („Stati“ bei Niccolò Machiavelli). Es verbreitet sich mit der Ausbildung des „modernen S.es“ bis zum 19. Jh. über Europa, früh in Spanien (estado) und in Frankreich (état), spät in Deutschland. Frühere Bezeichnungen (res publica, civitas, regimen, imperium etc.) gehen in den Begriff des S.es auf.
Doch das Wortfeld „S.“ umfasst nicht nur den Strukturtypus des „modernen S.es“ europäischer Provenienz sowie den darauf aufbauenden Typus des freiheitlichen Verfassungs-S.es, sondern allgemein das zeitlose Phänomen politischer Vergemeinschaftung und Herrschaft. Diesen Typusbegriffen gegenüber steht der Rechtsbegriff des S.es, wie er sich insb. im Völkerrecht entwickelt hat.
2. Staat als politische Herrschaft
S. ist keine Erfindung der Neuzeit. S.en i. S. politischer Herrschaft gab es zu allen Zeiten in allen Kontinenten (die S.en der Antike – Inka, Ägypten, China – und des Mittelalters). Auch der moderne S. gründet auf vorneuzeitlichen Voraussetzungen und knüpft an sie an. Nach griechisch-römischem S.s-Denken hat sich alle politische Herrschaft am Gemeinwohl zu orientieren: „res publica res populi“ (Cic. rep. 1, 39). Die Ausschaltung des Eigennutzes der Herrschenden ist Kriterium der „richtigen“ S.s-Formen (Aristot. pol. III, 7). Herrschaftsausübung ist treuhänderisch, rechenschaftspflichtig, verantwortlich, wird rechtlich verfasst in der Institution des Amtes und bildet den S. im engeren Sinne (Ämterwesen, Herrschaftsorganisation, Regierung), dem der S. im weiteren Sinne (Gemeinwesen, Allgemeinheit, Volk) gegenüber steht. Über alle politischen Epochen bis in die Gegenwart wirkt die republikanische Tradition auf die Legitimation des S.es als Herrschaft für das Volk (res populi) ebenso hin wie auf die Bereitschaft des Bürgers, die Sache des Gemeinwesens zu seiner eigenen zu machen (Bürgertugenden und -pflichten). Zudem gilt S.s-Macht als ethisch gebunden an die Maßstäbe der Gerechtigkeit. Der staatsbürgerliche Gehorsam steht unter dem Vorbehalt des Widerstandsrechts, das auflebt, wenn das Recht des S.es gegen höheres Recht verstößt. Das Christentum steigert diesen Rechtfertigungszwang des S.es. Das Gebot Gottes beansprucht höhere Verpflichtungskraft als das des S.es (Apg 5,29). Dennoch ist der Christ kraft Gewissenspflicht (Röm 13) zum staatsbürgerlichen Gehorsam verpflichtet.
3. Der moderne Staat
Der „moderne S.“ ist ein historisch-kontingentes, in Europa in der frühen Neuzeit ausgebildetes Strukturmodell politischer Herrschaft und prägt diesen „konkreten, an eine geschichtliche Epoche gebundenen Begriff“ (Schmitt 1958) des S.es. Der Begriff des modernen S.es repräsentiert idealtypisch die strukturelle Gemeinsamkeit aller S.en jenseits ihrer historischen, geopolitischen, ethnischen und verfassungsrechtlichen Besonderheiten. Ihm entsprechen dem Anspruch nach die auf der Erde existierenden ca. 200 S.en (von ihnen 193 Mitglieder der UN). Auf ihm baut das Völkerrecht auf und finden die Staatswissenschaften ihren Idealtypus. Ob dieses rational konzipierte europäische Modell von Staatlichkeit auch nach dem Ende der westlichen Dominanz in anderen Teilen der Welt vital bleiben wird, bildet den Kern der offenen Frage nach dem „Ende des S.es“. Das Strukturmodell des modernen S.es ist gekennzeichnet durch die rationale Verdichtung politischer Herrschaft bei gleichzeitiger Begrenzung der S.s-Gewalt zu Gunsten einer sich frei entfaltenden Gesellschaft.
3.1 Staat als rationale Einheit
S. im modernen Sinne ist zweckrationale Organisation, Derivat praktischer Vernunft (Vernunft, Verstand). Die Einheit des S.es wird durch Institutionen gesichert, muss aber auch von den Bürgern wie von den Amtsträgern durch existentielle Integration vollzogen, gelebt und immer wieder erneuert werden, damit sie Wirklichkeit bleibt. Rationale staatliche Einheit entfaltet sich in mehreren Dimensionen.
a) Der moderne S. ist in erster Linie Friedenseinheit. Hervorgegangen aus den Erfahrungen der religiösen Bürgerkriege in der frühen Neuzeit, stellt er deren institutionelle Überwindung dar. In Thomas Hobbes’ Philosophie bildet der Bürgerkrieg das politische Urtrauma des status naturalis. Er wird abgelöst durch den status civilis aufgrund allseitiger Vereinbarung des Bürgerfriedens und Unterwerfung unter den S. als dessen machtbewehrten Garanten (pactum unionis); dieser aber kann von seinen Bürgern Gehorsam nur verlangen, solange er ihnen effektiv Sicherheit gewährleistet. Schutz und Gehorsam bilden einen wechselseitigen Legitimationskonnex. Die staatliche Friedenseinheit bildet den Rahmen innergesellschaftlicher Konflikte und garantiert, dass keine Gruppe die Macht zu Feinderklärung und Bürgerkriegführung hat. Insoweit ist er wesenhaft politische Einheit (Carl Schmitt). Dadurch unterscheidet sich der moderne S. vom mittelalterlichen Gemeinwesen, das Fehde und Selbsthilfe Raum gab und umfassenden, effektiven Landfrieden nicht kannte. Der moderne S. dagegen hat die Gesellschaft befriedet, den Bürger entwaffnet und Selbstjustiz durch gerichtliche Verfahren ersetzt. Die erste Grundpflicht des Bürgers besteht darin, auf Androhung wie Anwendung physischer Gewalt als Mittel der Konfliktlösung zu verzichten. Dieser Friedenspflicht des Bürgers korrespondiert das Gewaltmonopol des S.es. Dieses bildet Grundlage wie Grenze verfassungsrechtlicher Freiheitsgewähr. Das Gewaltverbot ist die Bedingung der Möglichkeit von Frieden, Sicherheit und Kultur.
b) Der moderne S. ist organisierte Entscheidungseinheit. Im Unterschied zur Vielfalt ständischer Entscheidungskompetenzen im mittelalterlichen S., entscheidet der moderne S. allein und letztverbindlich mit dem Anspruch auf Rechtsgehorsam. Die staatliche Entscheidungseinheit umfasst auch die Interpretation vorgegebener Normen, insb. der Verfassung. Das S.s-Denken seit T. Hobbes und John Locke begreift die Frage nach der (stets bestreitbaren) Richtigkeit der politischen Ordnung auch als Frage nach der (dem Streit entzogenen) Entscheidungskompetenz (quis iudicabit). Je größer der Dissens der Gesellschaft in der Sache, desto notwendiger der Konsens über die Entscheidungsinstanz, den Modus der Legalität. Daher begründet die formale Kompetenz (auctoritas), nicht die materiale Richtigkeit (veritas), die Verbindlichkeit der staatlichen Rechtsordnung.
c) Der moderne S. ist „Handlungs- und Wirkungseinheit“ (Heller 1934: 88). In ihm organisiert sich die Aktivität des neuzeitlichen Menschens, der die natürliche Umwelt und die Ordnung des Zusammenlebens als immer wieder neue Herausforderung und Gestaltungsaufgabe begreift. Aus diesem Grund beansprucht der moderne S. virtuelle Allzuständigkeit in sämtlichen Sachbereichen und Blankovollmacht zum Handeln.
d) Die Entscheidungs- und Handlungseinheit des modernen S.es ist Bedingung seiner Rechtseinheit. Diese bewährt sich in der Rechtssetzung wie in der Rechtsdurchsetzung, in der Normgeltung (Geltung) wie in der Norminterpretation. Der S. ist Erzeuger und Hüter der Rechtsordnung. Er geht dem (positiven) Recht voraus, auch wenn er selbst dessen Gegenstand und Adressat ist.
e) Der S. ist notwendig Machteinheit (Macht). Nur dann kann er den inneren Frieden gewährleisten und sich im internationalen Konzert behaupten. Grundlage ist das „Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit“ (Weber 1980: 822), das der S.s-Gewalt die faktische Überordnung über die Gesellschaft qua Einzigkeit, Einseitigkeit, Unwiderstehlichkeit und autoritativer Verbindlichkeit vermittelt. Typische Hoheitsfunktionen sind polizeiliche Gefahrenabwehr nach Innen (Polizei) und nach Außen (Armee), Besteuerung, Wirtschaftsaufsicht, Zwangsvollstreckung. Dabei ist die S.s-Gewalt nicht auf die nur ihr zukommenden subordinationsrechtlichen Handlungsformen (Gesetz, Verwaltungsakt, Urteil) beschränkt, sondern umfasst neben förmlichen Regelungen auch informelle Einflussnahme, Information und Werbung, Planung, Entscheidung und Ausführung, Befehl und Leistung.
Die Machteinheit konstituiert die innere Souveränität des S.es, kraft derer er das Gemeinwohl definieren und durchsetzen kann. Souveränität bedeutet insoweit Gemeinwohlfähigkeit. Allerdings bedarf die Macht des S.es auch der Anerkennung der Bürger und ihrer Bereitschaft zum Rechtsgehorsam. So gründet der moderne S. auf der apriorischen Bürgerpflicht zum Gehorsam, der die Bürger im Verfassungs-S. a priori verpflichtet, dem verfassungsmäßigen Gesetz und der gesetzmäßigen Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidung zu folgen.
Staatliche Macht ist ambivalent: „Denn derjenige, der genug Kräfte hat, jeden zu schützen, der hat auch genug, um jeden zu unterdrücken“ (Hobbes 2017: 233). Die Zähmung staatlicher Macht zählt daher zum zentralen Thema von Theorie und Praxis des modernen S.es (Verfassungs-S.). Immer aber bleibt auch der Verfassungs-S. auf Macht angewiesen: ohne Macht ist Recht ohnmächtig.
f) Der S. ist Solidarverband, dessen Mitglieder füreinander und für das Ganze einstehen. Die Solidarität seiner Bürger konstituiert den S. als Einheit in der Zeit. Sie verknüpft die gegenwärtige Generation mit den vergangenen Generationen, in deren Geschichte sie im Guten wie im Bösen steht und für die sie haftet, wie auch sein gegenwärtiges Handeln Nutzen wie Lasten für künftige Generationen zeitigt. Die intersubjektive wie intertemporale Einheit bedeutet Fortbestand von Rechten und Pflichten, aber auch die Chance, das geistige und wirtschaftliche Erbe zu pflegen und Verantwortung zu tragen für die Nachwelt im Umgang mit natürlichen, kulturellen und moralischen Grundlagen des gemeinsamen Lebens (Nachhaltigkeit).
Die staatliche Solidarität wird rechtlich verfasst und organisiert als juristische Person (Gebietskörperschaft), die dem S. rechtliche Identität unabhängig vom Wechsel der einzelnen Mitglieder vermittelt. Die Zugehörigkeit zum S.s-Volk folgt aus der Staatsangehörigkeit, die die S.s-Bürger grundsätzlich unentrinnbar und auf Lebenszeit an die Gefahren- und Schicksalsgemeinschaft des Heimat-S.es bindet. Das personenrechtliche Band, das unabhängig vom jeweiligen Aufenthalt fortbesteht, schafft einen wesentlichen Statusunterschied des S.s-Angehörigen zum Ausländer, der sich freiwillig unter fremde Gebietshoheit begeben und sich dieser jederzeit wieder entziehen kann.
Die staatliche Einheit der S.s-Angehörigen kann sich mit der nationalen Einheit eines Volkes decken. Diese geht hervor aus dem Zusammengehörigkeitsbewusstsein ihrer Mitglieder sowie dem existentiellen Willen zum staatlichen Zusammenleben. Nation ist Herkunft und Zukunft. Historisch ist sie zumeist das Produkt staatlicher Entwicklung (z. B. in Deutschland). Sie wirkt jedoch existentiell als Legitimationsgrund der staatlichen Einheit, kann deren (zeitweisen) Zerfall ebenso überdauern (Beispiel Polen) wie ihr eigener Zerfall jenen aber auch bewirken kann.
3.2 Begrenzter Staat
Als rational organisierte Einheit ist der moderne S. begrenzter, sektoraler S. Er beschränkt sich auf innerweltliche Aufgaben und kennt, anders als der Herrschaftsverband des Mittelalters, keinen geistlichen Auftrag für das Seelenheil der anvertrauten Menschen und für die Durchsetzung transzendenter Heilswahrheiten. Die Einheit des Corpus Christianum zerbrach mit der Reformation. Der Versuch, die Glaubenseinheit mit staatlichen Mitteln wiederherzustellen, führte über die konfessionellen Bürgerkriege zur Ausbildung des rationalen, d. h. modernen S.es, der um des innerstaatlichen Friedens willen die (religiöse) Wahrheitsfrage seinen Bürgern überließ und seine politische Einheit auf säkulare Aufgaben reduzierte. Die „Allzuständigkeit“ des modernen S.es besteht nur im säkularen Horizont.
Die Säkularität des modernen S.es hat sich in einem langwierigen, konfliktreichen und blutigen historischen Prozess gegen den Widerstand der christlichen Kirchen durchgesetzt. Dabei ist die Ausdifferenzierung des Politischen in der christlichen Überlieferung angelegt: in Gestalt des Dualismus der zwei Reiche (Zwei-Reiche-Lehre), der Polarität von Immanenz und Transzendenz, von Kirche und S. (Kirche und Staat), von Gesetz und Gewissen (Gewissen, Gewissensfreiheit). Diese „christliche Gewaltenteilung“ geht allen staatsrechtlichen Gewaltenteilungen voraus. Ohne das politische Bewusstsein über die „absolute Entzweiung“ (Hegel 1970: 22) ist der moderne S. weder zu denken noch überlebensfähig.
Die Säkularität des S.es ist für die Menschen anspruchsvoll: Die staatliche Absage an Wahrheit um des Friedens willen zeitigt denn auch politisch gegenläufige Entwicklungen. Einerseits als Kompensation des Transzendenzverzichts durch politische „Zivilreligion“ (Rousseau 2000: 186 f.) oder immanente Heils- und Erlösungslehre (Marxismus), die in der Form des Totalitarismus auf die ganzheitliche Erfassung des Menschen zielt. Andererseits in der Form des Verfassungs-S.es, der die religiöse wie die ideologische Spaltung der Gesellschaft als unaufhebbar akzeptiert und die Angelegenheiten der Weltanschauung und Wissenschaft, der Kultur und öffentlichen Meinung, der Wirtschaft und der politischen Willensbildung der grundrechtlich fundierten Freiheitsausübung der Bürger überlässt. Der Verfassungs-S. gründet politische Einheit nicht auf Wahrheit, sondern auf Freiheit, die durch Grundrechte sowie durch rechtsstaatliche und demokratische Institutionen verfassungsrechtlich gewährleistet wird (Staat und Gesellschaft).
3.3 Verfassungsstaat
a) Der Begriff des modernen S.es gibt nur einen Ordnungsrahmen, der auf Ausfüllung durch eine Verfassung angelegt ist. Als Realverfassung bezeichnet sie eine „bestimmte Ordnung für die Bewohner eines Staates“ (Aristot. pol. 1274b) und macht seine S.s-Form aus. Als normative Verfassung bildet sie die „rechtliche Grundordnung des Staates“ (Kägi 1945). Zu dieser gehören Grund, Ziel und Grenze staatlicher Herrschaft, das Recht der höchsten Führungsorgane, das Grundverhältnis von S. und Bürger. Diese „materielle“ Verfassung wird heute i. d. R. durch eine „formelle“ Verfassung kodifiziert (Verfassungsgesetz, Grundgesetz), die sich an den klassischen Leitbildern der ersten amerikanischen und französischen Verfassungsgesetze des 18. Jh. orientiert.
b) Jede Verfassung muss an vorhandene staatliche Strukturen anknüpfen. Sie schafft nicht den S., sondern übernimmt ihn als vorgegebenes Strukturmodell, um ihn näher auszuformen. Die verfassunggebende Gewalt bedarf des S.es als vorgegebenen Objekts und eines vorgegebenen, handlungsfähigen Subjekts, das sie ausübt. Die demokratische Doktrin setzt als souveränen Ursprung der Verfassung das Volk voraus: als vorab existierende staatliche (oder zumindest nationale) Einheit, für die nur noch die Form der politischen Existenz entscheidungsbedürftig ist.
Die institutionellen Voraussetzungen effektiver Verfassungsgeltung sucht der Verfassungs-S. durch Gewaltenteilung, Grundrechte, parlamentarische Demokratie, soziale Rechtsstaatlichkeit und Föderalismus zu gewährleisten. Das staatliche Organisationsrecht ist insoweit Gegenstand verfassungsrechtlicher Regelung als auch die Bedingung ihrer rechtspraktischen Geltung. So ist der S. zugleich Pflichtenadressat der Verfassung wie deren Hüter.
Die meisten Verfassungen setzen die Strukturen des modernen S.es als selbstverständlich voraus, rezipieren sie stillschweigend und fügen konstitutiv ihre besonderen Strukturen (Parlamentarismus [ Parlament, Parlamentarismus ], Grundrechte etc.) in diese ein. Die normative Verfassung vermag nur dann wirksam und dauerhaft zu gelten, wenn sie die unabweislichen Gegebenheiten und vitalen Bedürfnisse des Gemeinwesens in sich aufnimmt und der Selbstbehauptung und Funktionsfähigkeit des S.es noch hinreichend Spielraum belässt („S.s-Raison“), um einen fatalen Konflikt zwischen staatlichem Überlebensinteresse und Verfassungsloyalität zu vermeiden.
c) Mit der Verfassung gewinnt der S. sowohl Verbindlichkeit, Transparenz und Rationalität des Rechts wie auch materiale Legitimation. Die Verfassung vermag die staatliche Einheit mit Sinn zu füllen und zu stärken. Die heute mächtigste Legitimationsidee, welche die Verfassung vermittelt, ist die Freiheit als grundrechtliche Selbstbestimmung des Bürgers und als demokratische Selbstbestimmung des Volkes. So verkörpert die Verfassung die rechtliche Besonderheit des Gemeinwesens, sein spezifisches Maß an privater, gesellschaftlicher und politischer Freiheit, an sozialer Gerechtigkeit, an föderaler Vielfalt. Diese Verfassungsidentität bildet für den S. Grund wie Grenze supranationaler Zusammenschlüsse (BVerfGE 140,317 [ Supranationalität ]).
3.4 Ende des modernen Staates?
„Die Epoche der Staatlichkeit geht jetzt zu Ende“ (Schmitt 1933: 10). Diese Diagnose bezieht sich auf den modernen S. als das Zentrum des Politischen. Sie gründet auf vier Tendenzen: der Schwächung der inneren Souveränität durch Auflösung der staatlichen Machteinheit, der Schwächung der äußeren Souveränität durch Internationalisierung und Globalisierung, der zunehmend selbstbewussten Ablehnung des modernen S.es in nichtwestlichen Staaten, sowie der Schwächung und Instrumentalisierung von Rationalität und Säkularität in den modernen westlichen S.en selbst als Folge zunehmender Orientierungslosigkeit und gleichzeitiger Suche nach sinngebenden, sektoralen Gemeinschaften. All dies könnte dazu führen, dass sich das Politische neue Strukturen sucht.
a) Die Auflösung religiöser, sozialer, nationaler Substrukturen ermöglicht ebenso volative wie irrationale Massenbewegungen und tendiert zum Fanatisieren politischer Konflikte. Organisierte Gruppenmacht (Parteien, Gewerkschaften, Unternehmen, Massenmedien) sucht den S. für eigene Partikularinteressen (Interessen) zu instrumentalisieren. Dies führt bei den Bürgern zu schrumpfender Akzeptanz staatlicher Lasten, schwindender Bereitschaft zur Annahme der Loyalitäts- und Zivilitätspflichten. Organisierte Kriminalität stellt das staatliche Gewaltmonopol offen in Frage und diskreditiert das elementare „Grundrecht auf Sicherheit“ (Isensee 1983). Technische Sachzwänge führen zu begrenzten politischen Entscheidungsmöglichkeiten und die zunehmende Ökonomisierung der staatlichen Aufgabenerfüllung unterminiert die Gemeinwohlorientierung des S.es.
b) Globalisierung, Internationalisierung, Multilateralisierung und Digitalisierung stellen den als geschlossen und impermeabel gedachten S. zunehmend in Frage. Interdependenz und Verflechtung der S.en wie ihrer Gesellschaften verlangen nach internationaler Zusammenarbeit, führen aber zugleich zum Verlust von staatlicher Handlungsautarkie in zentralen staatlichen Aufgabenfeldern (militärische und polizeiliche Sicherheit, Energieversorgung, Umweltschutz, Marktkapazität), die von internationalen und supranationalen Zusammenschlüssen (Integration) wahrgenommen werden. Die überkommene nationalstaatliche Idee des modernen S.es wird durch die Universalisierung der Menschenrechte und des Menschenrechtsschutzes, durch internationale Flucht- und Migrationsbewegungen (Migration) fragwürdig. All dies führt zu zunehmender Inkongruenz von territorial radizierten S.en und global agierenden Akteuren.
c) Diese Entwicklungen treffen das Strukturmodell des modernen S.es auch in seinen kulturellen, historisch-kontingenten Bedingungen: Aktivität und Rationalität, Autonomie und Individualismus, Säkularität und Offenheit gegenüber dem Wechsel geschichtlicher Möglichkeiten und Herausforderungen. Das S.s-Modell ist als effizientes Werkzeug für offene Ziele konstruiert, Medium der Aktivität und organisierten Evolution. Ob dieser moderne S. als Schöpfung des „okzidentalen Rationalismus“ (Weber 1988: 1) auch außerhalb des europäischen Kulturkreises dauerhaft Wurzeln schlagen kann, entscheidet mit über seine Zukunftsfähigkeit. Die nichteuropäischen S.en haben zwar der semantischen Form nach das Gerüst des modernen S.es und damit ein Mindestmaß an erdumspannender S.en-Homogenität ermöglicht. Doch untergründig wirken fundamentale Mentalitätsunterschiede in Kulturen, die Renaissance und Aufklärung nicht erlebt haben, in denen christliche und antike Tradition nicht wirksam ist, in denen das irdische Dasein als wiederholbar erscheint (z. B. in den Wiedergeburtslehren Asiens) und deswegen die politische Mentalität gelassener, gleichmütiger, nicht zeitbedrängt, nicht tatenbedürftig ist. Dem Islam ist die Unterscheidung des S.es von der Religion fremd. Das Ethos der Familienbindung wie der Gruppenpatronage in großen Teilen der Welt reibt sich an der Idee individueller Freiheit zur Selbstbestimmung und demokratischer Mitbestimmung (Partizipation). Wo letzte Wahrheiten und das Gesicht zu wahren sind, fehlt die Voraussetzung für demokratischen Wettbewerbsgeist (Wettbewerb), Fairness und Kompromissbereitschaft (Kompromiss). Die Frage, ob die Rezeption des modernen S.s-Modells nur eine äußere, formale und semantische ist oder ob autochthone politische Kräfte die von außen übergestülpte politische Form sprengen werden, wird sich mit der sich ihrem Ende zuneigenden wirtschaftlichen und kulturellen Dominanz des Westens zeigen.
d) Diese Herausforderungen treffen auf einen Westen, dessen rational-säkular bedingte kulturelle Offenheit und Relativität sich im Zuge von Digitalisierung und Globalisierung zur Auflösung gesellschaftlicher Strukturen und damit zu einer „Gesellschaft der Singularitäten“ (Reckwitz 2017) steigert. Die Überflutung mit quantitativ wie qualitativ grenzenlosen Informationen, die immer größere Schwierigkeit, wahre von unwahren Informationen unterscheiden zu können, schwächt nicht nur die Idee rationaler Problembewältigung, sondern schafft mit zunehmender Orientierungslosigkeit zugleich ein Sinnvakuum, das die Säkularität als Lebensprinzip des modernen S.es in Frage stellen könnte. Die Hinwendung der Menschen zu religiösen, moralischen, ideologischen Heilsversprechungen mit Wahrheits- und Ausschließlichkeitsanspruch, könnte die Gesellschaft in einander sprachlos gegenüberstehe Segmente spalten, die das kulturell-gemeinsame Minimum des modernen S.es existentiell zu untergraben in der Lage sind.
4. Staat als Rechtsbegriff
Das Völkerrecht muss den S. definieren, entscheidet doch die S.s-Qualität über die Anerkennung als Völkerrechtssubjekt und über die Zugehörigkeit zum System völkerrechtlicher Rechte und Pflichten. Der völkerrechtliche S.s-Begriff begnügt sich mit einem Minimum an äußerlich erkennbaren Merkmalen und blendet die innere Verfasstheit des konkreten S.es aus. Die nach Völkerrecht notwendigen, aber auch hinreichenden Voraussetzungen sind nach der Drei-Elemente-Lehre S.s-Gebiet, S.s-Volk und S.s-Gewalt (Jellinek 1914: 394–434).
Staatsgebiet ist ein abgegrenzter Teil der Erdoberfläche als ausschließlicher Herrschaftsbereich. S.s-Volk ist ein sesshafter, auf Dauer angelegter Personenverband, der grundsätzlich durch das mitgliedschaftliche Band der S.s-Angehörigkeit rechtlich verfestigt wird. Auf Einwohnerzahl und Gebietsgröße kommt es nicht an. S.s-Gewalt erfordert eine organisierte Herrschaft mit der Aussicht auf Dauer, ausgeübt durch eine effektive, handlungsfähige Regierung über den größten Teil des Territoriums und über die Mehrzahl der Einwohner. Diese (innere) Souveränität setzt das Völkerrecht voraus, weil ohne sie der S. seine internationalen Pflichten nicht erfüllen könnte. Demgegenüber bedeutet die äußere Souveränität die rechtliche Unabhängigkeit gegenüber jeder Autorität außer der des Völkerrechts selbst. Der völkerrechtliche S.s-Begriff stellt auf die Effektivität von Herrschaft ab, nicht auf deren Legitimität. Die Anknüpfung an die ethisch indifferente Effektivität ermöglicht indes das befriedende, ausgleichende und disziplinierende Miteinander unterschiedlichster politischer Regime und steht derart im Dienst des Friedens.
5. Idee und Rechtfertigung des Staates
Der Frage nach der Rechtfertigung des S.es geht es um die Begründung, warum überhaupt politische Herrschaft in der Form des S.es existiert. Sie tritt als die Frage nach der Idee des S.es auf, wenn denn der S. als unverfügbar gegebenes Schicksal erscheint, weil es „nicht in der Willkür der Individuen [liegt], sich vom Staate zu trennen, da man schon Bürger desselben nach der Naturseite hin ist“ (Hegel 1986: § 75 Zusatz). Die Antworten gehen von einem geschichtlichen Anfangs- oder Endzustand, von einem göttlichen Willen oder anthropologischen Bedürfnissen aus.
In einem spezifischen Sinne konnte die Rechtfertigungsfrage erst gestellt werden, seit im neuzeitlichen Menschen das Bewusstsein seiner individuellen Persönlichkeit erwacht und er gegenüber Schranken und Gesetzen aller Art „das Gefühl eigener Souveränität“ (Burckhardt 1908: 179) ausbildet. Seither bestimmt der Mensch selbstständig, ob er sich zu überkommenen Bindungen bekennt, sie übernimmt, sich in sie einfügt. Nunmehr kann die Frage in aller Radikalität gestellt werden: Warum überhaupt S. und warum nicht vielmehr kein S.? Ist diese Frage einmal gestellt, unterliegt der S. Bedingungen der Legitimität seiner Existenz. Die Wirklichkeit des S.es wird am normativen Idealmodell gemessen. Die Frage nach der Rechtfertigung führt vom Ob über Wie bis zur Frage nach der bestmöglichen Verfassung des S.es.
5.1 Ideen vom Staat
a) Anfangsmythen (Mythos) gründen die Existenz des S.es teils auf dem Schreckensbild eines anarchischen Urzustands („bellum omnium contra omnes“ [Hobbes 2017: 32]), der durch die staatliche Ordnung überwunden wird, teils als Kompensation für ein verlorenes Paradies, aus dem die Menschheit infolge eines Sündenfalls vertrieben wurde (aus dem Reich der natürlichen Unschuld durch die Anerkennung des Privateigentums, aus dem urkommunistischen Zustand „natürlicher Demokratie“ durch Klassenspaltung (Friedrich Engels), aus der ersten mutterrechtlichen Kulturstufe des Hetärismus (Urpromiskuität) und der zweiten, der Gynaikokratie, durch Vergeistigung in die vaterrechtliche Ordnung (Johann Jakob Bachofen). Anfangsmythen dieser Art sind durchwegs Spekulationen bzw. historische Rückprojektionen gegebener Machtverhältnisse.
b) Endzeitmythen weisen dem S. eine heilsgeschichtliche Legitimation durch die Aufgabe zu, das Unheil der Endzeit zu verzögern oder ihr Heil zu beschleunigen. So sah sich das Heilige Römische Reich des Mittelalters als die Kraft, die den Antichrist aufhält (Katechon: 2 Thess 2,1–12). Der Chiliasmus seit Joachim von Fiore dient als Ermächtigung, das 1 000-jährige Reich (Offb 20) heraufzuführen. Das Legitimationsmuster wird aufgenommen von der marxistischen Endzeitutopie eines kommunistischen Reiches der Freiheit, die den S. absterben lässt (Marxismus, Kommunismus). Endzeitmythen leben von der Wahrheit eines geschlossenen Weltbildes und entbinden in historischer Perspektive totalitäre Diktaturen mit größten Gewaltexzessen.
c) Legitimation aus dem Willensursprung finden sich in theonomen Lehren, die den S. aus dem Willen Gottes ableiten. Eine kurzschlüssige Interpretation von Röm 13 identifiziert den jeweiligen Status quo von S. und Recht mit dem positiven Willen Gottes, erklärt ihn für unantastbar und entlastet die Regierenden vom Rechtfertigungszwang gegenüber den Regierten.
d) Eine anthropologische Legitimation lässt das Gemeinwesen aus der mangelnden Autarkie des Individuums und dem korrespondierenden natürlichen Streben der Menschen nach Gemeinschaft (appetitus societatis) hervorgehen. Die Verwiesenheit auf Mitmenschen (imbecillitas) mit dem Ziel wechselseitiger Ergänzung und arbeitsteiliger Verbindung zeitigt ein universalistisches Legitimationsmuster, das den Vorrang des Ganzen vor dem Teil und die Integration des Individuums in den staatlichen Organismus postuliert. Der S. erscheint als „absoluter, unbewegter Selbstzweck“ und die höchste Pflicht der Einzelnen besteht darin, „Mitglieder des Staats zu sein“ (Hegel 1986: § 258). Das Wesen des S.es ist „das Höhere, welches dieses Leben und Eigentum selbst auch in Anspruch nimmt und die Aufopferung desselben fordert“ (Hegel 1986 § 100). Das Ethos der sozialen Solidarität im S.s-Verband rechtfertigt die Pflicht der Bürger, im Falle äußerer oder innerer Not ihr Leben für Mitbürger und S. einzusetzen.
5.2 Rationale Rechtfertigung
Die Herstellung des Bürgerfriedens und der Sicherheit ist das fundamentale materiale Ziel des modernen, gewaltmonopolistischen S.es. Dieser rationale Legitimationsgedanke rückt an den Anfang des modernen S.es, der den Bürgern voreinander Sicherheit gewährleistet (T. Hobbes), der die (religiösen) Konflikte (Religionskonflikte) in geregelte Verfahren überführt und durch den neutralen S. entscheiden lässt (J. Locke). Die Existenz des S.es als politische Einheit ist bedingt durch seine Fähigkeit, die Spannungen in seinem Inneren nicht in Feindschaft umschlagen zu lassen (C. Schmitt). Der Rechts-S. fügt der Sicherheit der Bürger voreinander die Sicherheit der Bürger vor der S.s-Gewalt hinzu. Der soziale S. gewährleistet darüberhinaus die Sicherheit gegenüber sozialen Existenzrisiken. Die Verfassungen fügen weitere S.s-Ziele hinzu wie etwa den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen und den Schutz vor den Schäden der technischen Zivilisation (Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen).
Die demokratische Idee gibt dem konkreten S. eine ergänzende autonome Rechtfertigung. Sie gründet ihn auf den Willen des Volkes, der wiederum aus dem Willen der einzelnen Bürger hervorgeht. Der Bürger unterwirft sich einer Herrschaft, an der er in Form von Wahlen und Abstimmungen nach dem Mehrheitsprinzip aktiv Anteil hat. Neben die förmliche Legitimation des S.es aus dem Volkswillen tritt die informelle Mitwirkung der Bürger an den öffentlichen Angelegenheiten (u. a. öffentliche Meinungsbildung, Ehrenämter). Der Individualismus sieht die zweckrationale Legitimation des S.es darin, die Lebensbedingungen der Bürger zu sichern und zu fördern. Doch das individualistische Legitimationsmuster vermag existentielle S.s-Agenden nicht zu erklären. So verlangt der moderne Sozial-S. von gesellschaftlichen Gruppen Umverteilungsopfer, die nicht durch adäquate Vorteile aufgewogen, sondern nur durch ein Ethos der sozialen Solidarität gerechtfertigt werden können. Erst recht gilt dies für die Pflicht der Bürger, im Falle äußerer oder innerer Not ihr Leben für Mitbürger und S. einzusetzen.
5.3 Legitimation des konkreten Staates im Pluriversum der Staatenwelt
Der bestehende einzelne S. ist kein Produkt philosophischer Notwendigkeit, sondern geographischer und historisch-politischer Kontingenz. Die philosophische Rechtfertigung kann daher den konkreten S. in seinem gegebenen territorialen und personalen Umfang nicht rechtfertigen. Das Prinzip der Selbstbestimmung des Volkes bietet als solches gleichfalls keine Rechtfertigung, weil es das Volk als Subjekt voraussetzt. Das Volk aber kennt keinen anderen Grund seiner Existenz als den Willen zur Einheit. Von diesem geht die Idee des National-S.es aus, die allerdings angesichts der großen Flucht- und Migrationsbewegungen (Flucht und Vertreibung) der Gegenwart in die Krise geraten ist.
Die Rechtfertigung des konkreten S.es kann durch die Hegelsche „vernünftige Interpretation“ der tatsächlichen Gegebenheit der Vielzahl und Mannigfaltigkeit der S.en gelingen. Das Pluriversum der S.en ermöglicht die Entfaltung kollektiver Individualität des einzelnen S.es, die geopolitische, ethnische und geschichtliche Eigenart zur Geltung bringt, die Religion und Kultur, Sprache und Sitte in spezifischer Weise kombiniert. Das Pluriversum der S.en ermöglicht den friedlichen Wettbewerb politischer Systeme. Es gibt Innovationen Raum und eröffnet Alternativen. Die Vielfalt der S.en schafft internationale Gewaltenteilung, die der Humanität und den Menschenrechten wenigstens regionale Lebenschancen sichert und weltweite Unterdrückung hindert. Das staatliche Pluriversum gerät heute allerdings gleichfalls unter Rechtfertigungsdruck, angesichts der Idee der „einen“ Menschheit und der universalen Menschenrechte, angesichts des Bedürfnisses nach einer weltweiten Friedensordnung, nach Abbau von Spannungen und Kriegsgefahr, nach gerechter und ökonomischer Verteilung der Ressourcen, angesichts der Notwendigkeit überstaatlicher Bewältigung wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Aufgaben. Gleichwohl sind die S.en bis heute die wesentlichen Bausteine der internationalen Ordnung geblieben. Die politischen Spannungen würden sich, gäbe es einen Universal-S., nicht auflösen, sondern nach innen verlagern. Gegenüber einem kosmopolitischen Leviathan gäbe es kein Asyl.
6. Staatsformen
6.1 Klassische Staatsformenlehre
S.s-Formen (S.s-Typen) dienen der deskriptiven Erfassung, der typisierenden Gliederung und Gruppierung der S.en nach Maßgabe ihrer inneren Verfasstheit. Die klassische S.s-Formenlehre der Antike prägt bis heute die typologischen Grundkategorien. Aristoteles unterscheidet im Anschluss an Herodot und Platon zwischen Monarchie (Alleinherrschaft), Aristokratie (Elitenherrschaft) und Politie (Volksherrschaft i. S. unmittelbarer Demokratie). Jedem dieser drei „guten“ S.s-Typen korrespondiert ein korruptes Gegenbild: Tyrannis (Despotie eines Alleinherrschers), Oligarchie (Herrschaft der besitzenden Clique) und Demokratie (i. S. v. Ochlokratie: Herrschaft des Pöbels). Diese Typologisierung verbindet das deskriptive Prinzip nach der Zahl der Herrschenden mit dem ethischen des Gemeinwohls: jede der drei S.s-Formen kann ethische Legitimität erlangen durch den selbstlosen Dienst der Regierenden für die Sache des Volkes, aber auch verfehlen durch eigennützige Ausbeutung der Macht.
Die S.s-Formen wechseln nach antiker Lehre einander ab nach dem Gesetz des Kreislaufs (Anakyklosis). Die gute S.s-Form neigt zur Entartung, wird dadurch diskreditiert und geht in die nächste (gute) über, bis diese ihrerseits verfällt; die Rotation läuft von der Monarchie, die zur Tyrannis entartet, über die Aristokratie und deren Verfallsform (Oligarchie), bis zur Demokratie, die in Ochlokratie übergeht, aus der wiederum die Monarchie sich erhebt. Das Gesetz der permanenten Verfassungslabilität wird aufgehoben in der „gemischten S.s-Form“, die Elemente aller „guten“ S.s-Typen in sich zu dauerhafter Stabilität vereinigt. Sie kehrt in der Form des modernen Verfassungs-S.es wieder. Die klassische Dreiteilung der S.s-Formen wird seit der Renaissance überlagert durch die Gegenüberstellung der Herrschaft eines Einzelnen (Monarchie) oder dem rechtlich organisierten Volk (Republik).
6.2 Neuere Typologisierungsansätze
An die Stelle dieser im 19. Jh. verbreiteten typologischen Unterscheidung ist heute diejenige zwischen Verfassungs-S. (Demokratie) und Autokratie getreten.
a) Verfassungs-S.en: Verfassungs-S.en als rational organisierte politische Einheiten weisen eine Vielfalt staatlicher Strukturen auf, die sich typologisch verdichten lassen: nach Maßgabe der staatlichen Gliederung zwischen Einheits- und Bundesstaaten; nach dem Grad der staatlichen Durchdringung der Gesellschaft zwischen bürgerlichem Rechtsstaat („Nachtwächter-S.“), sozialem Rechts-S. (Sozialstaat) und sozialistischem Wohlfahrtsstaat; nach Maßgabe des Finanzierungsmodus zwischen Steuerstaat und Unternehmer-S. (merkantilistischer oder sozialistischer Prägung); nach der Regierungsform zwischen parlamentarischem und Präsidialsystem, zwischen republikanischem und dynastischem Staatsoberhaupt sowie zwischen repräsentativer und plebiszitärer Demokratie.
Neuere S.s-Typologien suchen die – sich stetig ändernde – tatsächliche Machtlage zu erfassen und unterscheiden zwischen S.en, bei denen der Sitz der Souveränität innerhalb der staatlichen Organisation liegt, und solchen, bei denen sie bei außerstaatlichen Verbänden sitzt, nach Parteien-, Verbände-, Gewerkschafts-S., kapitalistischem S.
b) Autokratien: Dem Verfassungs-S. gegenüber stehen mehrere Antitypen. Die Autokratie als die selbstermächtigte Herrschaft eines Einzelnen oder einer Gruppe bildet den Antitypus zur Demokratie. Der autoritäre S. („Obrigkeits-S.“), dessen Herrschaftsstruktur ausschließlich „von oben nach unten“ verläuft, beansprucht das Monopol des Politischen. Der totale S., der alle Lebensbereiche durchreglementiert und der privaten wie gesellschaftlichen Autonomie keinen Freiraum belässt, ist der konträre Typus zum sektoralen S. Der totalitäre S. (Totalitarismus) in der Form, wie ihn Wladimir Iljitsch Lenin, Josef W. Stalin und Adolf Hitler hervorgebracht haben, zeitigt autokratische, autoritäre und totalitäre Strukturelemente: totale Inanspruchnahme des Menschen für eine ganzheitliche, profanreligiöse, aggressive Ideologie, Politisierung des privaten und gesellschaftlichen Lebens, zentralistische Diktatur, Zusammenwirken von S.s-Apparat und „Bewegung“ (Einheitspartei), moderne Technik der Massenmobilisierung, der Propaganda, des Terrors.
Der religiöse S., der sich mit einer S.s-Religion identifiziert, leitet sich als Theokratie unmittelbar von Gott ab. Als Hierokratie durch priesterliche Mittler des göttlichen Willens politisch geführt, bildet er den Gegentypus zur Säkularität des modernen S.es. Religiös geprägte staatliche Strukturen finden sich in islamischen (Islamische Republik Iran, „Islamischer S.“) wie in hinduistischen (Hinduismus) und buddhistischen (Buddhismus) Ländern.
Literatur
J. Isensee: Staat und Verfassung, 2018 • T. Hobbes: De Cive. Vom Bürger, 2017 • A. Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, 2017 • O. Depenheuer: Solidarität im Verfassungsstaat. Grundlegung einer normativen Theorie der Verteilung, 22016 • J. Isensee: Staat und Verfassung, in: HStR, Bd. 2, 32004, § 15 • J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundlagen des politischen Rechts, 2000 • A. Demandt: Antike Staatsformen. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte der Alten Welt, 1995 • J. Isensee: Staat, in: StL, Bd. 5, 71995, 134–158 • M. Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 71988 • G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders: Werke, Bd. 7, 1986 • J. Isensee: Das Grundrecht auf Sicherheit. Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates, 1983 • M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 51980 • E.-W. Böckenförde: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders.: Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, 42–63 • F. Berber: Das Staatsideal im Wandel der Weltgeschichte, 1973 • G. F. W. Hegel: Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie (1801), in: ders.: Werke, Bd. 2, 1970, 7–138 • H. Quaritsch: Staat und Souveränität, Bd. 1, 1970 • H. Krüger: Allgemeine Staatslehre, 21966 • M. Imboden: Die Staatsformen. Versuch einer psychologischen Deutung staatsrechtlicher Dogmen, 1959 • C. Schmitt: Staat als ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff, in: ders.: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahre 1924–1954, 1958, 375–385 • W. Kägi: Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates. Untersuchungen über die Entwicklungstendenzen im modernen Verfassungsrecht, 1945 • H. Heller: Staatslehre, 1934 • C. Schmitt: Der Begriff des Politischen, 31933 • H. Kelsen: Der soziologische und der juristische Staatsbegriff. Kritische Untersuchung des Verhältnisses von Staat und Recht, 21928 • G. Jellinek: Allgemeine Staatslehre, 31914 • J. Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien, Bd. 2, 101908.
Empfohlene Zitierweise
O. Depenheuer: Staat, I. Rechtswissenschaftlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Staat (abgerufen: 22.11.2024)
II. Wirtschaftswissenschaftlich
Abschnitt druckenSeit Adam Smith mit seiner „Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker“ (2005, zuerst 1776) die Wirtschaftswissenschaft als eigenständige Disziplin begründete, ist sie in ihrem Kern eine Theorie des Marktes, den sie als ein sich selbst regulierendes System betrachtet, in dem sich, ohne zentrale Lenkung, eine zweckmäßige Ordnung aus der wechselseitigen Anpassung der ihre jeweiligen Ziele verfolgenden Akteure ergibt. Der S. als Organ planmäßigen kollektiven Handelns wird vornehmlich in seinem Verhältnis zum Markt Gegenstand der Analyse, sei es in seiner Bedeutung für die Schaffung notwendiger Voraussetzungen marktlicher Ordnung, sei es im Hinblick auf die Korrektur- oder Ergänzungsbedürftigkeit des Marktes. Dabei sind, was die notwendigen Voraussetzungen und die Korrektur- oder Ergänzungsbedürftigkeit des Marktes anbelangt, in der Geschichte der Ökonomik unterschiedliche Auffassungen vertreten worden. Entspr. hat denn auch die Frage, welche Aufgaben bei der Gestaltung der sozialen Verhältnisse den spontanen Ordnungskräften des Marktes überlassen werden und welche planmäßigem staatlichen Handeln vorbehalten sein sollten, unterschiedliche Antworten gefunden.
1. Markt und Staat bei Adam Smith
Was die im Titel seiner „Untersuchung“ angesprochene Frage nach Wesen und Ursachen des Wohlstands eines Landes anbelangt, so lautet A. Smiths Antwort, dass Wohlstand an der Befriedigung der wirtschaftlichen Bedürfnisse der Bevölkerung zu messen sei und dass das von ihm sogenannte „einfache System natürlicher Freiheit“ (Smith 2005: 671) die günstigsten Bedingungen für seine Schaffung biete. Darunter versteht A. Smith ein System, in dem es jedermann freisteht, im Rahmen von „Gesetz und Recht […] sein eigenes Interesse auf seine eigene Weise zu verfolgen und […] anderen […] Konkurrenz zu machen“ (Smith 2005: 671). Dabei sieht er im Wettbewerb die entscheidende Wirkmacht, die das Eigeninteresse der Produzenten in den Dienst der Befriedigung von Konsumentenwünschen stellt, wie er dies in der bekannten Formulierung zum Ausdruck gebracht hat: „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers oder Bäckers erwarten wir unsere Mahlzeit, sondern von deren Bedachtsein auf ihr eigenes Interesse“ (Smith 2005: 98). Der Wettbewerb um die Gunst der Kunden lenkt nach A. Smith das Bestreben der Produzenten verlässlicher in Richtung der Befriedigung von Konsumentenbedürfnissen als dies „ein Staatsmann oder Gesetzgeber“ (Smith 2005: 467) je könnte.
Die Pflichten, die der S. in einem „System natürlicher Freiheit“ wahrzunehmen hat, sieht A. Smith zum einen in der Pflege und Durchsetzung einer Rechtsordnung, die die Freiheitsräume (Freiheit) der Einzelnen in wechselseitig kompatibler Weise definiert, und zum anderen in der Bereitstellung im allgemeinen Interesse liegender öffentlicher Leistungen, deren Erbringung von Privaten nicht erwartet werden kann, „weil der Gewinn daraus […] nie ihre Aufwendungen ersetzen könnte, obwohl er sie in einer großen Gesellschaft häufig weit mehr als zu ersetzen vermag“ (Smith 2005: 672).
2. Die Rolle des Staates als „Hüter des Marktes“
Sieht man von anarcho-libertären Fachvertretern ab, die einen rein privatrechtlich geordneten Markt ohne S. für ein realisierbares Ideal halten, so ist in der Ökonomik unstrittig, dass der S. eine unerlässliche Rolle bei der Durchsetzung des rechtlichen Regelrahmens zu spielen hat, der den Markt als Arena freiwilligen Tauschs schützt, indem er Gewalt und Betrug als Mittel zur Verfolgung der eigenen Interessen unterbindet. Unterschiedliche Auffassungen gibt es allerdings zu der Frage, wie der staatliche Auftrag zur Pflege und Durchsetzung des Regelrahmens genau zu umschreiben ist, wobei hier insb. der Kontrast zwischen Laissez-Faire-Liberalismus (Neoliberalismus) und Ordo-Liberalismus von Bedeutung ist.
Die Bezeichnung Laissez-Faire-Liberalismus ist zum Inbegriff einer wirtschaftspolitischen Auffassung geworden, die den Einfluss des S.es auf das Wirtschaftsgeschehen minimieren will, die zwar die Notwendigkeit staatlicher Durchsetzung von Eigentumsrechten (Eigentum) und Vertragsfreiheit als den Markt konstituierende Prinzipien anerkennt, sich ansonsten aber gegen jegliche Einflussnahme wendet.
In ausdrücklicher Abgrenzung gegenüber einer solchen Minimal-S.s-Programmatik betonen die Vertreter eines Ordo-Liberalismus die bes. Rolle, die dem S. als „Hüter der Wettbewerbsordnung“ (Eucken 1990: 327) bei der Gestaltung des Regelrahmens zukommt, innerhalb dessen sich das Marktgeschehen abspielt. Ebenso wie die Laissez-Faire-Variante des Liberalismus wendet sich auch seine ordo-liberale Ausprägung, wie sie insb. in der Freiburger Schule formuliert worden ist, gegen partikulare politische Eingriffe in den Wirtschaftsablauf, legt dafür aber umso mehr Nachdruck darauf, dass es eine genuin politische Aufgabe ist, die Wirtschaftsverfassung i. S. d. den Marktakteuren vorgegebenen Spielregeln, in einer Weise zu gestalten, die geeignet ist, den „spontanen Kräften der Menschen zur Entfaltung zu verhelfen und zugleich dafür zu sorgen, dass sie sich nicht gegen das Gesamtinteresse wenden“ (Eucken 1990: 365). Ganz i. S. eines ordo-liberalen Ansatzes stellt Friedrich August von Hayek fest, der Liberalismus lehre „nicht, dass wir die Dinge sich selbst überlassen sollen. […] Er leugnet nicht, sondern legt sogar besonderen Nachdruck darauf, dass ein sorgfältig durchdachter Rahmen die Vorbedingung für ein ersprießliches Funktionieren der Konkurrenz ist und dass sowohl die jetzigen wie die früheren Rechtsnormen von Vollkommenheit weit entfernt sind“ (1952: 58).
3. Staatstätigkeit als Korrektur und Ergänzung des Marktes
Mit der Frage der Korrektur- und Ergänzungsbedürftigkeit des Marktes befasst sich als wirtschaftswissenschaftliche Teildisziplin speziell die Wohlfahrtsökonomik (Wohlfahrt). In der Tradition des Benthamschen Utilitarismus versteht sie unter der Gesamtwohlfahrt eines Gemeinwesens das Aggregat der individuellen Nutzen seiner Mitglieder und fragt danach, wie staatliche Tätigkeit dazu beitragen kann, dieses Aggregat über das hinaus zu steigern, was der Markt zu leisten vermag. Arthur Cecil Pigou, der der Disziplin mit „The Economics of Welfare“ (1920) zu ihrem Namen verhalf, sah entsprechende Möglichkeiten insb. in staatlichen Maßnahmen zur Korrektur von „Marktfehlern“ oder „Marktversagen“, die er nicht zuletzt im Falle von Externalitäten (externe Effekte) gegeben sah, also bei Auswirkungen wirtschaftlichen Handelns, die der Verursacher bei seiner handlungsleitenden Abwägung von Nutzen und Kosten nicht in Rechnung stellt.
Das Hauptaugenmerk der A. C. Pigou nachfolgenden Wohlfahrtsökonomik galt denn auch der Identifikation immer neuer Formen von Marktversagen und daraus gefolgerten Empfehlungen korrigierender S.s-Eingriffe. Dass sie aufgrund ihrer Diagnose von Marktversagen meint, unmittelbar staatliches Eingreifen empfehlen zu können, ohne die realen Bedingungen des politischen Prozesses in Betracht zu ziehen, hat der Wohlfahrtsökonomik die Kritik eingetragen, sie betrachte den S. stillschweigend als einen „wohlwollenden Diktator“, dessen Bestreben allein darauf gerichtet sei, die Wohlfahrt des Gemeinwesens zu maximieren. Diese Kritik ist v. a. von Vertretern der Public Choice Theorie vorgebracht worden.
4. Public Choice: Ökonomische Theorie der Politik
Die „Public Choice Theorie“ (Buchanan 1999) ist aus der kritischen Auseinandersetzung mit einer Wohlfahrtsökonomik hervorgegangen, der man vorwarf, ihrer Argumentation liege eine irreführende Asymmetrie in der Analyse zugrunde. Auf der einen Seite stütze sie ihre Diagnose von Marktmängeln auf einen Vergleich der Funktionsweise realweltlicher Märkte mit dem theoretischen Ideal eines vollkommenen Marktes, ohne zu fragen, ob dieses Ideal überhaupt realisierbar sei. Auf der anderen Seite unterstelle sie bei ihren politischen Handlungsempfehlungen stillschweigend einen idealen, wohlfahrtsmaximierenden S., ohne zu fragen, welchen Aussagewert diese Unterstellung für realweltliche politische Prozesse haben kann. Analytische Symmetrie erfordere demgegenüber, so das Argument der Kritiker, dass man sich zwischen folgenden Alternativen entscheidet: Entweder vergleicht man das theoretische Ideal eines vollkommenen Marktes mit dem eines vollkommenen S.es, ein Vergleich, der offensichtlich für Fragen der praktischen Politik wenig ergiebig sein dürfte. Oder, man vergleicht realweltliche Marktprozesse mit realweltlichen politischen Prozessen. Nur auf dieser Grundlage könne man sich überhaupt ein Urteil darüber bilden, ob von staatlichen Interventionen in der Tat eine Wohlfahrtsverbesserung gegenüber den Ergebnissen erwartet werden kann, die ein „unvollkommener“ Markt erbringt.
Um einen solchen realistischen Vergleich anstellen zu können, bedarf es einer der ökonomischen Theorie des Marktes analogen Theorie der Politik, einer Theorie, die den S. nicht als monolithischen Akteur betrachtet, sondern der Tatsache Rechnung trägt, dass in der Arena der Politik, nicht anders als in der Arena des Marktes, Menschen agieren, deren Verhalten es mit denselben theoretischen Annahmen zu erklären gilt, wie sie die Ökonomik für das Verhalten der Akteure im Markt unterstellt. Die Feststellung, dass eine solche, der Markttheorie analoge Theorie staatlichen Handelns nicht existierte, gab den Anstoß zur Entwicklung der Public Choice Theorie als einer ökonomischen Theorie der Politik (Neue politische Ökonomie). Sie kommt zu dem nicht überraschenden Schluss, dass realweltliche politische Prozesse, in denen – nicht anders als im Markt, wenn auch unter anderen Rahmenbedingungen – eigeninteressierte Akteure ihre jeweiligen Interessen verfolgen, ebenso hinter dem Ideal eines vollkommenen S.es zurückbleiben, wie realweltliche Märkte gegenüber ihrem vollkommenen Referenzideal. In diesem Sinne bildet die Public Choice Theorie als „Theorie des Staatsversagens“ das Gegenstück zur Wohlfahrtsökonomik als einer „Theorie des Marktversagens“ (Buchanan 1999: 46).
Eine Hauptquelle von „Staatsversagen“ sehen die Public Choice Theoretiker in der – von ihnen als rent-seeking umschriebenen – Einflussnahme von Interessengruppen, die den politischen Prozess nutzen, um für sich Sonderrechte – in der Form von Schutz vor Wettbewerb, Subventionen, Steuervorteilen u. a. – zu erstreiten, zu Lasten anderer Mitglieder des Gemeinwesens. Damit thematisieren sie ein Problem, in dem auch die Freiburger Begründer des Ordo-Liberalismus, Walter Eucken und Franz Böhm, eine Quelle ständiger Gefährdung des Marktes als einer privilegienfreien Wettbewerbsordnung sahen. Sie sprachen in diesem Zusammenhang von einer „Unterhöhlung der Staatsautorität durch partikulare Gewalten, die partikulare Interessen vertreten“ (Eucken 1990: 329).
5. Konstitutionelle Ökonomik als Theorie der Regelwahl
Die wohlfahrtsökonomische Diagnose von Marktmängeln ebenso wie die Public Choice Diagnose von Politikmängeln beziehen sich jeweils auf marktliche bzw. politische Prozesse, die unter bestimmten, gegebenen Rahmenbedingungen ablaufen. Mit dem von ihm initiierten Forschungsprogramm der konstitutionellen Ökonomik hat James McGill Buchanan die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass die die Funktionseigenschaften von Markt und Politik prägenden Spielregeln wählbar sind, dass also, mit anderen Worten, die Wirtschaftsverfassung und die politische Verfassung reformierbar sind. Statt die Diagnose von Markt- bzw. Politikmängeln vorschnell im Lichte der grundlegenden Alternative „Markt oder Staat“ zu erörtern, sollte man daher, so argumentiert J. M. Buchanan, zunächst fragen, ob nicht Möglichkeiten für Regeländerungen in Markt und Politik gegeben sind, die Abhilfe für die in Frage stehenden Mängel versprechen.
Mit ihrer Ausrichtung des Forschungsinteresses auf Fragen der Gestaltung der Regelordnung oder Verfassung von Markt und Politik befindet sich die konstitutionelle Ökonomik in enger Nachbarschaft zum ordo-liberalen Forschungsprogramm. Dessen Hauptaugenmerk gilt zwar der Ordnungspolitik als Wirtschaftsverfassungspolitik, die Notwendigkeit entsprechender, den Problemen der S.s-Verfassung gewidmeter Forschungsanstrengungen wird jedoch ausdrücklich betont. So heißt es bei W. Eucken (1990: 331, 338): „Die Ordnung des Staates ist ebenso eine Aufgabe wie die Ordnung der Wirtschaft. […] So falsch es ist, im vorhandenen Staat einen allwissenden und allmächtigen Betreuer allen wirtschaftlichen Geschehens zu erblicken, so unrichtig ist es auch, den faktisch vorhandenen, von Machtgruppen zersetzten Staat als Datum hinzunehmen und dann – folgerichtig – an der Möglichkeit der Bewältigung des wirtschaftspolitischen Ordnungsproblems zu verzweifeln. Die Interdependenz von Staatsordnung und Wirtschaftsordnung zwingt dazu, den Ordnungsaufbau von beiden in einem Zug in Angriff zu nehmen“.
Die Forschungsprogramme der konstitutionellen Ökonomik und des Ordo-Liberalismus sehen die Aufgabe der Gestaltung von Wirtschaftsverfassung und S.s-Verfassung darin, das Eigeninteresse der in den jeweiligen sozialen Arenen handelnden Akteure „in solche Bahnen zu lenken, dass hierdurch das Gesamtinteresse gefördert wird“ (Eucken 1990: 360). In „The Calculus of Consent“ (Buchanan/Tullock 1962), dem grundlegenden Werk der konstitutionellen Ökonomik, heißt es ähnlich, Aufgabe einer Theorie der politischen Verfassung sei die Suche nach „Regeln kollektiver Entscheidung, die das Handeln der politischen Akteure mit den Interessen aller Mitglieder des Gemeinwesens in Einklang bringen“ (Buchanan/Tullock 1962: 23).
Literatur
A. Smith: Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker, 2005 • V. J. Vanberg: Market and State. The Perspective of Constitutional Political Economy, in: JOIE 1/1 (2005), 23–49 • J. M. Buchanan: Politics Without Romance. A Sketch of Positive Public Choice Theory and Its Normative Implications, in: ders.: The Logical Foundations of Constitutional Liberty, 1999, 45–59 • V. J. Vanberg: Freiburg School of Law and Economics, in: P. Newman (Hg.): The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, Bd. 2, 1998, 172–179 • W. Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 61990 • J. M. Buchanan/G. Tullock: The Calculus of Consent, 1962 • F. A. von Hayek: Der Weg zur Knechtschaft, 31952 • A. C. Pigou: The Economics of Welfare, 1920.
Empfohlene Zitierweise
V. Vanberg: Staat, II. Wirtschaftswissenschaftlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Staat (abgerufen: 22.11.2024)
III. Philosophisch
Abschnitt drucken1. Begriff des Staates
Der Ausdruck S. taucht erst spät, im 14. Jh., auf. Die Sache ist aber weit älter, so dass man schon bei altorientalischen Großreichen, griechischen Stadtrepubliken (Poleis), dem Römischen Reich und dem mittelalterlichen Lehnswesen von einem S. sprechen kann. In all diesen Fällen handelt es sich um politische Gemeinwesen, des näheren um ein Beziehungsgefüge von Menschen (Staatsvolk), dem mehrere Generationen angehören (Generationengemeinschaft), die zur Wahrung gemeinsamer materieller und kultureller Güter (Gemeinwohl) aber auch in Konkurrenz und Konflikt zueinander stehen. Indem der S. dieses komplexe Zusammensein organisiert, ist er eine soziale Institution, die aber nicht nur Personen, sondern auch andere Institutionen wie Familien, Dorf- oder Stadtgemeinden umfasst und als Institution zweiter Ordnung oder Dachinstitution auch deren Beziehungen organisiert.
Wesentlich für einen S. sind zwangsbefugte Regeln, derentwegen er sowohl eine Rechts- als auch eine Herrschaftsordnung (S.s-Macht) ist. Im Unterschied zu einer bloßen Gemeinschaft, in der die Mitglieder aufgrund freier Einigung gleichberechtigt sind, ist der S. ein Verband, der auf Über- und Unterordnung beruht. Das nach S.s-Volk und S.s-Macht dritte Element der traditionellen S.s-Definition, das Staatsgebiet, trifft auf die meisten, aber nicht auf alle S.s-Wesen, etwa auf die von Nomadenvölkern nicht, zu. Jahrhunderte-, sogar jahrtausendelang haben sich Gemeinwesen auf eine göttliche Stiftung zurückgeführt, so dass ihre S.en einen religiösen Charakter hatten, der in säkularisierten S.en weithin, aber – sichtbar in der Anrufung Gottes zu Beginn von „Verfassungstexten“ oder dem Passus „so wahr mir Gott helfe“ in Eidesformeln (Eid) – nicht vollständig verschwunden ist.
Nicht von Anfang an, aber im „modernen“ S. beansprucht dieser die Souveränität i. S. d. Erst- und Letztzuständigkeit hoheitlicher Gewalt. In Form der hoheitlichen Gewalten ist der S. zu einer selbstständigen und eigenverantwortlichen Willens- und Aktionseinheit geworden, die, aus sich heraus ermächtigt, nach innen Gebote, Verbote und Verfahrensvorschriften erlässt und autoritativ interpretiert und nach außen mit anderen Gemeinwesen Verträge abschließt, aber auch Kriege führt.
2. Anthropologie des Staates
Dass sich so gut wie überall und zu aller Zeit staatliche oder staatsähnliche Gebilde finden, spricht für eine anthropologische Grundlage (Anthropologie). Sie besteht in der Doppelnatur des Menschen, einem Kooperations- und einem Konfliktwesen, wobei in der antiken S.s-Theorie die Kooperation, in der modernen der Konflikt im Vordergrund steht. Mit dem Begriff der ungeselligen Geselligkeit hat Immanuel Kant beide Wesenszüge des Menschen in eine spannungsgeladene Einheit gebracht.
Zu Recht hält Aristoteles in seiner „Politik“ den Menschen von Natur aus für ein Polis-Wesen (physei politikon zôon [Aristot. pol. 1253a3]). Denn mangels Autarkie für sich allein nicht lebensfähig, bedarf schon der Einzelne, dann auch die Gattung zum Fortbestehen der Mitmenschen: Aufgrund der natürlichen Sozialimpulse, der Sexualität und der Hilfsbedürftigkeit von Kindern und des ökonomischen Interesses an arbeitsteiliger Kooperation gründen die Menschen Familien und Hausgemeinschaften, die sich mit der Entwicklung der Kinder zu Erwachsenen zu Dorf- i. S. v. Sippengemeinschaften erweitern. Den Polis- bzw. S.s-Charakter erhält das Zusammenleben aber erst beim Zusammenschluss mehrerer Dörfer bzw. Sippen zu einer nicht bloß durch Blutsbände verbundenen Einheit.
3. Der moralische Begriff des Staates
Der moralische Standpunkt gegenüber dem S. heißt politische Gerechtigkeit. Bezogen auf den S. greift sie im Rahmen der Sozialmoral jenen Teil heraus, deren Anerkennung die Menschen sich gegenseitig schulden. Dafür unverzichtbar ist, dass die Menschen sowohl sich selbst als auch gegenseitig als freie, zurechnungsfähige Personen anerkennen. Zu diesem Zweck haben sie sich dem moralischen Begriff des Rechts zu unterwerfen, nämlich mit I. Kant dem „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“ (Kant 1914: 230).
Zu diesem Begriff gehört wesentlich die Zwangsbefugnis, die aber nur deshalb und insoweit legitim ist, wie sie aufgrund des moralischen Rechtsbegriffs allen Betroffenen die Freiheit gewährt, folglich dem Wesen des Menschen, eben der Freiheit, gerecht wird. Ihretwegen hat jeder Mensch ein angeborenes, unveräußerliches Recht, dessentwegen Leibeigenschaft und Sklaverei verboten sind. Das angeborene Recht lässt sich ausdifferenzieren in Grundrechte und Menschenrechte mitsamt dem Recht auf eigenes, privates Eigentum. Zur zuverlässigen Sicherung all dieser Elemente braucht es als Inbegriff öffentlicher Gewalten den S.: kategorischer (Rechts-)S.s-Imperativ. Ihm obliegt es im Rahmen des moralischen Rechtsbegriffs das positive Recht zu setzen, durchzusetzen und Streitfälle autoritativ zu entscheiden. Auf diese Weise gewährleistet der S., was, systematisch gesehen, die Bürger sich vorab gewähren: die Sicherheit eines die Freiheit ermöglichenden Rechts.
4. Staatsverfassungen
Aristoteles einschlägige Lehre ist immer noch plausibel, insb. in der von I. Kant leicht abgewandelten Gestalt. Danach gibt es gemäß der Zahl der die oberste S.s-Gewalt innehabenden Personen drei S.s-Formen (formae imperii): als „Fürstengewalt“ die Autokratie (bzw. Monarchie), als „Adelsgewalt“ die Aristokratie und als „Volksgewalt“ die Demokratie. Während Aristoteles zwischen legitimer, am Gemeinwohl orientierter und illegitimer, am Herrscherwohl orientierter Verfassung unterscheidet, spricht I. Kant von Formen der Regierung (formae regiminis). Sie betreffen die „Constitution (den Act des allgemeinen Willens, wodurch die Menge ein Volk wird)“. Nach der „Art, wie der Staat von seiner Machtvollkommenheit Gebrauch macht“ (jeweils: Kant 1923: 352), setzt sich der – allein legitime – Republikanismus, der sich durch Gewaltenteilung auszeichnet, vom illegitimen Despotismus ab, dem die Gewaltenteilung fehlt.
Soll eine Herrschaft von Menschen über Menschen berechtigt sein, dann muss sie von den Betroffenen ausgehen und ihren Interessen dienen. Legitimationstheoretisch ist deswegen die Demokratie allen Alternativen überlegen. Dies trifft insb. auf die „aufgeklärt liberale“ Gestalt zu: die Verbindung der formalen Demokratie, der Herrschaft des Volkes, mit dem Rechtsstaat und den Menschenrechten, mit der Gewaltenteilung, mit einem Sozialstaat und mit einer darin eingebundenen „sozialen Marktwirtschaft“. Hinzu kommen die Bausteine der partizipativen, auch „republikanisch“ genannten Demokratie: Zwischen dem privaten und dem öffentlichen Bereich entwickle sich als Zwischensphäre eine Zivil- bzw. Bürgergesellschaft. Intensive, wo erforderlich auch grundlegende („diskursive“) öffentliche Debatten lassen die Demokratie „deliberativ“ werden. Schließlich empfiehlt sich, zur erfahrbaren Rückbindung der Legislative und der Exekutive an den Souverän, das Volk, gewisse Elemente direkter Demokratie (Plebiszit) einzuführen.
Literatur
O. Höffe: Geschichte des politischen Denkens, 2016 • P. Bourdieu: Über den Staat, 2014 • T. Hobbes: Leviathan, 2013 • Platon: Der Staat/Politeia, 2011 • J.-J. Rousseau: Der Gesellschaftsvertrag, 2008 • E.-W. Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatslehre. Antike und Mittelalter, 22006 • O. Höffe: Politische Gerechtigkeit, 42003 • Ders.: Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, 22002 • E.-W. Böckenförde: Recht, Staat, Freiheit, 1991 • D. Grimm: Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987 • G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrechts und Staatswissenschaft im Grundrisse, 1970 • I. Kant: Zum ewigen Frieden, in: AA, Bd. 8, 1923, 341–386 • Ders.: Die Metaphysik der Sitten, in: AA, Bd. 6, 21914, 203–494.
Empfohlene Zitierweise
O. Höffe: Staat, III. Philosophisch, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Staat (abgerufen: 22.11.2024)
IV. Soziologisch
Abschnitt druckenDie im 19. Jh. in Frankreich und England aufkommende Soziologie entfaltet sich unter dem doppelten Eindruck der erfolgreichen Naturwissenschaften und der Nationalökonomie. Ihre verschiedenen Strömungen sind dabei durch das unterschiedliche Gewicht bestimmt, das sie dabei der einen oder der anderen Disziplin einräumen. Auguste Comte denkt die Gesellschaft in Analogie zur Biologie als Organismus, der sich differenziert und dabei eine Funktion ausbildet, die eine Rückwirkung des Ganzen auf die Teile ermöglicht und damit der „Zersplitterung der Ideen, der Gefühle und der Interessen“ entgegenwirkt: die „Regierung“ (Comte 1923, Bd. 1: 441). Das geschieht entspr. der im Zeitalter der „metaphysischen Politik“ eingetretenen Bildung von National-S.en auf multiple Weise, wird aber, je mehr sich die Menschheit durch Wissenschaft und Industrie dem positiven Endzustand nähert, durch die Entstehung einer „modernen geistlichen Gewalt“ (Comte 1923, Bd. 3: 443) konterkariert, die à la longue eine Assoziation der fünf großen europäischen Nationen unter der Leitung eines „okzidentalen positiven Komitees“ (Comte 1923, Bd. 3: 535) ermöglichen wird, schon davor aber den privaten wirtschaftlichen Aktivitäten einen öffentlichen Charakter beilegen und die Regierung auf den (freilich nicht allzu großzügig bemessenen und die Eigentumsordnung nicht tangierenden) „Schutz der zahlreichsten Klassen“ (Comte 1923, Bd. 3: 500 f.) sowie ein ausgedehntes System öffentlich finanzierter Erziehung verpflichten soll. Auf eine spezielle Form des S.es hat sich A. Comte nicht festgelegt, jedoch die parlamentarische Monarchie als Hybrid aus reaktionären und revolutionären Tendenzen abgelehnt. Trotz mancher Vorbehalte gegen den rückwärtsgewandten Charakter ihrer Postulate steht er deshalb den gegenrevolutionären Traditionalisten (Joseph de Maistre, Louis-Gabriel-Ambroise de Bonald) nahe und hat auch auf den „integralen Nationalismus“ der Action Française gewirkt.
Mit deutlich größeren Einschränkungen hat sich Herbert Spencer der Organismusanalogie bedient und Gesellschaft mehr von den Vorgaben der Nationalökonomie her konzipiert. Dem S. bzw. den „political institutions“ schreibt zwar auch er eine Funktion im sozialen System zu – die der „Regulierung“ (Spencer 1877, Bd. 1: § 249) –, doch beschränkt sich diese, je länger, desto mehr auf Rechtsprechung. Genetisch gesehen entspringt sie im Übrigen nicht wie bei A. Comte aus der intrasozial bedingten Notwendigkeit einer Gegenwirkung des Ganzen auf die Teile, sondern aus Zwangsmechanismen, die sich aus dem „intersocialen Kampf ums Dasein“ (Spencer 1888, Bd. 3: § 438) ergeben, von dem H. Spencer, in dieser Beziehung keineswegs der Sozialdarwinist (Sozialdarwinismus), als der er gewöhnlich gehandelt wird, zugleich behauptet, er trete im Lauf der sozialen Evolution allmählich zurück. Nach dem Aufhören des kriegerischen Kampfes ums Dasein zwischen den einzelnen Gesellschaften werde nur noch der industrielle Kampf ums Dasein bestehen, der es erlaube, die staatliche Verwaltung nicht nur zu dezentralisieren, sondern auch in ihrem Umfang bedeutend einzuschränken – eine Auffassung, der man nicht zu Unrecht eine Nähe zum Manchesterliberalismus nachgesagt hat.
Émile Durkheim hat H. Spencer vorgeworfen, nur die Primitivform des S.es zu beschreiben und die zahlreichen Funktionen zu übersehen, die ihm im Laufe der Evolution zugefallen seien: von der Überwachung der Erziehung über das öffentliche Gesundheits- und Fürsorgewesen bis hin zur Regelung von Verkehr und Kommunikation. Damit knüpft É. Durkheim explizit an A. Comte an, geht jedoch zugleich zu diesem auf Distanz mit der Annahme, das wirtschaftliche Geschehen sei zu speziell und zu komplex für eine durchgängige staatliche Steuerung. A. Comte habe zwar recht mit der Forderung, dass das Ganze auf die Teile reagieren müsse, doch müsse dazu diese Gesamtheit erst existieren, „d. h. die Teile müssen schon untereinander solidarisch sein, damit das Ganze sich seiner selbst bewußt wird und als solches reagiert“ (Durkheim 1988: 429). Den Glauben, eine solche „organische Solidarität“ ergebe sich spontan aus der Arbeitsteilung, hat É. Durkheim spätestens in seinem Buch über den Selbstmord (1897) aufgegeben und stattdessen eine allgemeine Tendenz moderner Gesellschaften zur Anomie postuliert, der nur durch eine Schaffung bzw. Stärkung intermediärer Instanzen zu begegnen sei. So empfiehlt er, den Berufsgruppen bzw. Korporationen umfassende Aufgaben in den Bereichen Fürsorge, Erziehung und Kultur zuzuweisen und sie zum „Hauptelement unserer sozialen Struktur“ (Durkheim 1988: 72) zu erheben. Daraus ergibt sich eine Unterscheidung zwischen politischer Gesellschaft und S. Unter der ersteren versteht É. Durkheim ein Ensemble sozialer Gruppen, unter dem letzteren den „Träger der obersten Autorität“ (Durkheim 1991: 72), der „aus einer speziellen Gruppe von Funktionsträgern sui generis [besteht], in deren Schoß Vorstellungen und Willensakte entwickelt werden, die für die Gemeinschaft bindende Kraft haben, obwohl sie nicht das Werk der Gemeinschaft sind“ (Durkheim 1991: 74). Damit nimmt É. Durkheim ein Verständnis von staatlich-politischem Handeln vorweg, das bis heute in den, sei es funktionalistischen, sei es systemtheoretischen Strömungen (Systemtheorie) der Soziologie dominiert.
Die Spannung zwischen Organismusmetaphorik und Diagnose des nationalökonomischen Zustands hat auch die frühe deutsche Soziologie geprägt, namentlich das Werk von Ferdinand Tönnies. Als organisch gelten ihm die gemeinschaftlichen Willensbeziehungen der Genossenschaft, der Kirche und des Reichs sowie der Religion. Deren Abschwächung oder Zerfall entbindet dagegen die auf Konkurrenz beruhenden Willensbeziehungen gesellschaftlicher Art, zu denen F. Tönnies neben dem Verein und der öffentlichen Meinung auch den S. zählt. Seine in der frühen Soziologie singuläre Rezeption des Marxismus schlägt sich in dem Satz nieder: „Der Staat ist kapitalistische Institution und bleibt es, wenn er sich für identisch mit der Gesellschaft erklärt. Er hört daher auf, wenn die Arbeiterklasse sich zum Subjekte seines Willens macht, um die kapitalistische Produktion zu zerstören“ (Tönnies 1991: 200). Im Ersten Weltkrieg revidiert F. Tönnies diese Auffassung freilich zugunsten einer Sichtweise, der zufolge die kapitalistische Qualität des S.es (Kapitalismus) v. a. für England gelte, wohingegen in Deutschland der S.s-Gedanke stets einen gemeinschaftlichen Charakter besessen habe, der, wenngleich mangelhaft, in allgemeiner Wehrpflicht, allgemeiner Schulpflicht und allgemeiner Versicherungspflicht zum Ausdruck gekommen sei. Unter Ausblendung der nationalistischen Konnotationen wird F. Tönnies deshalb bis heute gern als Theoretiker des Sozialstaates in Anspruch genommen.
Georg Simmel handelt den nationalökonomischen Zustand unter dem Titel „Konkurrenz“ ab, beschränkt diese jedoch nicht auf wirtschaftliche Beziehungen. Die auch bei ihm vorkommende Organismusanalogie wird von biologischen Konnotationen befreit und so umgedeutet, dass organisch „die einheitlich-zweckmäßige Regulierung jedes kleinsten Teiles durch eine einheitliche Idee“ meint (Simmel 1968: 343) – eine Auffassung, die das Dual organisch/mechanisch nicht mehr als Nullsummenspiel deutet und der komplexeren Sicht den Boden bereitet, wonach gerade „die lokal-mechanische Einteilung die Technik für die viel höhere organische Synthese des Ganzen darbietet“ (Simmel 1968: 343). Der S. erscheint nun nicht nur als Ensemble von Apparaten (das er auch ist: Bürokratie), sondern als Gestalt einer objektiven Idee, „für die jeder momentane Bestand an Individuen gleichsam nur ein Beispiel oder ein Träger ist“ (Simmel 1968: 410). Das hierfür charakteristische Herrschaftsverhältnis ist danach wohl ein solches, das über die auf einem bestimmten Gebiet lebenden Personen ausgeübt wird, jedoch eines, das fortschreitender Versachlichung unterliegt, insofern die „Unterordnung weder unter einen Einzelnen, noch unter eine Mehrheit, sondern unter ein unpersönliches, objektives Prinzip stattfindet“ (Simmel 1968: 147), entweder in der Form des Gesetzes oder vermittelt durch einen konkreten Gegenstand. Besonderen Nachdruck legt G. Simmel dabei auf den Gebietsgeltungscharakter staatlicher Herrschaft, der sich als Impermeabilität, Ausschließlichkeit und Absolutheit des staatlichen Gebildes, als „überall wirkliche und prinzipielle Solidarität“ desselben mit dem von wie immer auch willkürlichen, „scharf bewußten Grenzen“ (Simmel 1968: 464 f.) eingefassten Raum manifestiert. „Grenze“ meint dabei keine natürliche Gegebenheit, die soziale Effekte verursacht, sondern umgekehrt: „[E]ine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt“ (Simmel 1968: 467) und dadurch zweierlei bewirkt: die Konsolidierung bestimmter Arten von sozialen Wechselbeziehungen und deren Abgrenzung von anderen. „Die Verbindungsart zwischen den Individuen, die der Staat schafft oder die ihn schafft, ist mit dem Territorium derartig verbunden, daß ein zweiter gleichzeitiger Staat auf eben demselben kein vollziehbarer Gedanke ist“ (Simmel 1968: 463).
Im Schrifttum Max Webers ist der S. von Anfang an Thema, wenn auch zumeist aus rechtsgeschichtlicher oder nationalökonomischer Perspektive, nicht selten in politischer Absicht. Erst mit der Arbeit an „Wirtschaft und Gesellschaft“ ab 1909 schieben sich soziologische Gesichtspunkte in den Vordergrund und führen zu einer ersten S.s-Definition, die 1918 noch einmal verfeinert wird. In den „Soziologischen Grundbegriffen“ entwickelt M. Weber ein Baumdiagramm, das von Typen sozialen Handelns (Handeln, Handlung) und sozialer Beziehungen ausgeht und von dort zu fortschreitend komplexeren Ordnungen wie Verband, Verein und Anstalt gelangt. Die Begriffskette kulminiert im Begriff des Herrschaftsverbandes, der in doppelter Weise spezifiziert wird: Wird die Verbandsordnung mittels psychischen Zwangs – der Spendung oder Versagung von Heilsgütern – garantiert, liegt der Fall des hierokratischen Verbandes vor. Erfolgt die Bestandssicherung durch Androhung oder Anwendung physischen Zwangs, hat man es mit einem politischen Verband zu tun, der sich vom hierokratischen Verband durch ein weiteres Kriterium unterscheidet: die Gebietsgeltung seiner Ordnung. Ein hierokratischer Verband, der durch das Monopol legitimen psychischen Zwangs bestimmt ist, ist eine Kirche, ein politischer Verband mit dem Monopol legitimen physischen Zwangs ein S. – eine Definition, die durch den Begriff der Legitimität auf die Soziologie der Herrschaft verweist, im Weiteren auch auf die nur in der Vorkriegsfassung von „Wirtschaft und Gesellschaft“ vorliegende Soziologie des Rechts und der Religion (Rechtssoziologie, Religionssoziologie). Für die Nachkriegsfassung war eine spezielle „Staatssoziologie“ (Weber 2013: 568, 570) geplant, die u. a. die Parteien behandelt hätte. Dazu ist es jedoch nicht mehr gekommen.
Sieht man von M. Webers Spätwerk ab, so ist, was die Soziologie der Zwischenkriegszeit zum S. zu sagen hatte, heute nur mehr von historischem Interesse. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg hat das Fach wieder das Niveau der Klassiker erreicht. Die in der Rezeption auftretenden Lücken und Widersprüche suchte man im Wege des Synkretismus auszugleichen, wie er erstmals 1937 von Talcott Parsons in „The Structure of Social Action“ beschritten wurde. Die dort und in späteren, mehr systemtheoretischen Fassungen anvisierte Fusionierung von É. Durkheim und M. Weber ging dabei zunächst zu Lasten des letzteren, was sich u. a. in einer Ersetzung des S.s-Begriffes durch einen vage auf „Ziel-Erreichung“ (Parsons 1975: 52) festgelegten Begriff des politischen Systems als eines von vier Subsystemen der nur im Plural zu denkenden „Gesellschaft“ niederschlug. Dass die sachlichen Probleme ungeachtet dieser neuen Terminologie fortbestanden, zeigt der Umstand, dass T. Parsons sich genötigt sah, dem Sozialsystem „den höchsten Grad der Selbstständigkeit in bezug auf sein Milieu“ (Parsons 1975: 19) zuzuschreiben, womit er exakt Jean Bodins klassische Definition der Souveränität als Freiheit vom Gesetz eines Höheren oder Gleichen reproduzierte.
Stärker zur Geltung kommen dagegen die von M. Weber und G. Simmel eingebrachten Gesichtspunkte bei Niklas Luhmann, allerdings erst nach dessen „autopoietischer Wende“: Davor, in seinen Schriften der 60er und 70er Jahre, wertet er Kategorien wie Herrschaft, Legitimität und selbst S. als Relikte eines anachronistischen Denkens ab und äußert die Vermutung, Politik und Recht könnten sich aufgrund ihrer normativen Programmierung als eine „Fehlspezialisierung der Menschheitsentwicklung“ erweisen, „an die sich eine weitere Evolution nicht anschließen läßt“ (Luhmann 1972: 339 f.). Der späte N. Luhmann dagegen hat im Rahmen einer nach wie vor systemtheoretischen Theorieanlage der „alteuropäischen Semantik“ unter dem Titel der „Selbstbeschreibungen des politischen Systems“ (Luhmann 2000: 319) ihr historisches Recht zurückerstattet. Die Ausdifferenzierung eines politischen Systems war danach „nur in der auffälligen Form von Herrschaft möglich“ (Luhmann 2000: 324) und zumindest in der „Erstphase politischer Evolution“ (Luhmann 2000: 416) durch Herrschaft bestimmt, Legitimität, wenn auch in der Form der „Selbstlegitimation“ (Luhmann 2000: 358), unentbehrlich, und der S. eine zwar späte, aber dann unvermeidliche Größe. Aus dem von M. Weber benannten Merkmal des „Monopol[s] legitimer physischer Gewaltsamkeit“ (Weber 1992: 159) wird die Konditionierung und Kasernierung eines „symbiotischen Mechanismus“ (Luhmann 2000: 62, 195); aus dem von M. Weber wie von G. Simmel gleichermaßen herausgestellten Raum- bzw. Gebietsbezug der Gedanke, dass die „Weltgesellschaft“ einer segmentären Differenzierung in Territorial-S.en unterliegt, welche sich ihrerseits in die Staatsorganisation im engeren Sinne (Regierung und Verwaltung) und in politische Organisationen (Parteien, Verbände) gliedern. Der Vorbehalt einer möglichen „Anachronistik der politischen Begriffe“ (Luhmann 2000: 319) bleibt wohl erhalten, tritt aber hinter anderen Fragestellungen zurück, die sich auf die Selbstüberforderungen beziehen, welche sich das politische System mit dem Übergang zum Wohlfahrtsstaat und einer damit einhergehenden Übernahme einer Generalzuständigkeit für „den Ausgleich von Schicksalsschlägen jeder Art“ (Luhmann 2000: 424 f.) bereitet hat.
Es kennzeichnet die hieran anschließende Diskussion, dass auch Autoren, die die Systemtheorie nicht für das letzte Wort in der Soziologie halten, hinsichtlich des S.es in vielem ihren Vorgaben verpflichtet bleiben, damit aber auch den in sie eingegangenen Vorgaben der Klassiker. Modifikationen und unterschiedliche Akzente lassen sich in Folgendem beobachten. Die Beziehungen zwischen dem politischen System (oder auch „Feld“) und den übrigen Systemen/Feldern können grundsätzlich asymmetrisch gedacht werden, wie dies v. a. für Pierre Bourdieu gilt, für den die (kapitalistische) Wirtschaft (Kapitalismus) nicht nur analytischen Primat genießt (abzulesen u. a. an der Übertragung des Kapitalbegriffs auf außerökonomische Zusammenhänge), sondern auch einen realen Primat, insofern das politische Feld zwar ein Kampffeld sein soll, jedoch eines, in dem die ökonomisch herrschende Klasse über erhebliche Konkurrenzvorteile verfügt. Sie können aber auch als symmetrische Intersystembeziehungen aufgefasst werden, „die sich nicht mehr dem Primat eines Teils fügen und die deshalb Gesamtsystemrationalität nicht aus der Geltung des Universalen herleiten, sondern aus der reflexiven Abstimmung des Partikularen“ (Willke 1992: 207) – eine Perspektive, in der der S. nicht mehr, wie bei P. Bourdieu, als Repressionsinstrument und Wohlfahrts-S. erscheint, sondern als „Supervisionsstaat“ (Willke 1992: 335), der kollektive Kommunikationsprozesse zwischen autonomen Teilsystemen moderiert. Weitere Varianten ergeben sich, wenn in dieses Beziehungsgeflecht Akteure eingeschaltet werden, sei es i. S. d. „akteurzentrierten Institutionalismus“ (Scharpf 2000), der die Verflechtungen zwischen aggregierten, kollektiven und korporativen Akteuren untersucht, sei es i. S. einer auf „deliberative Politik“ ausgerichteten Diskurstheorie, die darauf zielt, staatliche Entscheidungen durch eine auf die „Lebenswelt“ hin geöffnete „höherstufige Intersubjektivität“ (Habermas 1992: 362) zu beeinflussen, der zugleich die Fähigkeit zugetraut wird, im „Zusammenspiel […] mit der rechtsstaatlich institutionalisierten Meinungs- und Willensbildung im parlamentarischen Komplex“ (Habermas 1992: 448) die ausdifferenzierten Teilsysteme auf einem höheren Niveau der Gesellschaft im Ganzen wieder zu integrieren – eine Idee, welche sich ihrerseits dem Verdacht ausgesetzt hat, einer Kommunikationsform das Wort zu reden, die sich strukturell nur „in der Form einer elitären Differenzierung“ (Luhmann 2000: 357) durchsetzen lasse.
In diesem Spannungsfeld trifft man verschiedene Konzepte an, die unter Titeln wie „verhandelnder“, „aktiver“, „kooperativer“, „managerieller“ oder „gewährleistender“ S. je bes. Akzente setzen, hinsichtlich der zentralen Merkmale des S.es aber im Horizont der klassischen Soziologie wie auch der Staatslehre verbleiben. Erst in der jüngsten Zeit beginnt sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass mit dem Aufkommen supra- und transnationaler Regime (Supranationalität), global agierender Unternehmen und weltweit anschwellender Migrationsströme (Migration) die von G. Simmel und M. Weber angenommene ausschließende Identifizierung staatlicher Ordnungen mit einem bestimmten Raum in Frage gestellt wird, während zugleich durch die Übertragung von Aufgaben der Setzung und Erzwingung von Normen auf korporatistische Netzwerke (Korporatismus) von privatrechtlich verfassten Organisationen einerseits, privaten Sicherheitsdiensten andererseits der durch das Gewaltmonopol garantierte Hoheitsanspruch erodiert. Ebenso deutlich ist, dass für die damit erforderliche Neujustierung des S.s-Verständnisses die Soziologie keinen privilegierten Beobachterstandpunkt beanspruchen kann, sondern nur noch im Verbund mit der Politik-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaft fruchtbar zu werden vermag.
Literatur
A. Anter: Max Webers Theorie des modernen Staates, 32013 • M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie, in: MWG, Bd. I/23, 2013 • S. Breuer: „Herrschaft“ in der Soziologie Max Webers, 2011 • N. Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, 2000 • F. Scharpf: Interaktionsformen. Akteurzentrierter Institutionalismus in der Politikforschung, 2000 • J. Habermas: Faktizität und Geltung, 1992 • M. Weber: Politik als Beruf, in: MWG, Bd. I/17, 1992, 157–252 • H. Willke: Ironie des Staates, 1992 • P. Bourdieu: Die Intellektuellen und die Macht, 1991 • É. Durkheim: Physik der Sitten und des Rechts, 1991 • F. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, 31991 • É. Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung, 21988 • P. Bourdieu: Sozialer Raum und „Klassen“. Leçon sur la leçon, 1985 • T. Parsons: Gesellschaften, 1975 • M. Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 41973 • N. Luhmann: Rechtssoziologie, 1972 • G. Simmel: Soziologie, 51968 • T. Parsons: The Structure of Social Action, 1937 • F. Tönnies: Soziologische Studien und Kritiken, Bd. 1, 1925 • A. Comte: Soziologie, 3 Bde., 21923 • H. Spencer: Die Principien der Sociologie, Bde. 1 und 3, 1877/88.
Empfohlene Zitierweise
S. Breuer: Staat, IV. Soziologisch, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Staat (abgerufen: 22.11.2024)
V. Politikwissenschaftlich
Abschnitt druckenDie Politikwissenschaft ist nicht nur Teil der Sozialwissenschaften, sondern auch Teil der Staatswissenschaften. Als Sozialwissenschaft geht es ihr um das Erforschen politischer Strukturen (polity), Inhalte (policies) und Prozesse (politics) sowie der politischen Erscheinungen und Handlungen des menschlichen Zusammenlebens. Als S.s-Wissenschaft ist Gegenstand der Politikwissenschaft der S. als politische Ordnung. In der empirisch-analytischen Politikwissenschaft wird meist der Begriff „S.“ vermieden und stattdessen von politischem System, Regierungssystem oder Governance gesprochen. Diese Bezeichnungen sollen deutlich machen, dass in modernen Gesellschaften Politik auch außerhalb des S.es stattfindet. In Abgrenzung hierzu sieht die normative Politikwissenschaft den S. als Bestandteil einer gesellschaftlichen Ordnung, die Legitimität für sich in Anspruch nehmen kann.
Die wissenschaftliche Analyse politisch-sozialer Herrschaft hat eine mehr als zweitausendjährige Tradition. Sie geht auf die politische Philosophie des Altertums zurück, deren zentrales Thema der „S.“, auch wenn noch nicht der neuzeitliche S., ist. Bei Platon besteht im guten S. eine ständische Ordnung (Stand), an deren Spitze die Philosophenkönige stehen. Nur auf der Grundlage der richtigen Seelenordnung („innerer S.“) lässt sich der gerechte S. („äußerer S.“) realisieren. Nach Aristoteles ist die staatliche Gemeinschaft (polis) die Grundlage für die Verwirklichung der menschlichen Anlagen. Denn der Mensch ist ein zoon politikon, ein Gemeinschaftswesen. Diese anthropologische Einschätzung greift Cicero auf. Bei ihm sind die gegenseitigen Beziehungen durch „Recht“ i. S. einer stabilen Ordnung geregelt. Auf diese Weise wird in der Res publica aus dem Naturrecht (ius naturale) ein „bürgerliches“ Recht (ius civile).
1. Der neuzeitliche Staat
Mit der Entstehung des neuzeitlichen S.es (Neuzeit) tritt die politikwissenschaftliche S.s-Diskussion in der Renaissance in ein neues Stadium. Niccolò Machiavelli kann mit seiner Analyse der politischen Macht als der Begründer der praktischen Politikwissenschaft (Politikberatung) gelten. Er untersucht, wie es insb. einem neuen Fürsten gelingen kann, nicht nur die Macht zu erringen, sondern auch an der Macht zu bleiben. Machtbewusste Politiker werden auch heute Machiavellisten genannt. Ohne die S.s-Philosophie von Thomas Hobbes ist die heutige S.s-Theorie nicht zu verstehen. Aus Furcht vor dem Tode übertragen die Menschen ihre Rechte durch einen einseitigen Vertrag auf den Leviathan, eine gottähnliche Person, die aus zahllosen Menschen besteht. Dafür garantiert der Leviathan seinen Untertanen Schutz und Frieden, gerade auch in Zeiten des Bürgerkriegs (Vertragstheorien).
T. Hobbes’ Unterwerfungsvertrag wird von John Locke, der die Bedeutung von Freiheit und Eigentum hervorhebt, heftig kritisiert. Gegen eine strikte Einheitlichkeit des Herrschaftsapparates bringt Charles de Montesquieu die Verteilung souveräner Gewalt (Gewaltenteilung) ins Spiel. Und Jean-Jacques Rousseau stellt den Gesellschaftsvertrag auf eine neue Grundlage, indem er die Unfehlbarkeit der volonté générale als Gemeinwillen eines Volkes betont. Das Volk herrscht über sich selbst, indem es sich selbst Gesetze gibt. J.-J. Rousseau gilt als einer der geistigen Wegbereiter der Französischen Revolution. Bereits in der ersten französischen Verfassung von 1791 wird die Volkssouveränität postuliert, die fortan als unhintergehbare Voraussetzung legitimer Herrschaft angesehen wird. Damit wird der von Jean Bodin als Antwort auf die Hugenottenkriege forcierte Begriff der Souveränität ganz neu interpretiert. Alexis de Tocqueville schließlich stellt die Verbindung von Volkssouveränität und Repräsentation her. Damit widerspricht er J.-J. Rousseaus Vorstellungen von einer direkten Demokratie und bereitet damit der repräsentativen Demokratie den Weg.
2. Der Staat als Entscheidungs- und Wirkeinheit
Aus der Sicht der normativen Politikwissenschaft erfasst der S.s-Begriff „die spezifische Form der Herrschaft“ (Benz 2008: 5) in einer modernen Gesellschaft. Nach Max Weber soll Herrschaft die Chance heißen, „für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“ (Weber 1980: 38). M. Weber unterscheidet drei Idealtypen legitimer Herrschaft, die traditionale, die charismatische und die legal-bürokratische Herrschaft. Dieser legal-bürokratische Herrschaftstyp ist M. Weber zufolge heute maßgeblich. Sein S.s-Begriff hat in der Politikwissenschaft lange Zeit dominiert: „Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und soweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt“ (Weber 1980: 822). Pierre Bourdieu bezieht sich auf M. Webers S.s-Begriff, erweitert ihn aber, indem er neben die physische Gewalt die symbolische Gewalt stellt. Den S. interpretiert er als „Zentralbank des symbolischen Kapitals“ (Bourdieu 2017: 308). P. Bourdieu knüpft an Antonio Gramscis Konzept des integralen S.es an, der nicht nur die politische Gesellschaft mit ihren repressiven Elementen, sondern auch die Zivilgesellschaft mit ihren konsensualen Elementen umfasst.
In der Weimarer Republik entwickelt Hermann Heller eine politikwissenschaftliche Staatslehre, die auf die heutige Diskussion in der deutschen Politikwissenschaft ausstrahlt. Dabei setzt er sich einerseits mit dem Rechtspositivismus, andererseits mit Carl Schmitt auseinander, der als Dezisionist allerdings ebenfalls ein Gegner der rechtspositivistischen S.s-Lehre ist. Für H. Heller steht im Mittelpunkt der politisch-deskriptiven Wissenschaft vom S. „das Problem der politischen Machtorganisation und Machtverteilung, sowie des Machterwerbs“ (Heller 1934: 23). H. Hellers Definition, der S. sei eine „organisierte Entscheidungs- und Wirkungseinheit“ (Benz 2008: 64), die sich von anderen Gebietsherrschaftsverbänden durch ihre Souveränität, das Gewaltmonopol und den Gebietsbezug der Herrschaft unterscheide, ist auch heute aktuell. Kritisiert wird allerdings H. Hellers Vorstellung von der Einheit des S.es, der zufolge der S. ein „vielheitlich bewirktes, aber einheitlich wirkendes Aktionszentrum“ (Heller 1934: 262) der Gesellschaft sei. Vielmehr wird der S. heute in der Politikwissenschaft als pluralistisches Gebilde verstanden, dessen Institutionen, Organe und Verfahren im Zusammenspiel mit Parteien, Verbänden und anderen gesellschaftlichen Kräften (z. B. Social Media) agieren. Für C. Schmitt ist der S. „das Modell der politischen Einheit“, der „Träger des erstaunlichsten aller Monopole, nämlich des Monopols der politischen Entscheidung“ (Schmitt 1963: 10).
In Anlehnung an die US-amerikanische Forschung und unterstützt durch aus den USA zurückkehrende Emigranten wendet sich die westdeutsche Politikwissenschaft nach dem Krieg anderen Themen zu. Der S. rückt dabei zunehmend in den Hintergrund. In unterschiedlichen Politiktheorien, wie z. B. Institutionalismus, Systemtheorie, Neomarxismus (Marxismus), Feminismus, Neopluralismus (Pluralismus) und Neokorporatismus (Korporatismus) finden sich heute verschiedene S.s-Begriffe. Der S. wird als Institutionenordnung, als Selbstbeschreibung des politischen Systems, als Apparat zur Durchsetzung der Klasseninteressen der Kapitaleigentümer, als „Männerbund“, als Interessengruppe sui generis bzw. als oberste Steuerungsinstanz (Steuerung) einer Gesellschaft definiert. Diese Steuerungsfähigkeit des S.es wird jedoch v. a. von Vertretern der Systemtheorie zunehmend in Zweifel gezogen. Niklas Luhmanns konstruktivistische Systemtheorie ist dabei bes. erfolgreich. Insb. seine Theorie autopoietischer Systeme hat die Steuerungsdiskussion intensiviert. Danach bestehen soziale Systeme, also auch das politische System, ausschließlich aus Kommunikation. Sie produzieren, steuern und reproduzieren sich selbst.
3. Zwischen Government und Governance
Zu Beginn der 1980er Jahre kommt – wiederum aus den USA – ein Perspektivenwechsel, der von einer Wiederkehr des S.es ausgeht. In den politikwissenschaftlichen Teildisziplinen Regierungslehre und Verwaltungswissenschaft wird zunächst auf eine Denkfigur Lorenz von Steins Bezug genommen. Sein Begriff des „arbeitenden Staates“ (von Stein 1887: 25), den er aus der Analyse des französischen Systems gewonnen hat, passt v. a. auf den modernen Wohlfahrtsstaat. Die Ebene politischer Willensbildung und die Vollzugsebene staatlicher Administration sind für L. von Stein komplementäre Elemente des S.es. Die wesentliche Legitimationsleistung des arbeitenden S.es liege in der gelungenen Vermittlung von politischem Willen, realer Problemsituation und faktischem Bedarf. In den Begriffen P. Bourdieus ist es diese „linke Hand des Staates“ (Bourdieu 1997: 18), die für die Menschen sorgt. Demgegenüber ist die „rechte“ Hand des S.es auf die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols gerichtet.
Zunehmend macht auch ein anderer Ansatz von sich reden, der anstelle von staatlicher Steuerung den Begriff Governance verwendet. Während im angelsächsischen Sprachgebrauch government sowohl S. als auch Regierung sowie die Wirksamkeit staatlicher Steuerung bedeutet, verweist der Begriff governance auf „neue Formen gesellschaftlicher, ökonomischer und politischer Koordination und Steuerung in komplexen institutionellen Strukturen“ (Benz u. a. 2010: 11). Charakteristisch für diese Form der Koordination ist das Zusammenwirken staatlicher und privater Akteure, wobei Elemente von Markt, Hierarchie, Netzwerken und Gemeinschaft zur Anwendung kommen können. Im Unterschied zu government bezieht sich Governance auf Programme, nicht auf Politik, weil sie keine bindende, Entscheidungen treffende Struktur ist.
4. Neue Ansätze der Staatstheorie
Das Governance-Konzept geht auf Michel Foucaults Arbeiten zur Gouvernementalität zurück. Darunter versteht M. Foucault die „Gesamtheit, gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken, die es gestatten, diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat“ (Foucault 2005: 172). Mit diesem Ansatz sowie seiner Interpretation der Macht als „schöpferischem Prozess“ hat M. Foucault der S.s-Diskussion wichtige Impulse gegeben. Giorgio Agamben entwickelt M. Foucaults Konzept der Biomacht weiter, womit die „wachsende Einbeziehung des natürlichen Lebens des Menschen in die Mechanismen und das Kalkül der Macht“ (Agamben 2007: 127) gemeint ist.
P. Bourdieu geht von der Hegemonietheorie A. Gramscis aus, derzufolge in der bürgerlichen Gesellschaft Herrschaft nicht nur durch Zwang, sondern durch Überzeugung ausgeübt wird. Hegemonieapparate wie Bildungssysteme, Kirchen, Massenmedien, Gewerkschaften etc. führen einen allgemeinen Konsens herbei, der die Herrschaft zu verschleiern hilft. P. Bourdieu verwendet dafür den Begriff Doxa, der besagt, dass die Menschen die gesellschaftlichen Machtverhältnisse akzeptieren. Stillschweigend wird ein Einklang zwischen den inneren Erwartungen und den äußeren Gegebenheiten angenommen. Das wird durch den Habitus der Menschen, also ihre „Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata“ (Bourdieu 1987: 112), ermöglicht. Der S. erscheint hier nicht mehr als pluralistisches Mehrebenensystem, in dem Entscheidungen zur Lösung politischer Probleme getroffen werden, sondern als „materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen“ (Poulantzas 1978: 159), wie Nicos Poulantzas festgestellt hat.
Literatur
P. Bourdieu: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, 42017 • P. L. Weinacht: Staat – Staatsräson – Staatsbürger. Studien zur Begriffsgeschichte und zur politischen Theorie, 2014 • N. Urbinati: Democracy Disfigured, 2014 • A. Benz u. a.: Vorwort, in: ders./N. Dose (Hg.): Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen, 22010, 11 f. • A. Benz: Der moderne Staat, 22008 • G. Agamben: Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, 2007 • M. Foucault: Analytik der Macht, 2005 • C. de Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, 1999 • N. Machiavelli: Il Principe/Der Fürst, 1999 • P. Bourdieu: Die fortschrittlichen Kräfte, in: derselbe u. a.: Perspektiven des Protests, 1997, 11–25 • T. Hobbes: Leviathan, 51992 • A. Gramsci: Gefängnishefte, 1991–2002 • P. Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, 1987 • P. B. Evans/D. Rueschemeyer/T. Skocpol (Hg.): Bringing the State Back In, 1985 • M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 51980 • N. Poulantzas: Staatstheorie, 1978 • J. Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung, 1977 • P. Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen, 1974 • C. Schmitt: Der Begriff des Politischen, 1963 • H. Heller: Staatslehre, 1934 • L. von Stein: Handbuch der Verwaltungslehre, Bd. 1, 31888 • Ders.: Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs, 21848.
Empfohlene Zitierweise
R. Voigt: Staat, V. Politikwissenschaftlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Staat (abgerufen: 22.11.2024)
VI. Katholisch
Abschnitt drucken1. Grundsätzliches
Das Verhältnis von S. und Kirche (Kirche und Staat) ist komplex, da es von rechtstheologischen bzw. biblischen, historischen und normativen Aspekten durchwoben ist. Der Heiligen Schrift lässt sich keine systematische oder gar abgeschlossene Lehre der Kirche über das Verhältnis von S. und Kirche entnehmen. S.s-Gewalt und göttliche Ordnung stehen nach biblischem Verständnis nicht im Widerspruch; die weltliche Herrschaft kann sogar von Gott selbst eingesetzt werden (vgl. Dan 2,21; 4,14). Obwohl Christus sein „Königtum“ nicht irdisch versteht, verneint er weder das vorhandene S.s-Wesen noch akzeptiert er es vorbehaltlos. Die weltliche Autorität steht vielmehr von Anfang an unter dem eschatologischen Vorbehalt, dass mit dem Zeitpunkt, in dem das Reich Gottes anbricht, alle weltlichen Herrschaftssysteme enden. Die Worte Jesu zum Zinsgroschen „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist!“ (Mk 12,17) sind lehramtlich so interpretiert worden, dass das S.s-Wesen von jedem anzuerkennen und ihm in gewisser Weise Loyalität entgegenzubringen sei, doch dass im Letzten nur Gott der Vorrang gebühre. Jesus wendet sich gegen Menschen erniedrigende, totalitäre Systeme und den Missbrauch politischer Macht. Das 13. Kap. des Römerbriefs fordert „schuldigen Gehorsam“ (Röm 13,1) gegenüber den Trägern staatlicher Gewalt. Allerdings gilt die Pflicht für die Kirche nur so lange, wie sich die weltliche Obrigkeit im Dienste Gottes am Wohl der Menschen orientiert.
2. Historische Entwicklung
Dem heutigen Verhältnis von S. und Kirche geht eine Entwicklung voraus, in der sich die katholische Kirche immer wieder neu ausrichten und positionieren musste. Mit der Erhebung des Christentums zur S.s-Religion des Römischen Reichs (380) wurde dessen Leitungsstruktur zunehmend in das S.s-Wesen integriert, sodass S. und Religion zu einer Einheit wurden, in der Glaubensfragen S.s-Angelegenheiten waren. Später prägte Augustinus von Hippo mit seiner – nicht juristisch-institutionell, sondern philosophisch-theologisch verstandenen – Trennung von civitas dei und civitas terrena die katholische Sichtweise zum Verhältnis von Kirche und S.
Das konfliktträchtige mittelalterliche Verständnis der „Zwei-Schwerter-Lehre“ führte zum Investiturstreit, der mit dem Wormser Konkordat beigelegt wurde, welches die Stärkung des Papsttums (Papst) und zugleich die Säkularisierung weltlicher Herrschaft zur Folge hatte. Daraus entwickelte sich die Vorstellung, die Kirche und der S. seien autonome Institutionen, die zwar auf ihren Gebieten souverän sind, jedoch nicht beziehungslos nebeneinanderstehen, sogenannte societates perfectae. Leo XIII. schrieb im 19. Jh. die Unabhängigkeit und Selbständigkeit des S.s für die Kirche fest und forderte die Anerkennung der kirchlichen Eigenrechtsmacht sowie die Zusammenarbeit der beiden Institutionen, auch wenn er sich für einen konfessionellen S. und gegen staatlich gewährleistete Religionsfreiheit aussprach.
3. Heutige Position
Für substanzielle und nachhaltige Änderungen ihres Verhältnisses zum S. entschied sich die Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil. Mit der Pastoralkonstitution GS sieht sich die Kirche nicht mehr mit einem politischen Auftrag ausgestattet, sondern als funktionelles Element in der gemeinsamen Verantwortung für den Menschen (GS 40–45). In der Erklärung über die Religionsfreiheit bezeichnet sie ihre Freiheit als „das grundlegende Prinzip in den Beziehungen zwischen der Kirche und den öffentlichen Gewalten sowie der gesamten bürgerlichen Ordnung“ (DH 13). Die Kirche ist fortan auf Kooperation statt auf Konfrontation ausgerichtet. In diesem Sinne ruft das Konzil die Christen dazu auf, „von Recht und Pflicht der freien Wahl Gebrauch zu machen zur Förderung des Gemeinwohls“ (GS 75). Andererseits wird „eine sinnvolle Aufteilung der Ämter und Institutionen der öffentlichen Gewalt in Verbindung mit einem wirksamen und nach allen Seiten hin unabhängigen Schutz der Rechte“ (GS 75) eingefordert. Damit bekennt sich die Kirche zu den Prinzipien und Strukturen eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats.
Die heutigen Positionen der Katholischen Soziallehre zum Verhältnis von S. und Kirche finden sich zusammengefasst in dem vom Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden erarbeiteten „Kompendium der Soziallehre der Kirche“ (2006) sowie in einigen lehramtlichen Dokumenten Benedikts XVI. Papst Franziskus hat bekräftigt, dass die Kirche im Dialog mit dem S. „mit aller Klarheit auf die Grundwerte des menschlichen Lebens hin[weist], um Überzeugungen zu vermitteln, die dann in politisches Handeln umgesetzt werden können“ (EG 241).
Von großer Bedeutung für die Kirche ist das Grundrecht der Religionsfreiheit, die Johannes Paul II. als „Recht, in der Wahrheit des eigenen Glaubens und in Übereinstimmung mit der transzendenten Würde der eigenen Person zu leben“ (Centesimus annus 47), definierte. Gleichwohl muss die Religionsfreiheit aus kirchlicher Sicht verstanden werden als ein an den S. gerichtetes Verbot, keinen äußeren Zwang anzuwenden. Religiöser Pluralismus ist für die Kirche nicht erstrebenswert; erst recht gibt sie den Wahrheitsanspruch des katholischen Glaubens nicht auf. Zudem ist die Kirche eigenständig und unabhängig, wie sie im CIC/1983 klarstellt (can. 113 § 1 i. V. m. can. 204 § 2; cann. 1254, 1401). Sie anerkennt und präferiert die demokratische S.s-Form (Demokratie), sieht es aber nicht als ihre Aufgabe an, „sich mit politischen Programmen auseinanderzusetzen, es sei denn im Hinblick auf ihre religiösen oder moralischen Implikationen“ (Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden 2006: 425). Ihr kommt ein Wächteramt zu, mit dem sie sich vorbehält, zur Wahrung der Grundrechte und zur Rettung der Seelen kritisch Stellung zu beziehen. Dabei lehnt sie eine strikte Trennung von S. und Kirche ab, soweit dadurch eine effektive Zusammenarbeit unmöglich wird. Mag sie auch den Anspruch erheben, ggf. zu allen menschlichen Bereichen ihr Urteil abzugeben, so strebt sie doch stets „stabile Formen des Miteinanders“ (Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden 2006: 427; Herv. i. O.) an.
Literatur
C. Link: Kirchliche Rechtsgeschichte, 32017 • Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden: Kompendium der Soziallehre der Kirche, 2006 • P. Mikat: Das Verhältnis von Staat und Kirche nach der Lehre der katholischen Kirche, in: HdbStKirchR, Bd. 1, 21994, 111–155 • G. Göbel: Das Verhältnis von Kirche und Staat nach dem Codex Iuris Canonici des Jahres 1983, 1993.
Empfohlene Zitierweise
S. Muckel: Staat, VI. Katholisch, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Staat (abgerufen: 22.11.2024)
VII. Evangelisch
Abschnitt drucken1. Grundlagen
Eine allgemeine S.s-Lehre der evangelischen Kirche oder ein allgemein anerkanntes S.s-Konzept des Protestantismus existiert, schon mangels institutionalisierten Lehramts in den evangelischen Kirchen, nicht. Lehren evangelischer Theoretiker verschiedener (auch) mit dem S. befasster Disziplinen decken eine erhebliche Bandbreite unterschiedlicher S.s-Konzepte ab.
Für evangelisch-theologisch fundierte Aussagen zum S. haben die biblischen, insb. die wenigen neutestamentlichen Aussagen zur Obrigkeit bes. Bedeutung. Der „staats“bejahenden Tendenz von Röm 13,1 (von Gott verordnete Obrigkeit) und Mt 22,21 (Zinsgroschen) steht dabei Apg 5,29 („Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“) gegenüber. Einige Grundaussagen der Reformatoren (Reformation) des 16. Jh. zu diesem Spannungsfeld haben bes. Bedeutung erlangt. Diese haben allerdings naturgemäß nicht den modernen S. im Blick, sondern beziehen sich allgemeiner auf das Verhältnis des Christen zur „Obrigkeit“. Dazu zählt insb. die von Martin Luther entfaltete Lehre von den zwei Reichen und Regimentern (Zwei-Reiche-Lehre): dem Reich der wahrhaft Glaubenden einerseits und der (sündigen) Welt andererseits, denen die beiden Regimente (Regierweisen), geistliches und weltliches, zugeordnet sind. Das Recht als Mittel des weltlichen Regiments ist notwendig, um die Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben zu schaffen. Beide Reiche und Regimente sind von Gott verordnet.
Während in M. Luthers Theologie eine Tendenz zur Beschränkung der weltlichen Obrigkeit in geistlichen Angelegenheiten angelegt war, hat insb. Huldrych Zwingli die Aufgabe der politischen Macht zur Durchsetzung der biblischen Gebote betont. Johannes Calvin nimmt die Unterscheidung der beiden Reiche und Regimente auf, bindet aber auch die Obrigkeit deutlicher in die Verantwortung für die Kirche und ihre Lehre ein.
2. Frühe Neuzeit
In den evangelischen Territorien des Heiligen Römischen Reichs treten die Kirchen unter dem sich seit der Mitte des 16. Jh. herausbildenden landesherrlichen Kirchenregiment in enge Verbindung mit der weltlichen Obrigkeit bzw. dem sich entwickelnden S. Gerechtfertigt wurde die bes. Rolle des Landesherren bei der Organisation der Kirche als Notamt und mit der cura religionis der weltlichen Obrigkeit. Diese enge Verbindung hat die evangelische Position zum S. nachhaltig geprägt.
Die Rechts- und S.s-Lehren evangelischer Theoretiker der frühen Neuzeit decken ein erhebliches Spektrum der jeweiligen zeitgenössischen Meinungen ab. Es reicht von Fürstenspiegeln (Georg Lauterbeck) zu durchkomponierten Theoriegebäuden, von Lehren einer unmittelbaren Ableitung weltlicher Herrschaftsgewalt von Gott (Johann Friedrich Horn) zu rational-naturrechtlichen (Naturrecht) Vertragskonstruktionen (Samuel von Pufendorf, Christian Thomasius, Justus Henning Boehmer), von streng auf fürstlicher Souveränität aufbauenden Modellen (dies.n) zu Lehren, die den S. als Ergebnis eines föderalen bzw. konsozialen Prozesses (Föderalismus) betrachten (Johannes Althusius).
3. 19. und frühes 20. Jh.
Evangelische Theoretiker nehmen Elemente Hegelscher S.s-Lehre auf. Daneben steht Friedrich Schleiermachers theologische Lehre des S.es als einer Sphäre des sittlichen Lebens (neben anderen) auch für die Forderung nach einer Trennung von S. und Kirche. Altliberale Theorien (Richard Rothe), konservative Theorien vom Christlichen S. (Friedrich Julius Stahl), die vorsichtige Aufnahme sozialer Lehren sind weitere Beispiele, wobei ein eher konservativer Grundzug vorherrscht. Dieser dauert auch nach dem Ende des landesherrlichen Kirchenregiments an. Die Weimarer Republik wird von vielen mit Skepsis betrachtet, z. T. als religionsloser S. eingestuft. Daneben stehen aber auch republikfreundlichere (Ernst Troeltsch, Otto Dibelius) und auch sich sozialistischen Positionen öffnende Entwürfe (Paul Tillich). Allerdings nähern sich Vertreter einer Theologie der Schöpfungsordnungen auch völkischen Positionen an (Werner Ehlert, Paul Althaus).
Als wesentlicher Schritt für eine Neupositionierung kann die in der Geschichte des „Kirchenkampfes“ gegen die nationalsozialistische Kirchenpolitik zentrale „Barmer Theologische Erklärung“ eingestuft werden, die von Karl Barth wesentlich mitgeprägt wurde. Die große Mehrheit der protestantischen Christen gehörte aber ebenso wenig wie die evangelischen Amtskirchen zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus.
4. Nachkriegszeit und Gegenwart
Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg versucht die Katastrophe des Nationalsozialismus zu bewältigen und Lehren daraus zu ziehen. Dabei wird zum einen an die „Barmer Theologische Erklärung“ angeknüpft, zum anderen ist eine politische Verschiebung von national-konservativen zu eher sozialdemokratischen Positionen zu beobachten.
Auch in der BRD waren und sind die theologischen Stellungnahmen zum S. von einer erheblichen Pluralität geprägt. Charakteristisch ist die Inanspruchnahme eines „Öffentlichkeitsauftrags“ der Kirche (Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen), auch zur theologisch fundierten Stellungnahme zu politischen Fragen. Dabei standen Positionen, die eher die Ordnungsfunktion des S.es und seine „Eigengesetzlichkeit“ betonten, solchen gegenüber, die die Kirche in einer Art Oppositionsrolle als kritisches „Gegenüber von Staat und Politik“ etablieren wollten. In der grundsätzlich positiven Aufnahme von Demokratie und Pluralismus war man sich allerdings im Wesentlichen einig – bei aller Kritik an der jeweiligen Politik und dem „kapitalistischen“ Gesellschaftssystem (Kapitalismus) und trotz Positionen, die bis zur Geltendmachung eines vermeintlichen „Widerstandsrechts“ gegen demokratisch getroffene Entscheidungen gingen. Neue politische Herausforderungen (z. B. Umwelt [ Umweltschutz ], Friedenssicherung [ Frieden ], Wirtschaftsordnung, Migration) bergen aber Ansätze zu einer Re-Politisierung, der der S. z. T. entgegenkommt („Kirchenasyl“).
In der DDR stellte sich die Aufgabe, die Position von Christen und Kirche in einer ganz anders gearteten S.s- und Gesellschaftsordnung zu definieren. Die seit den 70er Jahren des 20. Jh. sich etablierende Formel von der „Kirche im Sozialismus“ war dabei ihrerseits offen und deckte ein Spektrum von einer bloßen Zustandsbeschreibung bis zu einer positiven Bewertung der sozialistischen Gesellschaftsordnung ab (Sozialismus). Die Kirchen in der DDR haben z. T. die Funktion eines Forums der Diskussion und einer Gegenöffentlichkeit zur SED-Herrschaft gehabt. Dies hat dazu geführt, dass gerade Kirchen und Pfarrer eine bes. Rolle bei der politischen Wende spielten.
Insgesamt ist die Positionsfindung der evangelischen Kirche in der Nachkriegszeit als positive Übernahme der wesentlichen Merkmale pluralistischer und demokratischer S.s-Modelle und insb. der Würde des Menschen (Menschenwürde) und aus ihr abgeleiteter Menschenrechte zu beschreiben. Sie ist daher treffend als „die protestantische Aneignung des Grundgesetzes“ (von Scheliha 2013: 197) bezeichnet worden. Sie kommt in den einschlägigen Denkschriften der EKD, der „Demokratie-Denkschrift“ von 1985 und ihren Aktualisierungen, zum Ausdruck.
Literatur
H. de Wall: Das Verhältnis von Staat und Kirche nach evangelischem Verständnis, in: HdbStKirchR, 32021, Bd. 1, § 4 • R. Leonhardt: Religion und Politik im Christentum, 2017 • M. Heckel: Martin Luthers Reformation und das Recht, 2016 • R. Anselm: Politische Ethik, in: W. Huber/T. Meireis/H.-R. Reuter (Hg.): Hdb. der Evangelischen Ethik, 2015, 195–263 • A. von Scheliha: Protestantische Ethik des Politischen, 2013 (Lit.) • M. Honecker: Staat/Staatsphilosophie. IV., in: TRE, Bd. 32, 2001, 22–47 (Lit.) • Kirchenamt der EKD (Hg.): „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie: Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, 1985 • C. Link: Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, 1979 • M. Luther: Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523), in: WA, Bd. 11, 1900, 245–281.
Empfohlene Zitierweise
H. Wall: Staat, VII. Evangelisch, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Staat (abgerufen: 22.11.2024)
VIII. Orthodox
Abschnitt drucken1. Vorbemerkungen
Eine gemeinsame Lehre über die Beziehung der orthodoxen Kirchen (Ostkirchen) zum S. hat sich seit den allgemeinen Konzilien der Spätantike nicht ausgebildet. Auch auf dem Pan-Orthodoxen Konzil auf Kreta (2016, ohne Teilnahme der Patriarchate Antiochien, Bulgarien, Georgien und Moskau) wurde das Verhältnis von S. und Kirche (Kirche und Staat) nicht grundlegend diskutiert. Seine Entwicklung, häufig stärker durch die konkrete Praxis als durch die Erarbeitung theoretischer Modelle geprägt, muss daher regional differenziert nach den autokephalen Landeskirchen betrachtet werden.
2. Byzantinisch-griechische Kirche
Das orthodoxe Kirchenrecht beruft sich bis heute auf Kanones der altkirchlichen Konzilien, welche das Selbstbestimmungsrecht der Kirche betonen und gleichzeitig Eingriffe der Kirche in die staatliche Ordnung ablehnen. Der Achtung, welche die Kirche dem S. entgegenbringt, soll eine angemessene Unterstützung der Kirche durch den S. entsprechen. Als Ideal des Kirche-S.-Verhältnisses gilt seit der Gesetzgebung Kaiser Justinians (527–565; vgl. Novella 6 und 42) das sogenannte Synallelia- bzw. Symphonia-Prinzip, das Kirche und S. als ebenbürtige, gleichermaßen von Gott eingesetzte Autoritäten betrachtet, die auf verschiedenen Wegen, aber in organischer Harmonie das Wohl des Menschen fördern. Eine exakte Abgrenzung der Zuständigkeiten war damit nie verbunden, je neue zeitgemäße Ausformungen des Prinzips blieben notwendig.
Bis zur Eroberung Konstantinopels 1453 war der Ehrenvorrang des Kaisers mit seiner Funktion für den Zusammenhalt der Kirche unbestritten. Er fungierte als Schutzherr, gesetzgebende Ordnungsmacht und Bewahrer des rechten Glaubens. Nach dem Erlöschen des Kaisertums waren Orthodoxe und Juden im Osmanischen Reich gegenüber Muslimen nur Bürger zweiter Klasse. Im sogenannten Millet-System wurde die Stellung der verschiedenen orthodoxen Patriarchate schrittweise neu geordnet, wobei v. a. der orthodoxe Patriarch von Konstantinopel als Ethnarch eng an die politische Führung gebunden wurde. Er übernahm gegenüber dem Sultan die Verantwortung für die Loyalität der Gläubigen sowie das Steueraufkommen, durfte die zivilrechtlichen Belange und die den Orthodoxen gewährte Autonomie verwalten. Mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches in unterschiedliche National-S.en im 19. Jh. war auch eine verstärkte ethnisch-nationale Aufsplitterung der orthodoxen Kirchengemeinschaft verbunden. Die Funktion des Ökumenischen Patriarchen als kanonisches Ehrenoberhaupt aller orthodoxen Kirchen blieb aber bis heute erhalten.
In der gegenwärtigen Orthodoxie wird das Symphonia-Prinzip meistens i. S. „einer kooperativen Partnerschaft, bei der zwischen den beiden Sphären kritische Distanz und Freiheit besteht“ (Ursa 2016: 273), verstanden. Auf dieser Basis werden „gemeinsame Angelegenheiten“ (Ursa 2016: 274) definiert. Die staatskirchliche Prägung der griechisch-orthodoxen Kirche wirkt bis heute nach.
3. Russische Kirche
Das Selbstverständnis der russischen Zaren, die Nachfolge des byzantinischen Kaisertums angetreten zu haben, wurde zum konstanten Faktor der Religionspolitik hinsichtlich der russischen Kirche, deren Entwicklung sich seit dem 15. Jh. endgültig von der byzantinischen Mutterkirche trennte. Kirchliches Streben nach größerer Eigenständigkeit wurde zurückgedrängt (Absetzung des Patriarchen Nikon 1666). 1721 erließ Zar Peter I. eine neue Kirchenordnung, das „Geistliche Regulament“. Das Amt des Patriarchen als Oberhaupt der Kirche wurde abgeschafft; der Zar wies die Funktion des obersten Bischofs dem Metropoliten von St. Petersburg zu. Mit dem Anwachsen des Zarenreiches kam es zur Ausdehnung der Russischen Kirche, die zunehmend zur S.s-Kirche wurde. Die aus der russischen Februar-Revolution von 1917 hervorgegangene, kurzlebige demokratische Regierung gestattete ein Allrussisches Konzil (1917/18), welches das Patriarchat wiederherstellte. Die sowjetische Oktober-Revolution (1917) trennte die Kirche vom S. und unterstellte sie neuer repressiver S.s-Aufsicht. Ab den 1920er Jahren wurde die Russische Orthodoxe Kirche zunehmend in den Untergrund gedrängt, was zu zahlreichen Spaltungen führte. Die Kirchenverfolgung nahm als Teil des „Großen Terrors“ seit 1936 Massencharakter an. Der Zweite Weltkrieg brachte Lockerungen, weil Josef W. Stalin Unterstützung durch die Russische Orthodoxe Kirche benötigte. Im Gegenzug sicherte er den Wiederaufbau kirchlicher Institutionen und die Wiedereinsetzung von Bischöfen und Priestern zu. 1943 wählte das Bischofskonzil Metropolit Sergij (Bellavin) zum Patriarchen. Nach J. W. Stalins Tod 1953 begann eine kurze Periode der Entspannung. Partei- und S.s-Chef Nikita Sergejewitsch Chruschtschow (1958–1964) nahm aber die kirchenfeindliche Politik J. W. Stalins wieder auf, die erst durch die Politik der „Perestrojka“ („Umgestaltung“) unter Michail Sergejewitsch Gorbatschow (1985–1991) beendet wurde. Infolge der neuen Religionsfreiheit und der von Präsident Boris Nikolajewitsch Jelzin 1997 durchgesetzten Religionsgesetze kam es zu neuer Kooperation zwischen S. und Russischer Orthodoxer Kirche. Die Religionsgesetze benachteiligen nicht-orthodoxe Religionsgemeinschaften sowie orthodoxe Gruppen, die sich von der Russischen Orthodoxen Kirche abgespalten haben. Diese selbst dankt der russischen Führung, namentlich Präsident Wladimir Wladimirowitsch Putin, für die Förderung durch bedingungslose Unterstützung seiner Politik und Vermeidung grundsätzlicher Kritik.
4. Die Folgen der politischen Wende ab 1989 in Staaten mit orthodoxen Volkskirchen
Nach der politischen Wende von 1989 ff. wurde in allen vormals kommunistischen S.en nach oftmals heftigen Auseinandersetzungen Religionsfreiheit verkündet. Im Rahmen der angestrebten Zusammenarbeit zwischen Kirche und S. können sich nun prinzipiell alle Religionsgemeinschaften relativ frei entfalten. In den meisten nach 1989 beschlossenen Verfassungen sind Religions-, Meinungsfreiheit und Gedankenfreiheit garantiert; S. und Kirchen sind (theoretisch) getrennt. Die neuen Verfassungen und Religionsgesetze orientieren sich an der EMRK.
Die Wirklichkeit jedoch sieht oft anders aus. Vorbehalte gegenüber pluralistisch-säkularen Demokratien und überstaatlichen europäischen Institutionen werden innerhalb vieler orthodoxer Kirchen nur langsam abgebaut, kritische politische Theologien haben nur geringen Einfluss. In S.en mit orthodoxen Volks-/Nationalkirchen (Russland, Weißrussland, Bulgarien, Rumänien, Serbien, Makedonien, Montenegro) genießen die orthodoxen Kirchen derartige Privilegien, dass man von einer neuen Symphonia zwischen S. und Kirche – und von S.s-Kirchen – sprechen kann. Dabei unterliegen die orthodoxen Volkskirchen weiterhin staatlicher Einflussnahme, etwa bei der Einsetzung von Bischöfen und der Besetzung kirchenleitender Ämter. An öffentlichen Schulen ist Religionsunterricht die Regel. Die Besoldung der Religionslehrer übernimmt meist der S. Theologische Fakultäten sind größtenteils wieder in die staatlichen Universitäten integriert. Sie und ihr Personal werden vom S. finanziert. In kommunistischer Zeit konfisziertes Kirchenvermögen wurde den Religionsgemeinschaften (zumindest teilweise) zurückerstattet, Schäden an kirchlichen Gebäuden auf S.s-Kosten behoben.
Literatur
S. Mückl (Hg.): Kirche und Staat in Mittel- und Osteuropa, 2017 • I. Ursa: Grundzüge des Verhältnisses der Kirche zu Politik und Staat, insbesondere in der Europäischen Union, in: I. V. Leb/K. Nikolakopoulos/I. Ursa (Hg.): Die Orthodoxe Kirche in der Selbstdarstellung, 2016, 259–280 • E. C. Suttner: Kirche und Staat aus orthodoxer Sicht, in: IKaZ 32/2 (2003), 177–188 • T. Nikolaou: Das Ideal der Synallilie. Staat und Kirche aus orthodoxer Sicht, in: Orthodoxes Forum 16/1 (2002), 123–136 • G. Stricker: Religion in Rußland. Darstellung und Daten zu Geschichte und Gegenwart, 1993 • Metropolit Pitirim (Hg.): Die Russische Orthodoxe Kirche, 1988 • S. Troianos: Kirche und Staat. Die Berührungspunkte der beiden Rechtsordnungen in Byzanz, in: OstkSt 37/4 (1988), 291–296 • A. M. Wittig: Die orthodoxe Kirche in Griechenland. Ihre Beziehung zum Staat gemäß der Theorie und der Entwicklung von 1821–1977, 1987 • P. C. Spyropoulos: Die Beziehungen zwischen Staat und Kirche in Griechenland unter besonderer Berücksichtigung der orthodoxen Kirche, 1981 • R. Stupperich: Die orthodoxe Kirche in ihrem Verhältnis zum Staat, in: ders. (Hg.): Kirche im Osten, Bd. 2, 1959, 9–26.
Empfohlene Zitierweise
G. Stricker, T. Marschler: Staat, VIII. Orthodox, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Staat (abgerufen: 22.11.2024)